04. September 2024
Bundeskanzler Scholz wendet sich nach den Landtagswahlen mit einem Statement an die Bevölkerung, das vor allem eins zeigt: wie sehr man die Probleme vor Ort ausblendet und so der AfD den Weg ebnet.
Gibt sich erstmal defensiv: Kanzler Scholz.
»Die düsteren Prognosen sind nicht eingetreten« – mit dieser irritierenden Aussage wandte sich Bundeskanzler Scholz einen Tag nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen an die Bevölkerung. Die Mehrheit der Menschen in diesem Land wird diese Bilanz vermutlich nicht teilen. Aber an die richtet sich diese Aussage auch nicht.
Die »düstere Prognose« ist für Scholz eben nicht das starke Abschneiden der Rechten, sondern die Befürchtung, die SPD könnte ganz aus den beiden ostdeutschen Landtagen fliegen. Diese Ansprache, die sich zuvorderst an andere SPD-Funktionäre richtet und nicht etwa an die Menschen in Sachsen und Thüringen, ist bezeichnend für die selbstzentrierte Perspektive der Berliner Politik, die den Frust nährt, der dafür sorgt, dass nun in Thüringen zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft ist.
Der Unmut über die Ampelpolitik ist immens. Die vollmundigen sozialpolitischen Versprechen wurden nicht eingehalten, sondern sind der Finanzierung der Zeitenwende zum Opfer gefallen. Wenn es der Regierung nicht gelingt, spürbare Verbesserungen für die Bevölkerung umzusetzen, darf sie sich nicht wundern, wenn eine Partei, die lediglich verkündet, die begrenzten Ressourcen anders aufzuteilen, indem sie ganze Bevölkerungsgruppen einfach aus dem Land »remigriert«, unter denjenigen erfolgreich wird, die von Abstiegsängsten getrieben sind. Und genau die haben die AfD dann auch gewählt.
Die Statistiken sprechen eine klare Sprache: Die AfD hat unter Arbeiterinnen und Arbeitern und unter jungen Menschen besonders starke Ergebnisse erzielt. Es sind Gruppen, die den Glauben daran verloren haben, dass sich ihre Situation verbessern lässt und die ihre einzige Hoffnung darin sehen, dass es anderen noch schlechter geht.
Man muss nicht gutheißen, dass Menschen diese Schlussfolgerung ziehen, aber man sollte anerkennen, dass sie nachvollziehbar ist, wenn sie auf höchster politischer Ebene schon einmal vorgekaut wurde. Selbst wenn die SPD den Kanzler stellt, schafft sie es nicht, minimale materielle Zugewinne gegen ihren Juniorpartner zu verteidigen: Die kleinsten Verbesserungen beim Bürgergeld wurden direkt wieder kassiert, die Kindergrundsicherung wurde versenkt, die Forderungen nach einer Erhöhung des Mindestlohns prompt zurückgewiesen, die Krankenhausreform droht, zur Nullnummer zu werden, und armutssichere Renten werden nicht einmal in Betracht gezogen.
»Während man sozialpolitisch nichts Nennenswertes liefert, folgt in der Asylpolitik eine Verschärfung auf die andere. Abschiebungen sind am Ende eben auch billiger als eine zupackende Sozialpolitik.«
Wenn aber, wie kürzlich erst nach dem Attentat in Solingen, die Debatte um die Migrationspolitik vollends entgleist und man sich von der AfD das Framing diktieren lässt, ohne zu hinterfragen, ob zwischen islamistischer Radikalisierung und Migration zwangsläufig ein kausaler Zusammenhang besteht, werden über Nacht Tatsachen geschaffen: Ein Asylgipfel wird einberufen, auf dem ein Maßnahmenpaket für eine Wende in der Migrationspolitik erarbeitet werden soll, und zwei Tage vor den Landtagswahlen fällt auch das Tabu von Abschiebungen nach Afghanistan.
Während man also sozialpolitisch nichts Nennenswertes liefert, folgt in der Asylpolitik eine Verschärfung auf die andere. Abschiebungen sind am Ende eben auch billiger als eine zupackende Sozial- und Industriepolitik und lassen sich auch ohne Reformierung der Schuldenbremse durchsetzen. Dass die SPD mit repressiver Migrationspolitik keine Wahlen gewinnt, auch wenn es die AfD tut, wissen wir spätestens seit Sonntag. Mit dieser fehlgeleiteten Strategie, mit der man hofft, den Rechten das Wasser abzugraben, vermittelt man der Bevölkerung noch eher: rechte Stimmungsmache wirkt. Sie schafft politische Ergebnisse. Wer sich von der rechten Opposition derart hertreiben lässt, macht ihr ein großes Geschenk.
Denn gegen die Unterfinanzierung der Kommunen, den Mangel an Wohnungen, die heruntergewirtschaftete Infrastruktur, die grassierenden Niedriglöhne in Sachsen und Thüringen hat auch die AfD kein Rezept. Sie bietet lediglich an, die Summe derjenigen zu minimieren, für die Ressourcen da sind. Denn auch die radikalisierte »neoliberale Professorenpartei« stellt die Austerität grundsätzlich überhaupt nicht infrage. Und sie muss es auch nicht, weil jeglicher Versuch, die Lage derjenigen zu verbessern, bei denen am Monatsende die Kasse klamm ist, direkt torpediert wird. Zugleich setzt man, wenn es hart auf hart kommt, selbst um, was die Rechten fordern: mehr Restriktionen in der Migration.
Das Statement des Kanzlers nach den Wahlen zeigt erneut, wie sehr die Politik in Berlin von den Lebensrealitäten der Menschen vor Ort abgekoppelt ist. Scholz beendet seine Erklärung mit einer Aufforderung an alle demokratischen Parteien, »stabile Regierungen ohne Rechtsextremisten« zu bilden. Dieser defensive Appell klingt aus dem Munde eines Bundeskanzlers erschreckend ambitionslos. Dieselbe Aussage hätte auch von einer beliebigen zivilgesellschaftlichen Organisation stammen können, die auf derartige Appelle an politische Akteure angewiesen ist, weil sie selbst eben nicht im Kanzleramt sitzt.
»Eine Investitionsoffensive für abgehängte Landkreise könnte den notwendigen industriepolitischen Umbau einleiten. Dafür bräuchte es aber eine handlungsfähige Regierung und kein dysfunktionales Anti-AfD-Bündnis.«
Dass Olaf Scholz nicht eingesteht, wie sehr die Ampelkoalition zu dem Erstarken der AfD beigetragen hat, ist erwartbar – Politiker liefern Politiker-Antworten. Wenn man sich aber nach diesen Landtagswahlen hinstellt und verkündet, die düsteren Prognosen seien abgewendet worden, weil die SPD die 5-Prozent-Hürde genommen hat, hat man sich vollends im Ton vergriffen. Für die meisten, die in Sachsen oder Thüringen leben, ist das Ergebnis der Wahlen dramatisch. Die Mehrheit von ihnen hat die AfD nicht gewählt und will auch keine Regierung mit deren Beteiligung.
Der Ökonom Jens Südekum spricht von »relativer Deprivation«, um den Aufstieg von Parteien wie der AfD zu erklären, und meint damit, dass Menschen vor allem dann für rechte Kräfte empfänglich sind, wenn sie das Gefühl haben, im Vergleich mit anderen Gruppen oder Regionen schlechter abzuschneiden. Eine Investitionsoffensive für abgehängte Landkreise könnte den Strukturwandel abfedern und den notwendigen industriepolitischen Umbau einleiten. Dafür bräuchte es aber eine handlungsfähige Regierung und kein dysfunktionales Anti-AfD-Bündnis, in dem sich Parteien, die politisch wenig eint, zwangsläufig zusammentun und kaum etwas zustande bringen, so wie es auf Bundesebene in der Ampel-Koalition der Fall ist.
Die Verschleppung struktureller Probleme hat die AfD erst stark gemacht – das gilt im Osten genauso wie im Übrigen auch im Westen. Der Bund und damit auch der Kanzler wären durchaus in der Lage, die finanziellen Bedingungen abgehängter Kommunen zu verbessern und aus den Ergebnissen vom Sonntag politische Konsequenzen zu ziehen. Der Tenor, den Scholz anschlägt, lässt jedoch kaum darauf hoffen, dass das auch eintreten wird.
Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.