15. Februar 2023
Das Mittelalter-Epos »Lapvona« der gefeierten Autorin Ottessa Moshfegh ist grotesk, brutal – und oberflächlich. Denn Moshfegh fragt nicht nach den sozialen Ursachen für das Elend, das sie inszeniert.
Foto der Litografie »Die Gefangennahme und der Tod König Richards«, Jean Creton, 15. Jahrhundert.
IMAGO / AGB PhotoWährend sie auf ein nicht näher definiertes Ende wartet – ihres Lebens? Oder der Welt? –, befindet Nell, die Mutterfigur in Samuel Becketts Endspiel, dass es »nichts Lustigeres gibt als das Unglück«. Würde sich Ottessa Moshfegh in dieses Gespräch einmischen, würde sie vermutlich augenzwinkernd hinzufügen: außer völlig erbarmungslose, unausweichliche Grausamkeit. Die Autorin der Romane Eileen (2017), Mein Jahr der Ruhe und Entspannung (2020), Der Tod in ihren Händen (2021) und Lapvona, der kürzlich in deutscher Übersetzung erschien, ist als Erkunderin von Elend und Grausamkeit bekannt geworden – ob selbstverschuldet oder nicht.
In Lapvona – so der titelgebende Name eines fiktiven mittelalterlichen Dorfes – treibt die Autorin ihre Faszination für das Abgründige auf die Spitze: Eine Bande von Banditen schlachtet zwei Männer, drei Frauen und zwei Kinder ab; ein Fürst lässt zu seiner Belustigung einen Missgebildeten Trauben aus seinem Arschloch in den Mund einer Nonne schießen; eine Geistheilerin ermutigt ihre Besucher dazu, die Schwächsten zu verspeisen. Als einer der Banditen, die das Dorf zu Beginn des Romans überfallen, festgenommen wird, heißt es, niemand könne sagen, welche Taten er genau begangen habe. Und dennoch überschütten ihn die Dorfbewohner mit Exkrementen, bevor sie ihn auf dem Dorfplatz anketten, ihm ein Ohr abschneiden und ihn verprügeln. Von der ersten Seite an wird die Leserin durch eine Welt geführt, die von Gewaltexzessen, Vergewaltigungen, Morden und Plünderungen bestimmt ist.
Im Fokus der Handlung steht der missgestaltete Marek, dessen Körper zu wenig mehr in der Lage ist, als seinem undankbaren Vater Wasser aus dem Brunnen zu bringen. Durch Zufall landet der Hirtenjunge an der hohen Tafel, wo er in die Gesellschaft der Herrscher seines Lehens aufgenommen wird. Er wird später Erbe des Herrenhauses werden, dessen Größe sich erst verdoppelte, dann verdreifachte. Von diesem Gutshaus aus unterwerfen der Herrscher Villiam und sein Komplize, der gottlose Priester Barnabas, die Bäuerinnen und Bauern von Lapvona: Sie verlangen von ihnen den Zehnten, erlassen Gesetze, verhängen Strafen und bieten der Bevölkerung angeblich militärischen Schutz vor den Banditen, die ihr Land umzingeln.
Die bäuerliche Mentalität ist in Marek so stark ausgeprägt, dass er sich anfangs nach der Peitsche sehnt, weil er traurig ist, dass diejenigen, die ihm nun dienen, mehr von Gottes Liebe erfahren als er. Später erfahren wir dann, dass seine neue Rolle von ihm vor allem verlangt, still zu sein, und alles, was auf dem Gut geschieht, ohne Fragen hinzunehmen.
Marek ist der Sohn des zurückgezogen lebenden, streng gläubigen Hirten Jude, der seinen Sohn schlägt, um ihm die Lektionen Gottes einzubläuen. Die Brachialität, mit der das Christentum angewendet wird, um Akte der Grausamkeit zu rechtfertigen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. So wie Jude den Schmerz der Peitschenhiebe liebe, so liebe Marek die Kälte wegen ihrer Grausamkeit, heißt es im Buch. Marek erduldet alle Schläge, weil damit die Wahrscheinlichkeit steigt, in den Himmel zu kommen. Die Gewalt selbst aber ist Marek verhasst, wie uns erzählt wird. In einem für ihn untypischen Ausbruch der Gewalt, bei der seine Vergeltung das falsche Opfer trifft, tötet Marek Jakob, den Sohn von Villiam. Jude, der bestrebt ist, die natürliche Ordnung wiederherzustellen, schleppt seinen mörderischen Sohn daraufhin auf das Gut, in der Hoffnung, dass Villiam Marek zur Strafe tötet.
Der Verlust seines Sohnes stimmt den Gutsherren zwar etwas betrübt, gleichzeitig freut er sich darüber, dass dieser Verlust seine untreue Frau schmerzen wird. Leid erzeugt in Lapvona nicht den Wunsch, Leid zu beenden, sondern rechtfertigt dessen Fortsetzung. Um noch mehr Salz in die Wunde zu streuen, schlägt Villiam einen Tausch vor: ein lebender Sohn für einen toten Sohn – ein Tausch, der Jude angesichts der geringen Wertschätzung, die er für seinen Nachkommen übrig hat, nur fair vorkommt.
Lapvona ist Moshfeghs vierter Roman und nach der Novelle McGlue, die von Piraten im 19. Jahrhundert handelt, ihr zweites Werk historischer Fiktion. Die Geschichte, die Moshfegh ohne große Rücksicht auf historische Genauigkeit heraufbeschwört, erlaubt es ihr, die Zwänge des Realismus zu umschiffen. Die Vergangenheit, so sagt man, ist ein anderes Terrain, und Moshfegh nutzt diesen Schauplatz, um in die Sprache und Logik der Märchens einzutauchen, in der eine tragische Wendung nach der nächsten verlangt. Dieses Bekenntnis zu einer Art Überbietungswettbewerb der Gewalt, macht den größten Teil des Romans unglaublich fesselnd.
Bevor Marek der Erbe der Herrschenden wird, begreift er, dass es sein Schicksal sei, klein zu sein und Kleinvieh zu hüten; dass er ein Mann des Landes, nicht des Reichtums sein sollte. Doch nachdem sich sein Schicksal wendet, zeigt er Bereitschaft, sich in seine neue Rolle als Verursacher und nicht als Opfer von Gewalt einzufinden. Alle Figuren des Romans sind untereinander austauschbar, denn in der Welt von Lapvona ist Gewalt das Gesetz. Der Reiz für den Leser ergibt sich aus der Erkenntnis, dass alles – unabhängig von den Umständen – von einer beständigen Gefahr des Elends zusammengehalten wird. Man kann zwar nicht erahnen, was als nächstes passieren wird, aber man kann sich sicher sein, dass der Auslöser des Geschehens grausam und stumpfsinnig sein wird.
Diese Ökonomie des Schicksals zeigt sich nicht nur in der permanenten Bedrohung durch Gewalt, sondern auch in dem Wetter, dass die Welt von Lapvona bestimmt. Die fünf Teile des Buches sind nach Jahreszeiten benannt. Nach Jakobs Tod im dritten Abschnitt des Buches, »Sommer«, wird das Land von einer Dürre heimgesucht. Die ländliche Bevölkerung verhungert, während Marek und sein Adoptivater Villiam so lange um die Wette essen, bis sie sich übergeben müssen. Dibra, Villiams Frau und Jakobs Mutter, flieht. Einen Tag später kehrt ihr Pferd ohne Reiterin zurück. Dem Tier wurden die Augen ausgestochen, was Villiam als gutes Omen deutet. Und er wird Recht behalten: Es beginnt zu regnen, allerdings so stark, dass es zu Überschwemmungen kommt, bei denen Dutzende Menschen ihr Leben lassen. Selbst die Linderung des Leids erzeugt neues Leid.
Auch wenn die Romanfiguren das Unglück, das ihnen widerfährt, für Omen, Opfer oder Magie halten, verdeutlicht Moshfegh in ihrer Erzählung, dass Wandel immer nur versehentlich geschieht. Es gibt keinen Befehl einer höheren Autorität, nur Zufälle.
Die Handlung in Lapvona ist zweifelsohne wunderbar verschlungen, ihre Umsetzung ist leider weniger gut gelungen. Die erste Hälfte des Romans lädt die Leserin dazu ein, die Dekadenz des Herrenhauses mit der Verelendung des Dorfes in Kontrast zu setzen. Der bösartige Herrscher Villiam hält zugleich sein Lehen und die Kohärenz der Handlung zusammen. Doch letztlich wird die Erzählung durch unnötige plötzliche Wendungen aus der Bahn geworfen. Das sorgt dafür, dass sich der spektakuläre Höhepunkt der Handlung so liest, als sei er wichtiger als die Kohärenz der Erzählung oder die Entwicklung der Figuren.
Während sich die erste Hälfte des Romans innerhalb der gut strukturierten Schönheit seiner Märchenwelt entspinnt, verliert sich das letzte Drittel in einer übermäßig detailliert erklärten Handlung, der der Roman selbst hinterherstolpert. In diesem Strudel scheinen ganze Teile der Geschichte verloren zu gehen. Marek glaubt irrtümlich, die Leiche seines Vaters begraben zu haben. Als Jude später wieder auftaucht, ist das kaum von Bedeutung. (Wir befinden uns offenbar in einer Welt, in der ein solcher Verlust für die Psyche der Menschen buchstäblich bedeutungslos ist.) Die Figur des unanständigen Pater Barnabas, der nur der Macht des Herrn dienlich sein will, hätte wiederum humoristischer eingesetzt werden können.
Um Lapvona zu Ende zu führen, muss Villiam gestürzt werden. Das Problem dabei ist nur, dass er alle Macht hat und seine Untertanen keine. Mit diesem sehr realen Dilemma kann auch Moshfeghs fantastische Erzählung nicht plausibel umgehen. Sie umschifft es einfach. Auf den letzten hundert Seiten findet die Autorin einen Weg, um Villiams Macht auszuweichen. Der Herrscher hat plötzlich den Wunsch, von seinen Untertanen geliebt zu werden. Moshfegh selbst scheint sich nicht sicher zu sein, warum oder wie dies geschieht: Villiam, wie uns die Erzählung wissen lässt, hatte sich nie für Besucher interessiert, doch plötzlich hat sich das geändert und Villiam ist ein anderer geworden. Es kümmert ihn auf einmal, was die Leute über ihn sagen. Ab diesem Zeitpunkt beginnt sich die Handlung um eine endlose, austauschbare Reihe von Charakteren zu drehen, die sich im Herrenhaus aufhalten und die alle ihre eigenen verworrenen Motivationen haben, um Villiam zu stürzen. Mit dem Verlust seiner souveränen Autorität verliert sich auch die Geschichte.
Im Vergleich zu Mein Jahr der Ruhe und Entspannung, Moshfeghs am meisten gefeierten Roman, stellt ihr neuestes Werk eine formale Verbesserung dar. Mein Jahr der Ruhe und Entspannung, das den seelischen und materiellen Verfall einer jungen, reichen, tablettenabhängigen New Yorkerin beschreibt, basiert auf einer brillanten Prämisse. Der Roman taucht in die Untiefen des isolierten Selbsthasses ab, ohne dieses Motiv aber weiterzuentwickeln. In Lapvona baut Moshfegh mit ihren Figuren jedoch eine Welt schicksalhafter Konsequenzen auf, eine rigide, wenn auch unausgewogen beschriebene soziale Ordnung, die den Handlungsspielraum ihrer Figuren beschränkt.
Der schiere Umfang der Handlung in Lapvona geht leider zu Lasten jeglicher Art von Plotentwicklung. Die Ereignisse überschlagen sich ohne Rücksicht auf die Figuren, die darin verwickelt sind. Durch diese Gleichgültigkeit gleichen die Charaktere den Simulationen eines Computerspiels der Grausamkeit – wie Sims, die brennen, während Moshfegh, an ihrem Bildschirm sitzend, ohne eine Gefühlsregung die Türen und Fenster entfernt.
Lapvona versucht zwar, Leid als bedeutungslos darzustellen, aber das ist für den Roman sowohl ein Fluch als auch ein Segen. Manchmal wirkt es, als wolle sich Moshfegh nicht entscheiden, ob sie das Leiden als politisch oder natürlich gegeben versteht, und sich damit vor der Frage drücken, ob es gelindert werden kann oder nicht. Vielleicht ist es auch nicht die Aufgabe von Romanen, diese Entscheidung zu treffen. In Lapvona verliert sich die Geschichte jedoch in dieser Ambivalenz.
In dieser Unentschlossenheit liegt die Stärke der ersten Hälfte des Romans; die rohe Schilderung einer grausamen Welt liest sich wie ein humorvoller Aufruf zum Handeln – diese Welt muss enden. Im weiteren Verlauf verstrickt sich die Geschichte jedoch immer mehr im Netz ihrer eigenen Handlung. Aber in einer Welt, in der der Schmerz nie zu einer Veränderung, einem Versprechen auf Erlösung, einer Verbesserung führt, verflachen die Figuren so weit, dass sie am Ende des Romans zu Stereotypen verkommen sind.
Nirgendwo wird diese Unentschiedenheit über die Ursache menschlichen Leids deutlicher als im Bewusstsein von Vuna, der Frau von Grigor (einem der vielen Diener und Dorfbewohner, die am Ende des Romans das Herrenhaus bevölkern): Sie wisse, dass Kämpfen sinnlos sei. Als Frau würde sie immer verlieren. Ihre Aufgabe sei es nicht, eine Schlacht auszutragen, sondern sich zurückzuziehen, um das Leben, das ihr noch bleibt, zu bewahren. Man könnte Moshfegh fragen, wie der Entschluss zum Kämpfen in einer Welt aussehen könnte, in der das Selbstschutz nicht ausreicht, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten.
Ed Luker ist ein in London lebender Schriftsteller und Kulturkritiker. Derzeit schreibt er seinem ersten Roman.