19. April 2022
Nach dem Versagen des letzten Gesundheitsministers wurden viele Hoffnungen auf Karl Lauterbach projiziert. Jetzt macht er FDP-Politik.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bei einer Pressekonferenz, 28. März 2022.
Nach der Bundestagswahl im September 2021 erhielt der SPD-Politiker Karl Lauterbach viel Zuspruch – trotz seiner fragwürdigen Vergangenheit. Unter dem Hashtag #wirwollenkarl forderten zahlreiche Menschen, Olaf Scholz solle den umtriebigen Corona-Mahner Lauterbach als Gesundheitsminister in sein Kabinett berufen. Und das tat er dann auch. Doch ein halbes Jahr später ist Genosse Karl in der Gunst seiner Fans deutlich gesunken.
Für massiven Unmut etwa sorgte eine Ankündigung des Bundesgesundheitsministeriums, wonach Covid-19-Erkrankte selbst entscheiden sollten, ob sie sich in Quarantäne begeben. Einen Tag später war die Idee schon wieder vom Tisch. Diesen Kurswechsel in der Isolationspflicht hatte Lauterbach kurzerhand in der krawalligen Talk-Runde von Markus Lanz bekanntgegeben. Was er bei dieser Gelegenheit nicht sagte: Wenige Stunden vorher wurde in der Fraktionssitzung der SPD im Bundestag heftige Kritik an diesem Vorstoß geäußert. Lauterbach hatte sein Vorgehen damit rechtfertigen wollen, dass die Gesundheitsämter angesichts der exorbitant hohen Infektionszahlen mit der Bürokratie nicht mehr hinterherkämen und er die Behörden entlasten wollte. Seine Fraktionskolleginnen und -kollegen waren damit nicht einverstanden. Nach einer hitzigen Debatte ruderte Lauterbach zurück – die Quarantänepflicht sollte bestehen bleiben.
Nach der Sendung bei Lanz folgte die nächste Kehrtwende: »Die Beendigung der Anordnung der Isolation nach Coronainfektion … wäre falsch und wird nicht kommen. Hier habe ich einen Fehler gemacht. Das entlastet zwar die Gesundheitsämter. Aber das Signal ist falsch und schädlich«, verkündete er auf Twitter.
Im Wahlkampf hatten Olaf Scholz und Karl Lauterbach noch betont, dass sie eine Impfpflicht für nicht notwendig hielten. Das änderte sich, als im Herbst die Fallzahlen stiegen und die Impfpflicht innerhalb der Bevölkerung auf hohe Zustimmung traf. Ende November 2021 zog Scholz dann konkret eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen in Erwägung, die Ampel-Koalition brachte die Impfnachweispflicht für Angehörige der Gesundheitsberufe auf den Weg und eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren sollte folgen. In dieser Entscheidung agierte Scholz jedoch kalkuliert: Um seine Wahl zum Bundeskanzler nicht zu gefährden, sicherte er den Marktradikalen der FDP zu, die Abstimmung über die Impfpflicht im Bundestag zu einer Gewissensentscheidung zu machen. An diesem Punkt kann das Vorhaben als gescheitert betrachtet werden. Der offensichtliche Grundkonflikt der Regierungskoalition wurde nur sehr notdürftig übertüncht. Es war absehbar, dass die Mehrheit der FDP-Abgeordneten gegen eine Impfpflicht stimmen würde. Die Opposition wiederum würde die Gelegenheit nutzen, um die Regierung als nicht durchsetzungsfähig erscheinen zu lassen.
Für Scholz ging die Rechnung auf: Er konnte sich als Kanzler feiern lassen, der durch die scheinbare Aufhebung des Koalitionszwangs mehr Demokratie wagte, während Lauterbach alle Rückschläge einkassierte – und das auch noch freiwillig. Um seine Ernennung zum Minister nicht zu gefährden, trug Lauterbach den Deal mit der FDP mit. Und schwieg.
Um zu verstehen, warum der Ministerposten für Lauterbach so wichtig zu sein scheint, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Lauterbach galt immer als Sonderling – ein Experte, gewiss, aber vollkommen untauglich für einen politischen Posten, der einen souveränen öffentlichen Auftritt vor den Kameras erforderlich macht. Wenn die Parteiprominenz zusammenkam, schlich Lauterbach gewöhnlich mit suchendem Blick durch die Reihen der Journalistinnen und Journalisten – ganz so, als hoffte er darauf, dass irgendwo eine Kamera zu filmen beginnen und er im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen würde. Kam es nicht dazu, war ihm die Enttäuschung im Gesicht abzulesen.
Am Tag der Abstimmung über die Impfpflicht war es dann wieder so weit. Während der Auszählung der Stimmen eilten Abgeordnete durch das Plenum oder führten Gespräche. Lauterbach hingegen verharrte schweigend an der Regierungsbank – es war die bislang größte Niederlage, die er als Bundesgesundheitsminister einstecken musste.
Nachdem sich im Vorfeld keine Mehrheit für einen der verschiedenen Anträge gefunden hatte, einigten sich verschiedene Gruppen auf eine Impfpflicht ab 60 Jahren. Ein weiterer Antrag, namentlich von der Union, forderte die Einführung eines Impfregisters. Später zog die Union auch eine Impfpflicht in Erwägung, für den Fall, dass die Lage nahezu unbeherrschbar werden würde. Eine dritte Gruppe um den FDP-Hardliner Wolfgang Kubicki und die umstrittene einstige Ikone der LINKEN Sahra Wagenknecht sprach sich schließlich gegen jedwede Form einer Impfpflicht aus. Schließlich scheiterte der weitestgehende Antrag krachend. Abgeordnete von Union und AfD riss es jubelnd von den Sitzen.
Wie wenig Rückhalt Lauterbach bei Kanzler Scholz hat, wurde in den Tagen nach der verlorenen Abstimmung klar. Ungefragt verkündete Scholz, dass es keinen weiteren Anlauf für eine Impfpflicht geben werde. Doch auch im Gesundheitsministerium wird man mit dem Minister nicht ganz warm. Als Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn ins Amt kam, verkündete dieser als Erstes, dass er nicht vom Fach sei und somit die volle Unterstützung der erfahrenen Mitarbeitenden benötige. Spahn hinterließ eine katastrophale politische Bilanz, nebenbei kungelte er in dubiosen Spendenrunden und auch seine Verwicklung in Maskendeals ist längst nicht aufgearbeitet. Sein vielleicht einziger Erfolg: Er etablierte im Gesundheitsministerium eine andere Führungskultur und berief oft Runden ein, in denen er selbst neue Referenten zu Wort kommen ließ und ihre Vorschläge aufnahm.
Ganz anders Karl Lauterbach. Er kam mit der Überzeugung ins Haus, von ganz Deutschland als oberster Experte in Gesundheitsfragen angesehen zu werden. Hinter vorgehaltener Hand beklagt man in den Abteilungen, dass der Chef alles besser wisse, abgehoben vor sich hin arbeite und kaum empfänglich für Feedback sei. Dies hat ihm den Spitznamen »Peter Altmaier der SPD« eingebracht – ähnlich wie Altmaier habe sich Lauterbach zwar ganz der Politik verschrieben, stehe sich aber mit seiner Ungeschicklichkeit oft selbst im Weg.
Fünfmal gelang ihm der Einzug in den Deutschen Bundestag über ein Direktmandat. Noch kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie plante die Kölner SPD, Lauterbach nur einen der unsicheren hinteren Listenplätze zu geben. Minister zu werden, das galt schon lange als eines seiner Lebensziele. Und er war stets bereit, dafür politische Überzeugungen abzulegen.
Prägnantestes Beispiel dafür: Als Abgeordneter machte er sich schon früh für eine Bürgerversicherung stark. Doch kurz vor der Bundestagswahl 2021, als er aufgrund seiner Beliebtheit in der Bevölkerung auf einen Ministerposten hoffen durfte, ließ er das Thema fallen – bloß keine Forderung aufstellen, die eine Koalition mit der FDP gefährden könnte. Beobachter äußerten schon damals die Befürchtung, dass Lauterbach in einer Koalition mit der FDP seine Positionen zur Corona-Politik, die vor allem den Bevölkerungsschutz zu betonen schienen, schnell aufgeben würde. Sie sollten mit ihren Prognosen Recht behalten.
Bis zu seiner Wahl zum Bundesgesundheitsminister galt Lauterbach nahezu als Vertreter einer Zero-Covid-Strategie. So twitterte er Anfang 2021: »Mit schlechten Nachrichten um die Wirkung der Impfungen gegen die Mutationsvarianten gewinnt das #ZeroCovid Konzept als Ziel ganz klar an Bedeutung. Auf jeden Fall sollten wir Lockdown nicht beenden, wenn Inzidenz von 50 erreicht ist. Das würde nicht genügen, Rückfall käme leider.« Doch als Lauterbach gemeinsam mit seinem Ministerkollegen Marco Buschmann von der FDP im März 2022 einen Gesetzentwurf vorlegte, der faktisch die meisten der verpflichtenden Schutzmaßnahmen außer Kraft setzte, lag die Sieben-Tage-Inzidenz bei weit über 1.000 Fällen. Die FDP und insbesondere Justizminister Buschmann hatten ihrerseits schon im Oktober 2021 verkündet, dass die Maskenpflicht bis März 2022 fallen würde. Die bundesweite Inzidenz lag damals bei etwa 95.
Die von Lauterbach unterstützten Weichenstellungen wurzeln also in ideologisch motivierten Entscheidungen der Marktradikalen von der FDP, obwohl er vor seinem Eintritt in die Bundesregierung stets auf die Notwendigkeit der Anerkennung wissenschaftlicher Fakten gepocht hatte. »Gesundheitspolitik kann aus meiner Sicht nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich in der Wissenschaft verankert findet, in der evidenzbasierten Medizin«, sagte er gegenüber der Ärztezeitung. Der Beschluss, zum 20. März fast alle Corona-Schutzmaßnahmen fallen zu lassen, wurde von zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern harsch kritisiert. Lauterbach versuchte, den gemeinsamen Gesetzentwurf mit Buschmann dennoch zu rechtfertigen.
Noch widersprüchlicher erscheint Lauterbachs Wirken, da er in den Sozialen Medien weiterhin regelmäßig auf die Gefahren einer Corona-Infektion hinweist und sich damit beinahe als Opposition zu seinem eigenen Wirken als Minister präsentiert. Noch immer zitiert er neue Studien zu Long Covid, Omikron und der veränderten Lebenserwartung durch das Virus.
Andere wichtige Projekte liegen indessen auf Eis: Die hausärztliche Versorgung insbesondere in den ländlichen Gebieten ist unverändert schlecht, der Pflegebonus ist unzureichend, an eine bessere Bezahlung in der Pflege ist nicht zu denken, selbst die Cannabis-Legalisierung kommt nicht voran. »Der Minister hat sehr viele Baustellen gleichzeitig, in allen will er selbst bis ins kleinste Detail einsteigen«, kommentiert ein Abteilungsleiter des Gesundheitsministeriums, der nicht genannt werden möchte. Die Lage bleibt angespannt.
Bei Springer arbeitet man seit der herben Wahlniederlage der Union und dem Antritt der Ampelkoalition indes auf Hochtouren daran, die Regierung zu diskreditieren, um am Ende doch noch den eiskalten neoliberalen Scharfmacher Friedrich Merz ins Kanzleramt zu hieven. Man mag von dieser Regierung halten, was man will – doch angesichts der größten Krise seit Jahrzehnten ist man schlecht beraten, jetzt Neuwahlen zugunsten einer konservativen Regierung unter Merz herbeizuschreiben. Springer ficht all das nicht an: Die Verteidigungsministerin wird torpediert, die Familienministerin ist nach wochenlangen Negativschlagzeilen bereits zurückgetreten. Lauterbach hingegen schafft es, sich von selbst als Rücktrittskandidat zu präsentieren.