02. November 2022
Die Inflation ist auf einem Höchststand, die Lebenshaltungskosten explodieren und auf den Straßen tut sich – wenig. Dass nicht stärker protestiert wird, liegt auch an der Ampel, die ihre Opposition neutralisiert.
Luftballons für die Solidarität bei der Auftaktkundgebung zum »Solidarischen Herbst«, Berlin, 22. Oktober 2022.
IMAGO / Olaf SchuelkeWürde man nur auf die »nackten Zahlen« schauen, wäre zu erwarten, dass die Menschen in Deutschland in Massen gegen die massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten auf die Straße gehen. Im Herbst kletterte die Inflation in Deutschland auf 10 Prozent – ein Höchststand in der Nachkriegsgeschichte.
Und trotzdem – von Massen auf den Straßen kann nicht die Rede sein. Dass vereinzelte Aktionen der LINKEN für einen »heißen Herbst« nur auf geringe Resonanz stießen, mag man noch der geringen Ausstrahlungskraft dieser Partei zuschreiben. Doch auch das Bündnis für einen »solidarischen Herbst« brachte bei seinen Demos in verschiedenen deutschen Großstädten am 22. Oktober zusammengenommen weniger als 25.000 Menschen auf die Straße. Den Aufrufen von Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden sowie sozialen Bewegungen folgen im Wesentlichen nur die »üblichen Verdächtigen«, während die Massen zuhause bleiben. Zum Vergleich: Als gegen die Agenda 2010 demonstriert wurde, die nicht mehr Menschen betroffen hat als die aktuelle Inflation, gingen alleine in Berlin etwa 250.000, bundesweit um die 500.000 Menschen demonstrieren.
»Was also durch Loyalität an die Ampel gebunden bleibt, fehlt für die kritische Masse auf der Straße.«
Erfolge auf der Straße und noch mehr an der Wahlurne feiert hingegen das Spektrum der radikalen und verschwörungsideologischen Rechten. Um zu verstehen, warum links so weit hinter rechts zurückbleibt, reicht es nicht, allein auf die Zahlen zu schauen. Genauso entscheidend ist, ob Abhilfe realistisch erscheint, welche Bündnispartner bereitstehen, und ob unter den Herrschenden Uneinigkeiten sichtbar werden, die sich ausnutzen lassen. Auch gesamtgesellschaftliche Stimmungslagen haben in Krisenzeiten wie diesen einen gewichtigen Einfluss.
Um die aktuelle politische Trägheit aufseiten der Linken besser zu verstehen, lohnt sich ein vergleichender Blick auf die Protestbewegung der Gelbwesten. Ausgelöst wurden die Demonstrationen durch die Ankündigung zusätzlicher Treibstoffabgaben auf Diesel und Benzin, aber angetrieben waren sie von der Unzufriedenheit über soziale Ungerechtigkeiten und hielten Frankreich monatelang in Atem. Der Kaufkraftverlust, der den Menschen in Frankreich damals drohte, hätte sie weniger empfindlich getroffen, als die aktuellen Preisschocks die Bevölkerung in Deutschland treffen. Die Tatsache, dass die Franzosen stärker aufmuckten, hat weniger mit der vielseits beinahe mythologisch beschworenen französischen Protestkultur zu tun, und ist eher dem Umstand geschuldet, dass die Belastung den Franzosen in Form einer Steuer drohte. Sie verdankte sich also einer politischen Entscheidung. Die derzeitige Inflation hingegen hat ein ganzes Bündel von Ursachen und keinen Alleinschuldigen.
Die Gelbwesten hatten zudem ein nahezu ideales Feindbild, gegen das sich vortrefflich mobilisieren ließ – Emmanuel Macron, den »Präsident der Reichen«, der den Besserverdienenden die Steuern gesenkt und beim sozialen Wohnungsbau Kahlschlag betrieben hatte. Ihm ließ sich richtigerweise vorwerfen, die sozialen Lebensrealitäten von Abermillionen Landsleuten außerhalb der Metropolen ignoriert zu haben, die aufs Auto angewiesen waren. Wir hingegen haben Olaf Scholz, der so farblos ist, dass er nicht einmal als Feindbild besonders gut taugt. Schließlich sorgte in Frankreich auch die mitunter unfassbar brutale Polizeigewalt gegenüber den Demonstrationen für Empörung, die weit über den Kern der Bewegung hinausreichte, wovon in Deutschland keine Rede sein kann. Um einer Dynamik wie in Frankreich den Wind aus den Segeln zu nehmen, kassierte die hiesige Ampel-Koalition die anfangs geplante Gasumlage bald wieder ein.
Teil des Rätsels, warum in Deutschland so wenige Menschen protestieren, ist ohnehin das hegemoniepolitische Paradox der Ampel-Koalition. Die amtierende Regierung hat politisch einige Federn lassen müssen. Der sorgsam austarierte Koalitionsvertrag vom Jahresende 2021 ist durch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Inflation in vielen Punkten Makulatur. In Umfragen hatte die Ampel Ende Oktober die Mehrheit verloren. Sieht man von der radikalen Rechten einmal ab, formiert sich bislang dennoch keine durchschlagende politische Opposition gegen sie.
Das liegt zum einen an der breiten politischen Einbindung, die die Ampel nach wie vor erreicht. Sie deckt ideologisch ein breites Spektrum ab, das von linken Bündnisgrünen und Sozialdemokraten bis zum Ultra-Wirtschaftsliberalen Frank Schäffler reicht. Zudem ist nicht nur die jeweilige Parteibasis damit in die »Regierungsdisziplin«eingebunden, sondern auch die den Parteien nahestehende Verbände: seien es die Umweltverbände über die GRÜNEN, Unternehmensverbände über die FDP oder die Gewerkschaften über die SPD. Insofern war es kein Versehen, dass sich abgesehen von Ver.di die großen DGB-Gewerkschaften nicht unter dem Aufruf zum »Solidarischen Herbst« wiederfinden.
»Die Blockade jeglicher Steuererhöhungen für Besserverdienende taugt nur begrenzt zur Agitation, weil es beides auch in den Jahrzehnten zuvor nicht gegeben hatte.«
Ohne die Apparate, die Vertrauensleute, die Betriebs- und Personalräte der großen Gewerkschaften läuft wenig bis nichts, wie einem bewegungserfahrene Aktivistinnen gerne bezeugen. Dann fehlen die Lautsprecher, die Multiplikatoren in den Betrieben, (halb)öffentlichen Unternehmen und Verwaltungsabteilungen – und deren Unterstützung ist meist wichtiger als der Textwortlaut auf dem Demo-Flyer. Was also durch Loyalität an die Ampel gebunden bleibt, fehlt für die kritische Masse auf der Straße.
Auch die aktuelle Stimmungslage, die Entwicklungen aus der Ära Merkel fortsetzt, ist dem Protest nicht gerade zuträglich. Unzufriedenheit vermischt sich mit Apathie und mangelndem Glauben daran, durch politische Anstrengung die eigenen Lebensverhältnisse verbessern zu können. Gehalten und durchgesetzt hat sich unter Merkel vielmehr die Erwartung, dass sich schon irgendwer kümmern und die Regierung zum Schutz ihrer wichtigsten Wählerinnen und Wähler nichts anbrennen lassen werde.
Diese Erwartungshaltung hat zur Folge, dass vormals kontroverse Forderungen wie der gesetzliche Mindestlohn heute als unumstrittene und unantastbare Errungenschaften erscheinen. Zugleich aber können weitergehende, keineswegs revolutionäre Forderungen etwa nach der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen fallen gelassen werden, ohne dass dies einen breiten Aufschrei provoziert.
Darunter leidet auch die Lindner-FDP. Denn soll das nachwirkende Mindset der Merkel-Ära nicht enttäuscht werden, hat der Wirtschaftsliberalismus nur noch hinter Tarnkappen eine Chance. Die FDP kann ihren Markenkern lediglich dort bedienen, wo sie Fortschritt unterbinden kann, ohne jemandem sichtbar etwas wegzunehmen. Wenige werden mitbekommen haben, wie Christian Lindner sich jüngst gegen eine Reform des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakts und eine gemeinschaftlichen Kreditaufnahme in der EU gestellt hat. Auch die Blockade jeglicher Steuererhöhungen für Besserverdienende oder einer Vermögensabgabe taugt nur begrenzt zur Agitation, weil es beides auch in den Jahrzehnten zuvor nicht gegeben hatte. Nur noch durch den Abbau der sogenannten Kalten Progression kann die FDP für ihre Klientel liefern.
Es liegt aber auch in der Beschaffenheit der Problemlage, dass sie den politisch-sozialen Block der »Mitte« trotz wachsender Enttäuschung politisch stabilisiert und seine Kritiker eher neutralisiert. Die Preissteigerungen verdanken sich schließlich Vorgängen, die weit weg und nicht vom einen auf den anderen Tag zu lösen sind – wie etwa Lieferengpässe, die coronabedingte Lockdowns in China nach sich zogen, der Krieg gegen die Ukraine oder Finanzspekulation. Bei den Unternehmen und Haushalten führt all das zu Knappheiten und Preissteigerungen, mit der Folge, dass etwa auch mittelständische Unternehmen Bundestagsabgeordnete anschreiben und um Hilfen und Entlastungen bitten.
Die erbetenen Maßnahmen laufen darauf hinaus, die wirtschaftsliberale Doktrin und die Mainstream-Ökonomie zu unterlaufen, indem man entweder direkt die knappheitsbedingten Preissignale durch »Bremsen« und »Deckel« steuert oder indem man Ausgleichszahlungen und befristete Steuernachlässe in beträchtlicher Höhe gewährt. Schon jetzt kräht außer der FDP fast niemand mehr nach der Schuldenbremse. Der wirtschaftsliberale Ruf nach Eigenverantwortung erntet bestenfalls peinlich berührtes Kopfschütteln. Weil die heutige Problemlage eine kollektive Lösung verlangt, die auch von vormaliger FDP-Klientel eingefordert wird, sind die Restbestände des neoliberalen Blocks in Auflösung begriffen.
Aber auch politische Kräfte links vom Block der »Mitte« sehen sich ausgebremst. Das Protestpotenzial ist nämlich nicht nur zwischen Linken, Querdenkern und Rechten gespalten, sondern auch innerhalb der Linken. Voraussetzung für einen Stopp der Inflation wäre eine Erhöhung des Angebots der aktuell knappen Energie.
Dies jedoch ist nicht ohne normative Abstriche zu haben, wie die Auseinandersetzungen um LNG-Terminals, Laufzeitverlängerung der Atom- und Kohlekraftwerke und die womöglich demnächst erfolgende Zulassung von Fracking deutlich machen. Bei aller Kritik an der Ampel scheint die Bevölkerung weithin zu akzeptieren, dass die Regierungsparteien diese Fragen stellvertretend für die Gesamtgesellschaft verhandeln. Die Ausweitung interventionistischer Politik wird nicht als »Linksrutsch« wahrgenommen und bleibt als technokratisches Maßnahmenbündel weitgehend unumstritten.
Aus diesem Gemisch von labilem Konsens, Vertrauensvorschuss und Kompetenzzuschreibung zugunsten der »Mitte« fallen diejenigen Stimmen heraus, die sich um die sachlichen Schwierigkeiten nicht kümmern. Sahra Wagenknechts berüchtigte Rede aus der Haushaltsdebatte des Bundestags vom September steht für eine Position, die alles auf das Feindbild »Bundesregierung« ausdünnt und die Sehnsucht nach einer einfachen Lösung bedient.
Die innerlinke Spaltung verdeutlicht Wagenknecht aber nicht nur durch ihre Forderung nach der Einstellung der Sanktionen gegen Russland. Denn die Forderung, die Energiekrise einfach durch Öffnung von Nordstream 2 zu überwinden, wendet sich auch, ob gewollt oder nicht, gegen die Versuche, eine zugleich soziale, ökologisch und geopolitisch tragfähige Antikrisenpolitik zu finden und zu popularisieren. In Wechselwirkung mit der Ampelkoalition vertieft die aktuelle Problemlage die Spaltungslinien, die die LINKE bereits zuvor plagten.
»Zugleich sollten Linke aber auch versuchen, fortschrittliche Kräfte aus dem Block um die Ampel herauszulösen.«
Der radikal und verschwörungsideologischen Rechten dagegen verschafft die Situation eine ungeahnte Kohärenz und Schlagkraft. Sachkompetenz und plausible Vorschläge waren für die AfD-Wählerschaft noch nie ausschlaggebend. Der Partei kommt nun zusätzlich entgegen, dass sich ein großer Teil ihrer Klientel auch nicht darum schert, welche nachteiligen Auswirkungen die deutsche Politik auf andere Länder haben könnte.
Einer erfolgreichen linken Protestbewegung gegen die Auswirkungen der Inflation fehlen hierzulande ausstrahlungsfähige Akteure, Multiplikatoren und aussichtsreiche Lösungen, die sich gegen die Ampel-Regierung durchsetzen ließen. Es wirkt der Teufelskreis einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Weil so viele Menschen nicht genau durchblicken und nicht benennen können, was Proteste denn an der derzeitigen Lage ändern sollten, schätzen sie deren Sinnhaftigkeit und Wirkmächtigkeit als gering ein. Durch die ausbleibende Teilnahme bewahrheitet sich diese Befürchtung. Hinzu kommt, dass die überzogene Abgrenzungsrhetorik viele linker und linksliberaler Kommentatoren, die allenthalben vor Vereinnahmung jeglicher Proteste durch Rechte und Querdenker Alarm schlugen, womöglich auch potenzielle Teilnehmende abschreckte.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, sollten Linke einerseits unbedingt weiter Basisarbeit machen. Dazu wird es notwendig sein, die gerechtfertigten, weit verbreiteten Unzufriedenheiten aufzugreifen und anzusprechen, ohne sie wie Wagenknecht auf problematische Scheinlösungen zu lenken. Wenn eine Mobilisierung über Demonstrationen gerade nicht das Mittel der Wahl ist, kann die Auseinandersetzung über lebensnahe Fragen gesucht werden, wie Tarifauseinandersetzungen, Ticketpreise im ÖPNV, Gebühren und Mieten. Wenn eine Feindbild gebraucht wird, um maximal viele politische Kräfte zu mobilisieren, ist man bei der Lindner-FDP an der richtigen Adresse.
Zugleich sollten Linke aber auch versuchen, fortschrittliche Kräfte aus dem Block um die Ampel herauszulösen. Ansonsten werden Wünsche nach Verbesserung weiterhin wie selbstverständlich an die »Mitte« gerichtet werden. Und Proteste würden wie derzeit nur dann viele Menschen anziehen, wenn sie sich auf Konsens-Themen wie Klima oder die Ablehnung von Diskriminierung beziehen.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.