11. Juni 2024
Macrons gewagte Entscheidung, Neuwahlen anzusetzen, offenbart, dass ein Sieg von Le Pen kein Horrorszenario mehr für ihn ist. Insgesamt zeigen die Reaktionen auf die Europawahl: Die Mitte beginnt, sich mit dem Aufstieg der extremen Rechten zu arrangieren.
Marine Le Pen hält eine Rede während einer Wahlkampfveranstaltung in Henin-Beaumont, Frankreich, 25. Mai 2024.
Würde Giorgia Meloni lieber mit dem »pro-europäischen Mainstream« um Emmanuel Macron oder doch lieber mit »rechtsextremen Außenseitern« wie Marine Le Pen zusammenarbeiten? Diese Frage stellten sich vor den Wahlen zum EU-Parlament am vergangenen Wochenende viele Kommentatoren, die über die Zukunft der Europäischen Union sowie über die nächsten Schritte der italienischen Ministerpräsidentin spekulierten. Schließlich gilt Meloni als potenzielle »Königsmacherin« bei der Koalitionsbildung in Brüssel – und eben auch als potenzielle Partnerin in einer neuen nationalistischen Internationale. Konkurrierende rechte Kandidaten warfen Meloni vor, sich beim französischen Präsidenten (und bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) einzuschleimen. Einige europabegeisterte Kolumnisten hoffen derweil, Macron und Meloni könnten nun »ihre Kräfte bündeln, um Europa zu retten«.
Nun hat Macron vorgezogene Neuwahlen ausgerufen, aus denen Le Pens Partei deutlich gestärkt hervorgehen und die Kontrolle in der französischen Nationalversammlung übernehmen dürfte. Meloni müsste sich daher vielleicht nicht mehr für die eine oder die andere Option entscheiden.
Die Lobhudelei vieler internationalen Medien für die in der EU-Politik »pragmatische« Meloni beruht meist darauf, dass ihr bestimmte Politikbereiche nahezu egal sind, solange das europäische Projekt insgesamt erhalten bleibt. Ihre Partei stellt sich selbst so dar, als wolle sie die EU von innen heraus verändern [statt sie zu zerstören]. Daheim in Italien erweist sie sich als stabil: Mit 29 Prozent übertraf sie bei der Wahl am Sonntag ihr Ergebnis von den Parlamentswahlen 2022 und ließ die aggressiveren und daher oft störenden Koalitionspartner von der Lega (8 Prozent) deutlich hinter sich.
Die Ergebnisse vom Wochenende bestätigen außerdem die stärkere Position Italiens in der EU-Politik und spiegeln die Schwäche der sonst so zentralen deutsch-französischen Achse des Blocks wider. In Frankreich erreichte Macrons Liste 15 Prozent, während Le Pens Rassemblement National 31,5 Prozent erhielt. In Deutschland schnitt die AfD (rund 16 Prozent) trotz aller Skandale besser ab als die regierende SPD (14 Prozent), während die beiden Ampel-Koalitionspartner (Grüne mit 12 Prozent, FDP mit rund fünf) ebenfalls miserabel abschnitten.
Bei den Wahlen hat die radikale Rechte ihre Zustimmungswerte generell erhöhen können. Das Bild von den rebellischen rechten Außenseitern passt aber nicht, wenn man bedenkt, dass die jeweiligen Parteien inzwischen fester Bestandteil der politischen Landschaft in der EU sind. Insgesamt gab es bei der Wahl am Wochenende eher einen schleichenden Wandel nach rechts als einen großen Ruck. Bei der Gesamtzahl der Sitze im neuen 720-köpfigen Parlament (das damit gegenüber 2019 um 15 Sitze gewachsen ist) dürfte laut Hochrechnungen die konservative Europäische Volkspartei etwa neun hinzugewonnen haben, die Sozialdemokraten verlieren zwei, die Linke einen, die Grünen und die Liberalen jeweils etwa zwanzig und die verschiedenen Strömungen der radikalen Rechten gewinnen rund dreißig hinzu, vor allem dank der Ergebnisse in Frankreich und Deutschland. In Italien waren rechte Parteien führend, doch das ist nichts Neues. Die 14 Sitze, die Melonis Fratelli d’Italia hinzugewann, gingen alle auf Kosten der Lega. Die gemäßigte Linke schnitt gut ab, während die »Macron-eske« Mitte um Matteo Renzi verlor. In Spanien gewannen Melonis Verbündete von der Vox zwei Sitze hinzu, die Stimmanteile für die etablierten Parteien blieben aber ebenfalls stabil. In Polen verlor die erzkonservative PiS an Zuspruch, was sowohl der gemäßigteren Rechten als auch der streng nationalistisch-rechtslibertären Konfederacja zugutekam.
Wenn man die Zugewinne der Rechten auf diese Zahlen reduziert und relativiert, dürften aktuell die Ergebnisse in Frankreich am bedeutendsten sein und am meisten Staub aufwirbeln. Macrons Regierung hatte bereits seit Juni 2022 keine absolute Mehrheit mehr in der Nationalversammlung. Jetzt, wo er offenbar den Tiefpunkt seiner Popularität erreicht hat, sucht er erneut das direkte Duell mit Le Pen. Sie war schon mehrfach seine bevorzugte politische Gegnerin; schließlich ließ sich gegen die radikale Rechte meist eine »anti-populistische« Allianz bilden. Macron-Kritiker sehen diesen Ansatz schon seit längerem als unheilvolles Manöver. Bereits vor seiner Wahl vor sieben Jahren hieß es auf Graffitis in Paris: »Macron 2017=Le Pen 2022«. Linke drückten damit ihre Überzeugung aus, dass Macron mit seinem Neoliberalismus und seiner Falken-Sicherheitspolitik die sozialen Missstände im Land verschärften und so dem Rassemblement National mittelfristig zum Sieg verhelfen würde. Macrons Politik ist demnach alles andere als eine »Brandmauer gegen Populismus«.
»Es gibt keine feste Brandmauer mehr zwischen den bürgerlichen Konservativen und den Parteien, die bis vor ein paar Jahren als Bedrohung für die Demokratie selbst galten.«
Vor seiner Präsidentschaft hatte Macron als Wirtschaftsminister in der desaströsen Mitte-Links-Regierung von François Hollande gearbeitet und darauf folgend versprochen, dass er Frankreich in eine »Start-up-Nation« verwandeln würde. In seinen Äußerungen über eine »unternehmerische Dynamik« für das Land zeigte er seine Verachtung für »Faulpelze«, aber auch für Arbeiterinnen und Arbeiter, die immer noch erwarteten, einen sicheren Arbeitsplatz und darauffolgend eine gute Rente zu bekommen. In diesem Kontext sind Macrons Angriffe auf das französische Sozialmodell ebenso wenig überraschend wie das autoritäre Vorgehen der Polizei gegen Protestierende wie die Gilets Jaunes oder Gegner der Macron’schen Rentenreformen.
Diese Politik kann sicherlich teilweise den Aufstieg der radikalen Rechten erklären: Le Pens Partei kritisiert Macrons unsoziale Maßnahmen (aber auch die Proteste dagegen) und profitiert im Gegenzug von der Verzweiflung und dem Zynismus, die aus den Niederlagen der Protestierenden resultieren. Doch Macrons unpopuläre Politik ist nicht die einzige Ursache für den rechten Höhenflug. Die Bemühungen von Macrons Ministerinnen und Ministern, einen Teil von Le Pens Programm zu übernehmen – indem beispielsweise »Islamo-Linke« und Sozialhilfeempfänger beschimpft werden oder die Rassemblement-Führung gar beschuldigt wird, »zu soft gegenüber dem Islam« zu sein – gehen sicherlich über das hinaus, was von einer angeblich liberalen Regierung zu erwarten wäre. So wurden Inhalte der radikalen Rechten übernommen, weiter verbreitet und deren Weg in den Mainstream geebnet.
Die von Macron am Sonntagabend ausgerufenen Neuwahlen könnten gegebenenfalls zu einer sogenannten Cohabitation führen. Das ist die (oft konfliktträchtige) Situation, in der Präsident und Premierminister unterschiedlichen politischen Lagern angehören. Angesichts der Regierungsmaßnahmen der vergangenen Monate und Jahre – einschließlich des Einwanderungsgesetzes, das im Dezember dank der Stimmen von Le Pens Fraktion verabschiedet werden konnte – ist eine Cohabitation in Form einer friedlichen Koexistenz jedoch bereits denk- und absehbar geworden.
In Frankreich haben gemäßigt-konservative Bewunderer die Italienerin Meloni oft positiv gegenüber Le Pen hervorgehoben. So behauptete beispielsweise der Geschäftsmann Alain Minc, die italienische Ministerpräsidentin sei »in den Kreis der Vernunft eingetreten« und habe sich mit den Postulaten Unterstützung für die NATO und Respekt für den von der EU kontrollierten Haushaltsausgleich »arrangiert«. Die französische Rechtsradikale sei hingegen weniger leicht zu bändigen.
Einige im Rassemblement National, vor allem der Spitzenkandidat für die Europawahl, Jordan Bardella, haben auf derartige Aussagen reagiert und versucht, die Partei auf einen »respektableren« und pro-transatlantischen Kurs zu bringen. Tatsächlich ist die gesamte Partei heute weit von der Anti-Euro-Stimmung entfernt, die sie noch Mitte der 2010er Jahre propagierte. Sie hat in den vergangenen zehn Jahren außerdem mehrere Personen aus der historisch eher gemäßigten gaullistischen Rechten rekrutieren können. Einige Beamte und Wirtschaftsführerinnen hoffen nun sicherlich, einen möglichst »weichen Aufschlag« vorbereiten zu können, wenn Le Pens Partei früher oder später an die Macht kommt. Die von Macron ausgerufene Wahl – mit der der Rassemblement National vielleicht schon vor den Präsidentschaftswahlen 2027 die Führung übernimmt – könnte dabei helfen, diesen Weg zu ebnen.
»In den vergangenen Jahren wurde viel und oft vor nationalistischen Populisten gewarnt, die vermeintlich drohten, die EU zu zerstören. Nach dem zurückliegenden Wahlkampf sieht es hingegen immer mehr so aus, als würden sich diese Kräfte mit der EU arrangieren.«
Die Partei von Le Pen hat offensichtlich Rückenwind. Sie gewinnt immer mehr Stimmen aus dem rechtsextremen Spektrum und erreicht auch zunehmend Wählerinnen und Wähler aus der Mittelschicht, vor allem in den Kleinstädten Frankreichs. Natürlich ist ihr Sieg bei den vorgezogenen Neuwahlen (am 30. Juni und 7. Juli) nicht sicher: Es gibt nach wie vor gewisse Gegenkräfte auf der Linken; und das Zwei-Runden-Wahlsystem könnte ebenfalls verhindern, dass Le Pen eine absolute Mehrheit erringt.
Doch in Frankreich gilt wie in den meisten Teilen Europas: Es gibt keine feste Brandmauer mehr zwischen den bürgerlichen Konservativen und den Parteien, die bis vor ein paar Jahren als Bedrohung für die Demokratie selbst galten. Mit der Ausrufung von Neuwahlen zeigt Macron ganz offen, dass er keine Angst mehr hat, Le Pen gewinnen zu lassen. In Ermangelung einer klaren Vision für die EU, die über eine Rückkehr zur Austerität hinausgeht, unfähig, einen unabhängigen außenpolitischen Kurs zu verfolgen, und verängstigt angesichts eines möglichen Sieges von Trump bei den US-Wahlen im November, sucht und findet das europäische Polit-Establishment derzeit Wege, Teile der radikalen Rechten zu integrieren. Das begann zunächst mit Meloni und scheint sich nun mit dem Rassemblement National fortzuführen. Dieser Prozess birgt natürlich Konflikte in sich. Diese könnten sich schon bei einer Cohabitation zwischen Macron und einer rechten Premierministerin oder einem von Le Pen auserkorenem »Unabhängigen« zeigen. Doch das alte Schema »pro-europäische Liberale gegen nationalistische Populisten« beschreibt die politischen Konstellationen in der EU immer weniger gut.
In einer Fernsehdebatte vor den Wahlen wurde Bardella vom Rassemblement National gefragt, warum seine Partei früher ein Referendum über den EU-Austritt forderte, dieses Ziel mittlerweile aber aufgegeben hat: »Man verlässt den Verhandlungstisch doch nicht, wenn man kurz vor dem Sieg steht.« Ähnliches gilt für die radikale Rechte in anderen EU-Ländern. Bei den Wahlen 2024 zeigte sich ein allgemeiner Rückgang der »Exit«-Forderungen. Ungeachtet ihrer vielen Differenzen und Unterschiede haben die Rechtsaußen-Parteien Möglichkeiten gefunden, in ihrer eigenen Weise über Europa zu sprechen und zu denken – und diese Ansätze sind mit der Arbeit in den EU-Institutionen vereinbar.
So feierten die Schwedendemokraten in einem Werbespot unterschiedliche Aspekte der europäischen Kultur, die sie durch Einwanderung bedroht sehen. Das Video ist eine Hommage an den Kontinent der Autos, des kalten Biers und der kurzen Röcke, die allesamt durch Bandenkriege und Pro-Palästina-Proteste von Muslimen bedroht seien. Der Werbespot (nochmals: von einer Partei, die vor nicht allzu langer Zeit den EU-Austritt befürwortete) ist ein veritabler Liebesbrief an Europa. Er endet mit dem Wahlkampfslogan »Mein Europa baut Mauern«. Hier werden Kontinent und Union als eine Lebensart, als eine Zivilisation, die bedroht ist, verstanden. Das erinnert ein wenig an die Aussagen des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, der die EU einen »Garten« nannte, der vor dem »Dschungel« der Außenwelt geschützt werden müsse.
Die Erfahrung mit Meloni an der Spitze der italienischen Regierung hat gezeigt, dass die radikale Rechte durchaus ihren Platz in diesem »Garten« finden kann – und zwar als einer seiner glühenden Verfechter und Verteidiger. In den vergangenen Jahren wurde viel und oft vor nationalistischen Populisten gewarnt, die vermeintlich drohten, die EU zu zerstören, sei es durch Absicht oder durch schlecht durchdachte Strategien. Nach dem zurückliegenden Wahlkampf sieht es hingegen immer mehr so aus, als würden sich diese Kräfte mit der EU arrangieren. Und die etablierten Parteien wollen nun herausfinden, welche Wege es für eine Zusammenarbeit geben kann.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).