08. Januar 2024
Einige wenige Großkonzerne dominieren unsere Ernährungssysteme und bestimmen die Agrarpolitik unserer Regierungen – zulasten kleiner Hersteller und der Allgemeinheit.
Eine Demonstration unter dem Motto »Wir haben es satt« für eine Wende in der Agrarpolitik im Januar 2022.
Oreo, Milka, Alpengold, Tuc, Philadelphia, Toblerone, Mikado – was haben sie gemeinsam? Sie sind Produkte, die wir alle kennen. Sie sind alle internationale Marken. Und sie alle gehören einem Unternehmen – einem der fünf größten Lebensmittelhersteller der Welt: Mondelez International. Das ist kein Ausnahmefall. Denn jede Sparte des Agrar- und Lebensmittelsektors wird von einigen wenigen Konzernen beherrscht.
In Deutschland teilen sich vier Einzelhandelskonzerne den Lebensmittelmarkt auf: Die Edeka-Gruppe, einschließlich Discounter Netto, die Rewe-Gruppe, einschließlich Discounter Penny, die Aldi-Gruppe Süd und Nord, und die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland. Ihr Anteil hat in den vergangenen zwanzig Jahren stetig zugenommen, 2021 entfielen auf das Quartett über 85 Prozent des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel – insgesamt über 218 Milliarden Euro. Der Markt ist de facto ein Oligopol.
Weltweit kontrollieren die zehn größten Lebensmitteleinzelhändler (zu denen auch Aldi-Süd, Rewe und die Schwarz-Gruppe gehören) 11 Prozent der gesamten Verbraucherausgaben für Lebensmittel. Dabei zählen Vermögensverwalter wie BlackRock und Vanguard zu ihren wichtigsten institutionellen Aktionären. Es geht also nicht nur um die Macht der Konzerne, sondern auch die ihrer Eigentümer. Ständig ist die Rede vom freien Markt – doch der jetzige Zustand hat mit funktionierendem Wettbewerb wenig zu tun.
In Deutschland stehen Edeka, Rewe, Aldi und der Schwarz-Gruppe mehr als 38.000 überwiegend kleine und mittelständische Lebensmittelhersteller gegenüber. Zu den wichtigsten Lieferanten des deutschen Lebensmitteleinzelhandels gehören jedoch Konzerne wie Dr. Oetker, Tönnies, Ferrero, Coca-Cola, Nestlé, Procter & Gamble, Tchibo, Unilever, Mars und Danone. Eine Sektoruntersuchung des Bundeskartellamts hatte schon 2014 festgestellt, dass eine kleine Gruppe Großunternehmen den wesentlichen Teil des Angebots auf sich vereinte.
Die ungleich verteilte Verhandlungsmacht bewirkt einen harten Preiskampf unter den Herstellern, wobei nur Konzerne es sich leisten können, immer wieder mit den Einzelhandelsriesen um die Verkaufspreise zu ringen. In der aktuellen Inflationskrise werfen sich Einzelhandelsketten und internationale Lebensmittelhersteller seit Monaten gegenseitig überzogene Preise vor. Der Streit zwischen Edeka und Coca-Cola zum Beispiel zog sich über mehrere Monate hin und landete letztendlich vor Gericht, Rewe warf 2023 Rittersport-Schokolade aus seinen Regalen, Lidl nahm Haribo aus dem Sortiment, Nestlé stellte für zahlreiche Geschäfte seine Lieferungen ein.
»Der Lebensmitteleinzelhandel stellt sich gerne als ›Schutzpatron‹ der Konsumentinnen und Konsumenten dar, doch genau das Gegenteil ist der Fall.«
Vor allem gegenüber kleineren Lieferanten können Edeka, Rewe, Aldi und Lidl aufgrund ihrer Marktmacht häufig die Konditionen diktieren. Denn der Lebensmitteleinzelhandel ist der größte Absatzkanal für die Ernährungsindustrie – und das ist den Händlern natürlich sehr bewusst. Unfaire Handelspraktiken, die eigentlich verboten sind, finden in der Branche immer noch häufig Anwendung: Knebelverträge, einseitige Vertragsänderungen, zusätzliche Lieferanten-Zahlungen, Androhung der Auslistung aus dem Sortiment und Dumpingpreise, um nur einige zu nennen.
Das zeigt auch der aktuelle Evaluierungsbericht des Lieferketten-Gesetzes, das die Sorgfaltspflichten von (Groß-)Unternehmen in Deutschland regelt und sie dazu verpflichtet, innerhalb ihrer Wertschöpfungsketten Menschenrechte und Umweltstandards zu achten. Das Gesetz wurde 2021 verabschiedet, um die europäische UTP-Richtlinie im nationalen Recht umzusetzen – und nachdem eine 2016 eingeführte Selbstverpflichtung der Unternehmen (der Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte, kurz NAP) krachend gescheitert war: 2020 erfüllten nur 13 bis 17 Prozent der in Deutschland ansässigen Unternehmen mit über 500 Beschäftigten die Anforderungen des Aktionsplans, weitere 10 bis 12 Prozent befanden sich »auf einem guten Weg«.
Damit wurde das von der Bundesregierung gesetzte (und nicht besonders anspruchsvolle) Ziel von mindestens 50 Prozent »NAP-Erfüllern« deutlich verfehlt. Doch viele kleine und mittlere Unternehmen können ihre Geschäftsbeziehungen mit den Handelsriesen trotz unfairer Handelspraktiken nicht beenden, weil das ihre Existenz gefährden würde.
Verbraucherinnen und Verbraucher haben aufgrund des Oligopols auf dem Lebensmittelmarkt in Wirklichkeit doch nicht so viel freie Wahl, wie Marktakteure und Teile der Politik behaupten. Der Lebensmitteleinzelhandel stellt sich gerne als »Schutzpatron« der Konsumentinnen und Konsumenten dar, doch genau das Gegenteil ist der Fall.
Lange Zeit galt der Wettbewerb zwischen den Einzelhandelsketten als Garant für sehr niedrige Lebensmittelpreise in Deutschland. Und bei ihren Preisstreitigkeiten bezichtigen sich Einzelhandelsketten und internationale Lebensmittelhersteller immer wieder gegenseitig, zu hohe Preise zu fordern. Doch eine umfassende Studie zeigte unlängst, dass die Lebensmittelpreise in Deutschland um 2003 herum zu steigen begannen – also gerade zu dem Zeitpunkt, als sich die Konzentration im Lebensmittelhandel beschleunigte. Die führenden Händler haben in den letzten zwanzig Jahren also die Inflation nicht gedämpft, sondern kontinuierlich erhöht. Sie haben ihre Marktmacht zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher genutzt.
Supermärkte und Discounter können diese Macht zudem noch ausbauen, indem sie Lieferstopps anordnen und Markenprodukte aus dem Sortiment nehmen. So setzt der Handel bereits länger auf Eigenmarken – Edeka hat zum Beispiel nach einem Preisstreit mit Mars die Produkte des US-Konzerns mit eigenen ersetzt. Die sogenannte vertikale Integration ermöglicht es Großunternehmen vor allem, Kosten in der Wertschöpfungskette einzusparen, alle Produktionsschritte zu kontrollieren und sichert ihnen den Zugang zu Ressourcen. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet vertikale Integration, dass Händler selbst zu Hersteller werden, indem sie Unternehmen kaufen, die Lebensmittel produzieren.
Das Phänomen ist an sich nicht neu, doch in den letzten Jahren hat es deutlich an Geschwindigkeit gewonnen. Der Handel bringt sich immer mehr in den Produktionsprozess ein. Ein Grund dafür ist die steigende Konzentration innerhalb der Handelsunternehmen, denn größere Händler vertikalisieren eher als kleine. Für die Unternehmen, die auf diese Weise integriert werden, können sich zwar gewisse Vorteile hinsichtlich Vermarktungssicherheit und Minimierung der Preisschwankungen ergeben – dafür haben sie aber das Nachsehen bei Preisgestaltung und Verhandlungsmacht. Die vertikale Integration erhöht die Macht der Handelsunternehmen, speziell in Bezug auf Preise. Denn wenn der Handel immer mehr Produkte der Eigenmarken herstellt, wird es für die Industrie immer schwieriger, ihre Artikel zu positionieren.
Nahrungsmittel kosteten im November 2023 ganze 26 Prozent mehr als im November 2021, ihre Preise sind seit März 2023 die Haupttreiber der Inflation. In den letzten Jahren verzeichneten die weltgrößten Konzerne der Lebensmittelindustrie mitunter in Deutschland die größten Gewinnsteigerungen. Mit ihrer Forschung zur »Verkäuferinflaton« löste die Ökonomin Isabella Weber 2022 eine internationale Debatte aus. Anfangs wurde sie dafür verlacht – doch inzwischen findet die Erklärung, dass die (Lebensmittel-)Inflation unter anderem in Europa maßgeblich von Marktstrukturen und dem Verhalten der marktbeherrschenden Akteure verursacht wird, immer mehr Unterstützung.
Sogar wirtschaftsliberale Institutionen, unter anderem der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Europäische Zentralbank (EZB), schreiben inzwischen Konzernprofiten eine wesentliche Rolle in der Teuerung im Agrar- und Ernährungssektor zu. Eine im Juni veröffentlichte Analyse des IWF kommt zu dem Ergebnis, dass Unternehmensprofite 2022 für 45 Prozent der Inflation im Euro-Raum verantwortlich waren und Unternehmen mehr als nur den Schock der gestiegenen Produktionskosten an Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben haben.
»Während die Dünger-und-Pestizid-Industrie satte Gewinne einstreicht, fressen die Kosten bei den Bäuerinnen und Bauern einen großen Teil der Erlöse.«
EZB-Chefin Christine Lagarde machte zusätzliche Konzerngewinne sogar für zwei Drittel der 2022 zu verzeichnenden Teuerung in Europa verantwortlich. Und das Frühjahrsgutachten der Europäischen Kommission unterstreicht ebenfalls die Rolle von steigenden Unternehmensprofiten in der Entwicklung der Inflation. Wegen fehlender Transparenz in der Lebensmittelpreisbildung lassen es die Daten aktuell nicht zu, die Gewinnmitnahmen in der Ernährungswirtschaft genauer zu verorten – doch die Hinweise auf Krisenprofite verdichten sich immer mehr.
Denn obwohl die Preise von Energie und Rohstoffen in den letzten zwei Jahren stark gestiegen sind, konnten Konzerne im Agrar- und Lebensmittelsektor ihre Umsätze und Gewinne meist konstant halten oder sogar steigern. Unternehmen sind nicht für die durch Pandemie und Ukraine-Krieg ausgelösten Schocks verantwortlich – aber manche haben durch ihre Preisgestaltung die Auswirkungen der Krisen und die Inflation massiv verstärkt. Die Last der Preiserhöhungen muss dagegen von den Reallöhnen der Menschen getragen werden, die vor allem in 2022 stark gesunken sind.
Eine Inflation ist immer auch Verteilungskampf – und am meisten betroffen sind die Menschen, die sowieso wenig haben. Über 17 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen oder bedroht, 40 Prozent der Bevölkerung besitzt kein nennenswertes Vermögen. Die Verluste dieser Menschen sind die Profite derjenigen, die die Spielregeln machen. Doch die anhaltend hohen Lebensmittelpreise in Deutschland und Europa sind kein Naturgesetz, dem wir ausgeliefert sind. Die Preise lassen sich stabilisieren, indem man zum Beispiel Marktmacht und Zufallsgewinne von Unternehmen reguliert und begrenzt.
Ein Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe kontrolliert weltweit mehr als 70 Prozent der Agrarflächen. Die massenhafte Privatisierung und Kapitalisierung von Land ist ein Trend, der seit Jahrzehnten andauert und unmittelbar die Lebensgrundlage von 2,5 Milliarden Menschen bedroht, die weltweit in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft tätig sind. Die Anhäufung von Reichtum geht dabei immer auch mit Ausbeutung und Enteignung einher.
Das britische Königshaus besitzt weltweit 6,6 Milliarden Hektar Land, Bill Gates ist der größte private Besitzer von Ackerland in den USA. In der gemeinsamen Agrarpolitik der EU ist ein Großteil der Subventionen immer noch an die Landfläche gebunden. Dadurch werden die Interessen großer Agrarkonzerne bevorzugt, mit verheerenden Konsequenzen für eine dezentrale, lokale Versorgung mit Lebensmitteln.
Eine europaweite Recherche unter anderem von Correktiv, WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung zeigt, dass deutsche Landwirtschaftsbetriebe, Landesbehörden und andere Subventionsempfänger zwischen 2014 und 2021 insgesamt rund 53 Milliarden Euro erhielten – wobei allein das oberste Prozent der Empfänger fast ein Viertel aller Subventionen bekam. Auch Riesen wie die Südzucker AG, Tönnies oder die Molkerei Friesland Campina haben in den letzten Jahren dutzende Millionen aus dem Agrar-Topf der EU erhalten. Die Südzucker AG findet man zum Beispiel unter den Top 100 der Empfänger in Deutschland. Das Unternehmen hat zwischen 2014 und 2021 mindestens sechs Millionen Euro aus Mitteln bezogen, die an die Anbaufläche gebunden sind.
Essenziell für die moderne, intensive Landwirtschaft sind außerdem Pestizide und Düngemittel. Der Weltmarkt für agrochemische Produkte betrug 2020 über 62 Billiarden US-Dollar, der des Düngemittelsektors wird auf 128 Billiarden US-Dollar geschätzt. Vier Konzerne – die Syngenta-Gruppe, Bayer, Corteva und BASF – teilten sich 2018 etwa 70 Prozent des globalen Pestizid-Marktes. Auf die zehn größten Kunstdüngerhersteller entfällt etwa 38 Prozent des weltweiten Absatzes – wenn man die Produktion einzelner Makronährstoffe betrachtet, ist der Konzentrationsgrad sogar noch höher.
Fünf der führenden Pestizidunternehmen dominieren zugleich den Weltmarkt für kommerzielles Saatgut. Schätzungen zufolge sind seit den 1990er Jahren rund 75 Prozent der pflanzengenetischen Vielfalt verloren gegangen, da landwirtschaftliche Betriebe dazu angehalten werden, eine kleine Zahl besonders ertragreicher Pflanzensorten anzubauen. Von den über 250.000 bisher bekannten Pflanzenarten auf der Erde sind etwa 30.000 essbar. 7.000 Pflanzenarten werden gegenwärtig weltweit vom Menschen genutzt.
Doch trotz dieser enormen Vielfalt spielen für die heutige menschliche Ernährung nur rund zwanzig Arten eine größere Rolle – und etwa drei Viertel aller Lebensmittel stammen von nur noch zwölf Pflanzen- und fünf Tierarten. 2020 entfiel die Hälfte der weltweiten Produktion von Nutzpflanzen auf nur vier einzelne Kulturen (Zuckerrohr, Mais, Reis und Weizen) und in den letzten zwei Jahrzehnten fast 90 Prozent der weltweiten Produktion tierischer Lebensmittel auf Hühner, Schweine und Rinder.
Im Jahr 2022 – in dem der Krieg in der Ukraine Europa in eine erneute Krise stürzte – konnten die neun größten Düngemittelunternehmen der Welt ihren Umsatz beinahe verdoppeln und erreichten eine Profitmarge von durchschnittlich 36 Prozent. Die vier größten Pestizidhersteller waren ähnlich erfolgreich: Bayers Agrarsparte steigerte ihren Gewinn im Vergleich zu 2021 um 82 Prozent, die Marge von Bayer CropScience kletterte auf über 27 Prozent, Anfang 2023 wurden 2,3 Milliarden Euro an die Aktionärinnen und Aktionäre von Bayer ausgeschüttet. Der Bereich »Agricultural Solutions« bei BASF erzielte 2022 einen 71 Prozent höheren Gewinn als im Vorjahr und der Konzern schüttete 3 Milliarden Euro aus.
Aber wie kommt es zu diesen teils enormen Profitsteigerungen, wo die europäische Chemieindustrie doch massiv von Preissteigerungen bei Öl und Gas betroffen war und ist? Vor allem im ersten Halbjahr 2022 gab es einen extremen Preissprung bei (fossilen) Energieträgern. Doch die hohen Weltmarktpreise für Düngemittel und Pestizide sorgten dafür, dass die Unternehmen ihre Produktionskosten überkompensieren konnten.
Wohin nun mit dem ganzen Geld? Hersteller von agrochemischen Produkten investieren immer stärker in Ländern des Globalen Südens, wo ihre Geschäftspraktiken weniger streng reguliert werden. 25 bis 30 Prozent der in Brasilien am häufigsten verwendeten Pestizide werden zum Beispiel nicht in ihren Herkunftsländern, darunter auch Deutschland, verkauft – auch weil sie in der EU teilweise verboten sind. Während die Dünger-und-Pestizid-Industrie satte Gewinne einstreicht, fressen die Kosten bei den Bäuerinnen und Bauern einen großen Teil der Erlöse.
Der Einfluss von Konzernen auf die Governance der Ernährungssysteme ist zur neuen Normalität geworden. Im Oktober 2020 gaben die Welternährungsorganisation (FAO) und Crop Life International (der internationale Lobbyverband der Agrarchemie-, Pestizid- und Saatgutbranche) eine offizielle Partnerschaft bekannt. Die Zulassung des unter Krebsverdacht stehenden Herbizids Glyphosat, einem der meistverkauften Pestizidprodukte überhaupt, ist in der EU kürzlich um weitere zehn Jahre verlängert worden.
2021 zeigte der UN-Gipfel für Ernährungssysteme, wie weit multinationale Agrar- und Lebensmittelkonzerne in der Lage sind, Entscheidungen zu beeinflussen und scheinbar partizipative »Multi-Stakeholder-Prozesse« zu dominieren. Der Gipfel war als Gelegenheit angekündigt worden, »mutige neue Maßnahmen« zu erörtern, wurde jedoch gemeinsam mit dem Weltwirtschaftsforum entwickelt. Und so spielte es am Ende keine Rolle, wie Land in wenigen Händen konzentriert und die Umwelt zerstört wird. Ebenso wenig war die Rede davon, schädliche agrochemische Produkte zu verbieten, ungesunde Produkte zu besteuern oder die Marktdominanz einiger weniger Konzerne in zentralen Bereichen der Ernährungssysteme zu bekämpfen.
»Den Konzernen ist es gelungen, die Regierungen davon zu überzeugen, dass sie bei jeder Diskussion über die Zukunft der Ernährungssysteme unverzichtbar sind.«
Bei allen diesen Fragen handelt es sich um Machtkonflikte zwischen internationalen Konzernen und ausgebeuteten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen und Ländern, die unausgesprochen und zugunsten der ersteren entschieden wurden. Die ungerechten Machtverhältnisse infrage zu stellen, gehörte nicht zu den »mutigen Maßnahmen« – stattdessen setzte der Gipfel einseitig auf neue Technologien, die das Hungerproblem lösen sollen.
So spricht auch die aktuelle Abschlussvereinbarung der COP28 nur von der Umgestaltung des Lebensmittelsystems im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel, nicht dessen Eindämmung. Der Zusammenhang zwischen Lebensmittelsystemen und fossilen Brennstoffen wurde nicht anerkannt, genauso wie die Notwendigkeit, Subventionen für fossile Brennstoffe und schädliche Agrarsubventionen abzubauen.
Hinzu kommt, dass die Hersteller von hochverarbeiteten Lebensmitteln (ultra-processed foods, UPFs) seit den 1980er Jahren immer mehr Geld an ihre Anteilseigner überwiesen haben, und zwar wesentlich mehr als in anderen Lebensmittel- und Agrarsektoren. In den letzten Jahren haben große Hedgefonds wie BlackRock und Vanguard in ihrem Streben nach kurzfristiger Renditemaximierung erheblichen Einfluss auf die Unternehmensführung solcher UFPs-Hersteller genommen – dieselben Unternehmen, die behaupten, den Interessen mehrerer Stakeholder zu dienen und einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Eine aktuelle Studie zeigt dagegen, dass sie die finanziellen Interessen ihrer Aktionärinnen und Aktionäre gegenüber anderen Interessen in den Vordergrund gestellt haben. Große Vermögensverwalter wehren sich meistens gegen gesundheitsbezogene Vorschläge.
Marktmachtkonzentration ist zwar kein Problem, das sich auf den Lebensmittelsektor beschränkt. Die Zunahme von »Fusionen und Übernahmen« ist ein zentrales Merkmal der neoliberalen Wirtschaft – und wir befinden uns an einem Punkt der Marktkonzentration, den wir so noch nie zuvor erlebt haben. Von über 7.000 geplanten Unternehmensfusionen, die der Europäischen Kommission zwischen 1990 und 2019 gemeldet wurden, hat diese lediglich dreißig blockiert.
2016 erlaubte der ehemalige SPD-Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel trotz Veto des Bundeskartellamts die Fusion von Kaiser’s Tengelmann und Edeka. Auch wenn der deutsche Lebensmittelhandel für das Bundeskartellamt ein »problematischer Markt« ist, fand die Behörde bis jetzt keine ausreichenden Gründe, um aktiv zu werden.
In den vergangenen Jahrzehnten ist es den Konzernen gelungen, die Regierungen davon zu überzeugen, dass sie bei jeder Diskussion über die Zukunft der Ernährungssysteme unverzichtbar sind. Unternehmen werden in die Entscheidungsfindung einbezogen, sie stellen sich selbst als Teil der Lösung dar und werden als solche anerkannt. Das naive oder gewollte Ignorieren der Machtfrage erlaubt es den Konzernen, ihren Einfluss auszuweiten – Märkte zu gestalten, Technologie- und Innovationsagenden zu prägen und Politik zu lenken. Ernährungssysteme sind weiterhin und zunehmend von privaten Interessen geprägt. Und das ausgerechnet in einer Zeit beispielloser Bedrohungen für die Ernährungssicherheit von Milliarden von Menschen, in der das öffentliche Interesse mehr denn je eindeutig im Mittelpunkt stehen sollte.
Um diesem Anspruch der Menschen entgegenzukommen, müssen Staaten eine stärkere und umfassendere Wettbewerbspolitik betreiben. Angesichts der Machtkonzentration im Ernährungssektor brauchen Regierungen sektorspezifische wettbewerbspolitische Ansätze, um die Spielregeln festzulegen, bevor es zu wettbewerbswidrigem Verhalten kommt. Und sie brauchen auch wirksamere Instrumente, um Ernährungssysteme vor den Finanzmärkten und systemischen Großanlegern zu schützen, riesige Konzerne zu zerschlagen oder einzelne Sektoren in öffentliches Eigentum zu überführen, Zufallsgewinne zu beschränken, die Finanzwirtschaft einzudämmen und Lobbying-Aktivitäten umfassend offenzulegen – beziehungsweise den Willen, bereits existierende Instrumente anzuwenden.
Es gibt zumindest eine leise Hoffnung auf eine Trendwende. Denn das Ausmaß der sozialen Ungleichheit lässt sich nicht mehr ignorieren und selbst Präsident Biden sagte 2021: »Wir haben jetzt vierzig Jahre lang das Experiment gemacht, riesige Unternehmen immer mehr Macht anhäufen zu lassen. […] Ich glaube, dieses Experiment ist gescheitert.« Außerdem ernannte er die Kartellrechtsexpertin Lina Khan zur Vorsitzenden der Federal Trade Commission. Doch auch diese kleinen Fortschritte könnten mit der US-Präsidentschaftswahl 2024 wieder abgeräumt werden.
Die Wettbewerbspolitik sollte auch als ein Instrument zur Unterstützung der makroökonomischen Stabilisierung in turbulenten Zeiten verstanden werden. Unternehmensentscheidungen sollten im Einklang mit dem öffentlichen Interesse und der makroökonomischen Stabilität gebracht werden. In Deutschland wurde 2023 das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verschärft. Das ist durchaus zu begrüßen, bleibt jedoch gemessen an den Herausforderungen weit zurück. Und ob die Ampel viel weiter gehen wird, steht angesichts der auf Dauer geschalteten Regierungskrise doch sehr infrage.
Silvia Monetti ist Politikwissenschaftlerin, arbeitet im Verbraucherschutz und promoviert zum Thema Ernährungspolitik und soziale Gerechtigkeit.