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29. Oktober 2020

Meine Mutter, die Leiharbeiterin

Meine Mutter kommt aus dem Osten. Studieren konnte sie nicht, also ging sie ihren eigenen Weg. Nach Jahren der Selbständigkeit ist sie wieder im Proletariat angekommen – als Leiharbeiterin für BMW.

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Foto: Paul Gäbler.

Meine Mutter hat sich noch nicht umgezogen, als sie die Tür öffnet. In ihrem königsblauen Arbeitsanzug steht sie vor mir, auf der Brust prangt das Logo der Bayerischen Motorenwerke. Gut sehe sie aus, sage ich. Seit meine Mutter den neuen Job angenommen hat, ist sie regelrecht aufgeblüht. Sie löste sich aus einer unglücklichen Beziehung, zog mit 57 Jahren in ihre erste eigene Wohnung und verkaufte ihr Auto. Jetzt sitzen wir am Rande Berlins auf ihrem Südbalkon, trinken Kaffee, die Katze schnurrt auf dem Schoß.

Meine Mutter gähnt. Die Frühschicht-Woche ist gerade vorbei, ab Sonntagabend muss sie wieder nachts ran. Die Umstellung im Schichtsystem falle ihr auch nach drei Jahren schwer. Fünf Tage die Woche steht sie im Werk und zieht mit der Hand feine Streifen auf die Motorradteile. Die Linien müssen dünn und gerade sein, aus einer Bewegung. Das gehe auf die Handgelenke, sagt sie. Ich frage, ob Honecker stolz auf sie gewesen wäre. Sie lacht und zündet sich eine Zigarette an. »Pah, der hat mich noch nie interessiert.«

Meine Mutter hat kein Abitur. Gute Noten konnten ihre mangelhafte sozialistische Gesinnung nicht ausgleichen. Stattdessen ging sie mit 16 von zu Hause fort und begann eine Ausbildung zur Porzellanmalerin in Meißen. Dort arbeitete sie im Akkord, in der Figurenmalerei. Im März 1989 reiste sie mit meinem Vater aus der DDR aus und malte in der Königlichen Porzellanmanufaktur Berlin weiter. Nach meiner Geburt wurde sie Heilpraktikerin, eröffnete ihre eigene Praxis und dekorierte sie mit früheren Zeichnungen. Doch nach zwanzig Jahren lief es nur noch schleppend. Die Entscheidung fiel ihr schwer, war aber unumgänglich – sie hängte ihren alten Job an den Nagel. Mit ihren früheren Kollegen hält sie weiterhin Kontakt, auch wenn sie sich gerade für einige Teile ihrer alten Kaste schämt – der von ihr lange mitbetreute E-Mail-Verteiler geht nun in Fake-News, Corona-Maßnahmen-Kritik und teilweise offenem Rechtsradikalismus unter. Esoterik war ihr schon immer zuwider.

Die Rentenlücke vor Augen begann sie, sich Gedanken um ihre Zukunft zu machen – und landete letztendlich bei einer Zeitarbeitsfirma. Die waren von ihrer Qualifikation begeistert und stellten ihr sogar gute Übernahmechancen in Aussicht. »Nach 18 Monaten spätestens«, sagte ihr die Beraterin. Das sei jetzt Gesetz.

Meine Mutter ist frustriert. Nach drei Jahren Leiharbeit und mehreren Gesprächen sei immer noch nicht abzusehen, ob sie übernommen werden könne. Die Zeitarbeitsfirmen hätten sie und ihre Kollegen nicht immer fair behandelt, sagt sie. Die letzten anderthalb Jahre hat sie in der Pulverbeschichtung verbracht. Das Werk schickt sie und ihre Kollegen immer wieder hin und her, je nach Bedarf. Kaum hat sie sich eingewöhnt, geht es wieder woanders hin. Diesmal zurück zu den Linierern. Da sei gerade das Chaos ausgebrochen, erzählt sie. Das Unternehmen habe gerade viel Geld für Linier-Roboter ausgegeben. Nun müsse die ganze Abteilung Überstunden schieben, um die qualitativ völlig mangelhaft linierten Teile zu retten. Manche Dinge bleiben eben Handarbeit, sagt sie.

»Aber schreib bitte nichts Schlechtes«, bittet sie mich mehrmals. Sie möchte nicht als Nörglerin wahrgenommen werden. Insgesamt sei sie ja auch zufrieden. Die Jahre als Freiberuflerin ohne ausreichende Einnahmen waren zäh und sie sei froh, dass es nun vorbei sei. »Endlich verdiene ich wieder mein eigenes Geld«, sagt sie. Ihre Unabhängigkeit war ihr immer wichtig und sie ist stolz darauf, in ihrem Alter noch einmal neu angefangen zu haben.

Die Krux der Leiharbeit

Leiharbeiterschaft hat in Deutschland einen schlechten Ruf, auch wenn die Idee durchaus sinnvoll ist. Um erhöhte Auftragslagen flexibel abzudecken, können Unternehmen externe Kräfte »ausleihen« – und müssten sie nach marktwirtschaftlicher Logik auch besser bezahlen, wie es beispielsweise in Frankreich der Fall ist. Mit den Agenda-Reformen von Rot-Grün etablierte sich in Deutschland aber eine andere Praxis: das konsequente Outsourcen von Teilen der Belegschaft. Davon profitiert besonders die Automobilindustrie. Rund ein Drittel ihrer Beschäftigten sind als Leih- oder Zeitarbeiter eingestellt. Sie kosten das Unternehmen weniger, sind dazu einfacher zu entlassen und durch ihre vertragliche Unsicherheit gefügiger als die Stammbelegschaft. Die Auftragslage sei aber weiterhin hoch, heißt es immer wieder, auch während der fortdauernden Coronakrise.

2017 stellte die SPD ihre Reform zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vor. Insbesondere »Kettenanstellungen« sollten zukünftig verhindert werden: Nach 18 Monaten in einem Betrieb muss dem Leiharbeitnehmer ein fester Vertrag angeboten werden, ab dem neunten Monat die Bezahlung gleich sein. Bereits damals gab es Kritik an den Neuerungen. Denn die meisten Leiharbeitsverhältnisse enden bereits vor dem dritten (48 Prozent) oder neunten Monat (24 Prozent). Die Gesetzesänderung ging also an über der Hälfte der Beschäftigen vorbei. Außerdem haben Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nahezu keine Interessensvertretung – und dann fiel ihnen auch noch die Gewerkschaft in den Rücken. Die IG-Metall hatte sich mit der Automobilindustrie arrangiert und einen Tarifvertrag ausgehandelt, der Kettenbeschäftigungen von bis zu 48 Monaten weiterhin möglich macht. Wie es aus dem Betriebsrat heißt, sei dies allerdings in guter Absicht geschehen. Sonst, so vermutet man, wäre für die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter schon nach 18 Monaten Schluss – so bliebe den Menschen wenigstens für vier Jahre eine gewisse Sicherheit.

Irgendwann einmal »dazugehören«

Meine Mutter hat Dreiviertel der Zeit hinter sich. Danach muss sie voraussichtlich drei Monate pausieren, wenn sie wieder eingestellt werden sollte. Fortdauernde Unsicherheit also. Beschweren will sie sich nicht. Sie verdiene Geld, habe dazu Glück mit ihrem Betriebsrat, wie sie erzählt. Vom ersten Tag an bekam sie denselben Stundenlohn und trug die gleiche Arbeitskleidung wie die Stammbelegschaft.

Der Leistungsdruck sei allerdings höher. Fest angestellte Mitarbeiter wären nahezu unkündbar, bekämen dazu mehr Urlaub und mehr Zulagen. Dass sie einmal dazugehören wird, daran glaube sie kaum mehr. In einem mehrstufigen Assessmentverfahren können sich Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter auf eine Festanstellung bewerben. Dafür müssen die Bewerberinnen und Bewerber alles Wichtige über Motorräder wissen und dazu verdeutlichen, wie sehr sie für das Unternehmen brennen. Erst kürzlich sei ein Kollege von ihr übernommen worden. Die Freude währte aber nicht lang. Da er sich als Neu-Angestellter in der Probezeit befand, wurde er wegen einer Lappalie gefeuert. Meine Mutter schnaubt. Ungerecht sei das, bei einem langjährigen Mitarbeiter nach bestandenem Assessmentverfahren noch auf eine neue Probezeit zu bestehen. Sie habe schon überlegt, vorerst Leiharbeiterin zu bleiben. Es ist an Ironie kaum zu überbieten, dass dieses unsichere Arbeitsverhältnis vermutlich die aktuell beste Variante darstellt.

Meine Mutter drückt ihre Zigarette aus. Mit den Kollegen verstehe sie sich gut, aber sie vermisse den intellektuellen Tiefgang. »Und die Musik, die die in der Nachtschicht immer anmachen. Das glaubst du nicht. Die sind ja so alt wie Du und hören Schlager. Ich höre dann Podcast mit Kopfhörern.«

Ein wenig eigenartig sei das schon, sage ich. Dass sie, eine Frau aus dem Osten, nun einen klassischen Malocher-Job mache. »Stimmt«, sagt sie. »Aber wie gesagt, ich will mich nicht beschweren. Ich hab’ meinen Traum zwanzig Jahre gelebt und davor auch. Jetzt sind andere Dinge wichtiger. Immer an den Fünf-Jahres-Plan denken!«