14. September 2024
Wie widersprüchlich das Demokratieverständnis des Bürgertums ist, zeigt sich an der Eigentumsfrage. In diesem Beitrag von 1955 erläutert der Sozialphilosoph Leo Kofler den klassengebundenen Charakter der bürgerlichen Demokratie und resümiert: Wirklich frei sind wir erst im Sozialismus.
Leo Kofler an seinem Schreibtisch in den 1960er Jahren.
Das moderne Bürgertum spricht zu Recht von seiner Demokratie, denn die moderne politische Demokratie ist strukturell an den Aufstieg dieses Bürgertums zur gesellschaftlichen Macht gekoppelt. Doch was einstmals als Idee umfassender Volkssouveränität erkämpft wurde, hat sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zur bloß politisch-formalen, liberalen Repräsentativdemokratie entfaltet und ist in Widerspruch geraten zu Formen von sozialer und gesellschaftlicher Freiheit.
Der deutsch-österreichische Gesellschaftstheoretiker und Sozialphilosoph Leo Kofler (1907–1995) hat dieses klassengebundene Wesen bürgerlicher Demokratie erstmals in seinem 1948 veröffentlichten Werk »Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft« umfassend dargestellt und kritisiert. Er verdeutlicht damit die immanente Widersprüchlichkeit bürgerlich-liberaler Freiheitsvorstellungen, deren immanente Schranken in ihrem affirmativen Verhältnis zum bürgerlich-kapitalistischen Privateigentum zu finden sind. Dies führte dazu, dass es die subalternen Klassen und Schichten waren, vor allem die sozialistische Arbeiterbewegung, ohne deren tatkräftige Unterstützung das Bürgertum seine politisch-liberale und privatrechtliche Demokratie nicht hätte erkämpfen können. Doch diese radikale Arbeiterbewegung versuchte schon bald, den Kampf für die politische Freiheit zu einem Kampf um die soziale, gesellschaftliche Demokratie für alle auszuweiten – zum Teil mit durchaus großem Erfolg, aufs Ganze gesehen allerdings erfolglos. Das frühbürgerliche Versprechen einer allseitigen Entfaltung der gesamten Menschheit ist entsprechend uneingelöst geblieben. Liberalismus und Demokratie sind auch heute noch nicht dasselbe.
Gleiches gilt jedoch auch für das Verhältnis von Sozialismus und Demokratie. Denn die Linken des 20. Jahrhunderts haben sich in ihren Hauptströmungen entweder auf die politisch-formale Freiheit zurückgezogen oder die Forderung nach sozialer Freiheit für wichtiger erachtet als die politische Demokratie. Sich auf die bürgerlich-liberale Freiheitsidee zu beschränken, bedeute allerdings, die sozialistische Freiheitsidee aufzugeben, argumentierte Kofler bereits vor sieben Jahrzehnten. Wird das Fortschrittliche und Positive der bürgerlichen Freiheitsidee dagegen übersehen, so führe das zu einer Ökonomisierung und Vulgarisierung des sozialistischen Freiheitsbegriffs und zu einem politisch-historischen Versagen dieser Linken. Erst wenn der Sozialismus die praktische Verwirklichung aller großen Menschheitsideale möglich mache, so Kofler, dürfen Sozialistinnen und Sozialisten hoffen, »jenen Glauben an ihn im Volke zu wecken, dessen das Volk im Kampf um seine Freiheit bedarf«.
Als Vermittler zwischen der alten, klassischen Arbeiterbewegung und dem Neomarxismus der Neuen Linken vertrat Leo Kofler eine originelle Mischung aus westlichem Marxismus und sozialistischem Humanismus. In dem soeben im Berliner Karl Dietz-Verlag veröffentlichten Sammelband »Interventionen. Kleine Schriften zur marxistischen Theorie und Praxis« hat Christoph Jünke zahlreiche, in ihrer großen Mehrheit hier erstmals in Buchform erscheinende Zeitungs- und Zeitschriftenartikel Koflers neu herausgegeben, die der politische Intellektuelle zwischen 1951 und 1987 zu Grundsatzfragen einer marxistischen Theorie und Praxis der deutschen Linken publiziert hat. Wir dokumentieren im Folgenden, mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Herausgeber, einen erstmals 1955 erschienenen Beitrag über das zwiespältige Verhältnis des Bürgertums zur Demokratie.
In seiner revolutionären Aufstiegszeit haben die großen Ideologen des Bürgertums stets unter Freiheit die Möglichkeit zur allseitigen Entwicklung und Wiederherstellung der Totalität der Persönlichkeit verstanden, die sich auf der Grundlage des Laisser-faire und der daraus entstehenden gesellschaftlichen Harmonie entfalten sollte. Beim heutigen Bürgertum ist von diesem einstigen Ideal sehr wenig zu spüren. Was übrig geblieben ist, ist ein leerer Konkurrenz-Individualismus, durchtränkt von einem pessimistisch-dekadenten Menschenbild, das der Vorstellung von Hobbes, die Menschen seien von Natur aus Raubtiere, die nur ihr eigenes Interesse verfolgen, wieder recht nahekommt. Das Bürgertum pflegt von seiner Demokratie zu sprechen. Bis zu einem gewissen Grade mit gutem Recht, denn die konkreten Formen des heutigen demokratischen Lebens beweisen weitgehend die bürgerliche Einseitigkeit und in gewissem Sinne die undemokratische Äußerungsweise dieser selben Demokratie. Aber von einer anderen Seite besehen, hat das Bürgertum unrecht, von seiner Demokratie zu sprechen, denn diese ist zwar ein gesellschaftliches Produkt der bürgerlich-kapitalistischen Welt, jedoch nicht das Werk des Bürgertums, sondern das Werk der nachdrängenden unteren Klassen. Daran wollen wir mit einigen historischen Hinweisen »erinnern«.
Die Geschichte der Entstehung der bürgerlichen Demokratie ist von dem Widerspruch belastet, dass einerseits die Idee der Volkssouveränität auf die Fahnen der revolutionären Bourgeoisie geschrieben wird, andererseits aber dieselbe Bourgeoisie ständig erklärt, die Volkssouveränität sei nicht als die Souveränität des ganzen Volkes aufzufassen, sondern nur als die Souveränität der Besitzenden. Im »Kommunistischen Manifest« drückt das Marx so aus, dass er sagt, für die Bourgeoisie ist die Person der Eigentümer. Nach der Auffassung, die dieser Gleichsetzung im bürgerlichen Bewusstsein zugrunde liegt, ist der Eigentumslose im letzten Sinne nicht Person, deshalb auch nicht vollwertiges Rechtssubjekt und des vollen Gebrauchs der Freiheitsrechte nicht fähig. John Locke zum Beispiel bemerkt in seinen »Zwei Versuchen«, dass die Eigentumslosen als nicht zur Gesellschaft gehörig anzusehen sind. Ganz ähnlich argumentiert Cromwell in seiner Diskussion mit den Soldatenräten. Er erklärt, dass den Besitzlosen nicht das Wahlrecht gewährt werden könne, weil sie kein Interesse am Staate hätten. Mit einer ganz ähnlichen Begründung wird in der ersten Nationalversammlung der großen Französischen Revolution von einem Anhänger der physiokratischen Anschauung, Pierre Samuel du Pont de Nemours, also einem konsequenten Vertreter der bürgerlichen Gesellschaftsauffassung, der Antrag gestellt, den Besitzlosen nicht das Wahlrecht zu gewähren, weil sie »nicht zur Gesellschaft« gehören. Selbst in der zweiten, radikaleren Fassung des »Volksvertrages« von John Lilburn (Führer der Leveller in der großen englischen Revolution), in der zum ersten Mal ein Programm der bürgerlichen Demokratie aufgestellt worden ist, wird den Besitzlosen das Wahlrecht entzogen. Bis zu Kant und dessen Schüler Theodor Schön und selbstverständlich darüber hinaus wird dieser Standpunkt der Nichtzulassung der Besitzlosen zum vollen Genuss der bürgerlichen Freiheitsrechte von den bürgerlichen Ideologen beibehalten.
Das Bild ist heute gerade umgekehrt. Während in den früheren Jahrhunderten der humanistische Glaube an die künftige Entwicklung der Gesellschaft zu einem harmonischen Zustande und die damit verbundene Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit aller Gesellschaftsmitglieder noch einherging mit einem tiefen Misstrauen gegen den Eigentumslosen (zum Beispiel schon bei John Milton, der gleichfalls das Wahlrecht beschränkt sehen wollte), geht in der Zeit der stabilisierten demokratischen Herrschaft der Bourgeoisie ein tiefer menschenfeindlicher Pessimismus Hand in Hand mit dem auf Erfahrung beruhenden Wissen, dass die bürgerlich-demokratischen Herrschaftsmethoden vollauf ausreichen, um dem Wahlrecht, das man den Volksmassen gewährt, die revolutionäre Spitze abzubrechen, also Hand in Hand mit einem reaktionären Vertrauen zu den Besitzlosen.
Die Durchbrechung der Volkssouveränitätsidee, also der programmatischen Grundidee der bürgerlichen Demokratie, durch die alten revolutionären Vorkämpfer der bürgerlichen Demokratie hat man mit der Furcht zu erklären versucht, die unwissenden und vielfach im Dienste des feudalen Adels stehenden Knechte, Diener und Arbeiter würden ihren Herren die Stimme geben. Aber gegen diese Auffassung, die nur ein Hereinfallen auf die Argumente und Ausreden der Ideologen der Vergangenheit ist, spricht dreierlei.
Erstens: Dieses Argument wird keineswegs immer und nicht einmal in der Mehrzahl der Fälle gebraucht. Vielmehr wird vielfach offen von der Unfähigkeit des Besitzlosen gesprochen, sein Interesse der Gesellschaft, die stets als eine Gesellschaft der »Eigentümer« aufgefasst wird, zu unterwerfen.
Zweitens: Es fällt auf, dass man niemals daran denkt, etwa jenen, die man in offenen Feldschlachten bekämpft und die man zu Hunderten auf das Schafott schickt, nämlich den Adligen, das Wahlrecht zu entziehen. Wir haben hier einen Beweis dafür, dass der Besitzende immer als des Gebrauchs der Freiheitsrechte fähig beurteilt wird, vorausgesetzt, dass er sich gegen diese Freiheitsrechte selbst nicht stellt. Der Adlige also, der sich der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Gesetzen unterwirft, ist Besitzender, Person, Staatsbürger wie jeder andere, der Besitz hat, daher von vornherein zum Gebrauch des Wahlrechts fähig.
Drittens: Selbst zu einer Zeit, als längst bewiesen war, dass die Volksmassen revolutionär gesinnt sind, und als dann die feudale Reaktion keine ernste Gefahr mehr darstellte, hat die Bourgeoisie sich geweigert, die Besitzlosen zum Wahlrecht zuzulassen. 1793 waren es die Volksmassen unter der Führung proletarischer Elemente gewesen, die die demokratische Verfassung erzwungen hatten, in der ausnahmslos allen das Recht zu wählen gegeben wurde. Es stand von diesem Augenblick an fest, dass das Volk ebenso antifeudal gesinnt ist, wie die Bourgeoisie. Aber 1794, nach dem Sturze Robespierres, war es dieselbe Bourgeoisie, die den Besitzlosen das Wahlrecht wieder entzog.
Demgegenüber pflegt man sich auf England und seine »liberalen« Wahlreformen zu berufen. Es sei dies, sagt man, das England der alten freiheitlichen Traditionen, der altehrwürdigen parlamentarischen Regierungsform und der Habeas-Corpus-Akte. Es ist aber auch das England, unter dessen parlamentarischer Regierungsform das größte Bauernlegen der neuzeitlichen Geschichte, das selbst das preußische in den Schatten stellt, stattgefunden hat (die »Enclosures«, die Einhegungen des 18. Jahrhunderts, die Marx als »parlamentarischen Raub« bezeichnet). Im Übrigen waren die englischen Parlamente durchwegs feudaler als die französischen Etats Généreaux, in denen das Bürgertum für sich beriet, während in England der Ritter-Adel dem Bürgertum zugesellt war und (wie alle ehrlichen Historiker von Hatschek bis Trevelyan zugeben) es immer verstand, seine feudalen Belange durchzusetzen. Wir können in diesem Rahmen nicht den Nachweis führen, dass es mit den übrigen »freiheitlichen« Einrichtungen und Dokumenten Englands (Mapualharta, Common Law, Selbstverwaltung usw.) ebenso bestellt war. Nur über die Habeas-Corpus-Akte sei ein Wort gesagt, weil ihr Schicksal beweist, wie wenig man zu einer Zeit, als das Bürgertum schon ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hatte, geneigt war, das in diesem Dokument verwirklichte Stück demokratischer Volkssouveränität ernst zu nehmen. Schon zwischen 1688 und 1723 hatte man die Habeas-Corpus-Akte nicht weniger als siebenmal aufgehoben. Das war jedoch noch eine »mittelalterliche« Zeit. Aber selbst als die englische Gesellschaft so weit entwickelt war, dass die ersten Schritte zur bürgerlichen Demokratie gemacht werden konnten, hat der jüngere Pitt, der gewiss nicht als ein Vertreter des Feudalismus betrachtet werden kann, sie im Jahre 1794 suspendiert, und dieser Zustand währte bis 1802. Eine weitere Suspendierung erfolgte 1817 bis 1818, gefolgt von den berüchtigten Ausnahme- und Verfolgungsgesetzen von 1819. Der Grund lag stets in der Furcht vor der Wahlrechtsbewegung, der Demokratie.
Und die berühmten »liberalen« Wahlreformen Englands im 19. Jahrhundert? Um es kurz zu sagen: Selbst da, wo sie eine äußerst gemäßigte und das heißt in undemokratischer Weise gegen das Volk gerichtete Form annahmen, musste die Volksbewegung kräftig nachhelfen, so sehr fürchtete sich die liberale Bourgeoisie vor einer allzu großen Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten. 1794, 1815 und zur Zeit des Chartismus, der in den zwanziger Jahren seinen radikalen Höhepunkt erlebt, haben wir Höhepunkte des Kampfes für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Hier überall ist nicht etwa das »liberale« Bürgertum führend, sondern proletarische und kleinbürgerliche Elemente. Als infolge der Julirevolution in Frankreich und der belgischen Revolution von 1830 das reaktionäre Ministerium Wellington gestürzt wird, bequemt sich die Bourgeoisie in ihrem eigenen Interesse zu einer Wahlreform, die allem ins Gesicht schlägt, was unter dem Begriff der Volkssouveränität verstanden wurde. Die Wahlreform von 1832 ist eine Reform unter vollem Ausschluss der Besitzlosen. Dabei sind es wieder diese Besitzlosen, die durch eine Straßenbewegung (besonders in Bristol und Manchester) den Widerstand des Oberhauses gegen die Wahlreform brechen. Die zweite Wahlreform von 1867, die von Gladstone in einer sehr gemäßigten Form geplant war, wurde den Besitzlosen infolge der reaktionären Ängstlichkeit der Liberalen geschickt aus der Hand genommen und vom konservativen Disraeli durchgeführt. Aber auch sie ist, obwohl Disraeli weit über die Vorschläge Gladstones hinausgeht, noch wesentlich undemokratisch. Von da ab (1884) geht es besser, denn das Proletariat zeigt immer mehr Anzeichen dafür, dass es den Glauben an seine eigene Kraft verloren hat und sich zum bürgerlichen Liberalismus hinwendet. 1864 spricht Marx in der Inauguraladresse von der Entartung der englischen Arbeiterschaft. 1868 endet die Unterhaus-Wahl mit einer völligen Niederlage der Arbeiterkandidaten. Die Bourgeoisie erkennt, dass es möglich, klüger und leichter ist, sich mithilfe der Volksmassen als gegen sie an der Herrschaft zu halten. Sie macht die Erfahrung, dass eine relative Monopolisierung der öffentlichen Einrichtungen ein weitaus zuverlässigeres Herrschaftsmittel darstellt als die bloße Gewalt.
Aber ungeachtet der Widersprüche, von denen die Ideologie und Praxis des revolutionären bürgerlichen Humanismus durchzogen ist, wird der Historiker angesichts der völligen Dekadenz der heutigen bürgerlichen Ideologie nicht umhinkönnen, von jenem großen Menschheitsideal, das trotz aller Gehemmtheit dem alten bürgerlich-humanistischen Denken vorschwebte, mit Achtung zu sprechen. Und noch viel mehr: Sofern die Ideale der großen bürgerlichen Ideologen Ideale der Freiheit waren, bilden sie auf einer höheren und wissenschaftlich begründeten Grundlage ein wichtiges Element, an das der Sozialismus, wenn auch nicht unkritisch, weiterbauend anknüpfen kann. Das Übersehen des positiven Elements in der bürgerlich-fortschrittlichen Freiheitsidee birgt die Gefahr der Ökonomisierung und Vulgarisierung des sozialistischen Freiheitsbegriffs in sich. Ihr zu begegnen, muss eine der Hauptaufgaben der sozialistischen theoretischen Arbeit sein. Erst wenn es gelingt zu beweisen, dass der Sozialismus die Verwirklichung aller großen Menschheitsideale möglich macht, erst dann dürfen wir hoffen, jenen Glauben an ihn im Volke zu wecken, dessen das Volk im Kampf um seine Freiheit bedarf.