21. Dezember 2021
Leo Kofler kennt heute kaum jemand. Doch sein Werk ist so originell wie aktuell. Als früher Kritiker der Frankfurter Schule erkannte er: Eine Linke, die die arbeitende Mehrheit entfremdet, ist machtlos.
Leo Kofler in den 1970er Jahren.
Auch wenn der Philosoph Ernst Bloch ihn als einen direkten Fortsetzer von Georg Lukács’ bahnbrechendem Klassiker Geschichte und Klassenbewusstsein lobte, so hatte Leo Kofler mit seinen mehr als dreißig Büchern und Broschüren schon zu Lebzeiten in der Regel wenig Glück. Das mythische Jahr 1968 war fast vorüber, da erschien seine Programmschrift Perspektiven des revolutionären Humanismus im renommierten Hamburger Rowohlt Verlag. Doch die in ihrem Zenit stehende außerparlamentarische Opposition konnte mit seinem politisch-theoretischen Pamphlet offensichtlich nur wenig anfangen, denn niemand sollte sich fortan auf dasselbe beziehen oder sich nennenswert mit ihm auseinandersetzen. Rezeptionsspuren sucht man vergeblich, sieht man von einer Handvoll von eher distanziert-kritischen Rezensionen im zeitgenössischen bürgerlichen Feuilleton ab.
Man mag dies der damaligen Flut gesellschaftskritischer Literatur anlasten, in der so vieles kaum beachtet bis auf weiteres verloren ging, oder jenem gelegentlich allzu verschachtelten Schreibstil Koflers, der sich von seinem mitreißenden Redestil unterschied. Man kann dies auch jenem Zug ins Altmodische anlasten, der Koflers Auftreten kennzeichnete und zu dem er sich immer wieder gern, in provokatorischer Absicht, bekannte. Doch mehr noch war dies das Produkt einer tief greifenden und weitreichenden Entfremdung zwischen den politischen Generationen.
Die junge, aufbegehrende Generation der 68er, zumal die deutsche, war nicht frei von Illusionen und Selbstüberschätzungen. Eine davon war, dass sie sich als wirklich neu betrachtete, während sie doch in einer Tradition des Aufbegehrens gegen sozialdemokratischen Reformismus einerseits und kommunistischen Stalinismus andererseits stand, die zu vergegenwärtigen ihr offensichtlich schwerfiel. Lässt man die ersten vereinzelten Vorläufer der 1930er und 40er Jahre einmal beiseite, so begann die Geschichte der Neuen Linken in der Mitte der 50er Jahre – nicht nur, aber eben auch in Westdeutschland. Vom damaligen Anpassungs- und Integrationsweg der SPD enttäuschte und sich entsprechend radikalisierende Sozialdemokraten, mit der nachfaschistischen Restauration unzufriedene Demokraten und von der Entstalinisierung und dem befreiungsnationalistischen Aufbruch in der Dritten Welt beflügelte kommunistische Dissidenten bildeten schon damals, zusammen mit den seit den 1930er und 40er Jahren heimatlosen Linkssozialisten und Linkskommunisten, ein Netzwerkmilieu von Gruppe, Personen und Publikationsprojekten, die versuchten aus der binären Logik des Kalten Krieges zwischen den beiden damaligen Supermächten auszubrechen und sich auf den »Dritten Weg« machten – »zurück zu Marx«, wie es damals hieß.
Es waren viele Tausende, für die sozialdemokratische Dissidenten wie der ehemalige Gewerkschaftstheoretiker Viktor Agartz oder der junge Linkskatholik Theo Pirker, die Journalisten Gerhard Gleissberg und Fritz Lamm, oder der linkssozialistische Jurist Wolfgang Abendroth damals sprachen. Und es war Leo Kofler, der als sozusagen philosophischer »Wanderprediger« bei Volkshochschulen, Gewerkschafts- und Studentengruppen nicht wenige in die Grundlagen und Feinheiten einer undogmatischen marxistischen Theorie einführte, die die zerrissenen Fäden von Freiheit und Sozialismus neu knüpfte und die Themen und Thesen des Marxismus der 1960er Jahre in vielem vorwegnahm.
Mit seinen methodologischen Grundsatzwerken Die Wissenschaft von der Gesellschaft (1944) und Geschichte und Dialektik (1955) hatte Kofler schon in den 1940er Jahren eine Praxisphilosophie begründet, die für eine Erneuerung des marxistischen Denkens im Sinne des »westlichen Marxismus« plädierte – jenseits des vulgärmaterialistischen Marxismusverständnisses eines Karl Kautsky oder Josef Stalin. In seiner 1948 veröffentlichten Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft hatte er den historischen Wurzeln und Wegen von radikaler Demokratie und sozialistischen Freiheitsvorstellungen nachgespürt und, zu Beginn der 1950er Jahre, die im deutschsprachigen Raum erste systematische Ideologiekritik der stalinistischen Theorie und Praxis vorgelegt. Der »Marxismus-Leninismus«, so Kofler, neige aus strukturellen Gründen zu einem vulgärmaterialistischen und undialektischen – ja, geradezu antidialektischen – Marxismusverständnis, das zutiefst antihumanistisch sei, weil es die konkreten, zu emanzipierenden Menschen zu bloßen Anhängseln einer neuen, bürokratischen Herrschaftsschicht degradiere.
Der gesellschaftspolitische Aufbruch der ersten Generation Neuer Linker sollte allerdings auch im geteilten Deutschland scheitern. Mithilfe des verfassungsrechtlichen KPD-Verbots von 1956 und den Landesverratsprozessen gegen Wolfgang Harich in Ostdeutschland und Viktor Agartz in Westdeutschland (beide 1957) wurden das kommunistische und linkssozialistische Milieu nachhaltig ausgegrenzt und mehrfach gespalten. Die Niederlage dieser sozialistischen Linken bereitete den Boden auch für die 1959 (auf dem Bad Godesberger Parteitag) vollzogene Abkehr der Sozialdemokratie von jeglichem politisch-programmatischen Antikapitalismus. Und beides zusammen führte schließlich zu jener nachhaltigen Entfremdung zwischen den politischen Generationen, die wir auch in den europäischen Nachbarländern jener Zeit beobachten können, die aber nirgendwo einen solch nachhaltigen Bruch verursachte wie in Deutschland.
Dass das Scheitern dieser ersten Neuen Linken auch den Aufbruch der 1960er Jahre mit einer schweren Hypothek belastete, lässt sich an den politischen Diskussionen ebenso verfolgen wie an den theoretischen. Auch wenn die innovative Kraft der späteren 68er-Generation immer wieder beeindruckend ist, nicht selten wurde damals das Rad aufs Neue erfunden. Und was Wolfgang Abendroth seinen jungen Zuhörern während der Revolte diplomatisch beizubringen versuchte, drückte Leo Kofler um einiges unverblümter und schwerer zu verdauen aus. Auch ihm, dem Zaungast der Bewegung, ging es 1968 noch immer um ein welthistorisches »Neu Beginnen«. Und er hatte ein feines Gespür für das, was sich seit Mitte der 1960er Jahre entfalten sollte. Als er zu Beginn des Jahres 1966 die letzten Korrekturen und Aktualisierungen an der Neuauflage seiner monumentalen Schrift Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft anbrachte, formulierte er in sie hinein: »Eine Opposition, die auf eine Demokratisierung drängt, zeichnet sich im Volke und in der Intelligenz ab. Die Schicksalsfrage Deutschlands ist die, ob sie sich durchsetzen wird.«
Vergleichbar einem Herbert Marcuse war auch Leo Kofler mit Herz und Verstand ganz auf Seiten der jungen Generation. Anders als Marcuse jedoch war er zu sehr alter Linkssozialist, um sich zum schlichten Apologeten des antiautoritären Aufbruchs zu machen. In ätzend scharfem Ton, aber nicht selten treffsicherer Kritik nutzte er jede sich ihm bietende Möglichkeit zur innerlinken Auseinandersetzung, zum Kampf zweier Linien innerhalb dessen, was er seit einem Jahrzehnt die »progressive« oder »humanistische« Elite nannte. Seien es dissidente, gegen die Halbheiten der Entstalinisierung kämpfende Kommunisten oder oppositionelle, gegen Bürokratisierung und Integration kämpfende Sozialdemokraten und Gewerkschafter, seien es radikaldemokratische Bürger oder sozial engagierte Christen – sie alle würden unter den historisch neuartigen Bedingungen einer bürokratisch blockierten Arbeiterbewegung, gewollt oder ungewollt, zu einer eigenständigen politisch-soziologischen Schicht werden; zu einem eigenständigen, aber eigenartig gestaltlosen (amorphen) Gebilde, dass sich aus progressiven Elementen sozialistischer und nichtsozialistischer Herkunft zusammensetze, und in sozialer, politischer und kulturell-habitueller Hinsicht stark heterogene und fluktuierende Tendenzen aufweise.
Diese progressiv-humanistische Elite – Kofler meint diesen Begriff der Elite nicht wertend, sondern beschreibend – führe am Rande und in den Nischen der gesellschaftlichen Organisationen (in Parteien, Verbänden, kulturellen und religiösen Vereinigungen) eine Art Pariadasein zwischen allen Stühlen, stehe sozial und weltanschaulich quer zur traditionellen Front von Sozialismus und Nichtsozialismus, sei widerspruchsvoll und unbeständig, gesellschaftlich machtlos – »und doch ist sie da und nicht ohne Bedeutung«.
Eine wirkliche Erneuerung der sozialistischen Linken, eine »Gesundung des revolutionären Humanismus«, so Kofler, könne aber nur gelingen, wenn sich diese progressive Elite auf ihre humanistische Sensibilität besinne und sich zum Vermittler der alten und neuen Milieus mache. Und dies gelinge nur, wenn sich die ohnmächtige universitäre Linke (die »Welt hoch entwickelter Abstraktion«) mit der machtvollen Gewerkschaftsbewegung (mit jener »Welt des vulgären Praktizismus«, die sich »gegen den ›Stachel‹ des Klassenkampfes« stelle) auf neuer Grundlage wieder vereine. Doch »(d)ie beiden, ihrem Ursprung nach kritischen und oppositionellen Welten berühren einander kaum, sie gehen ihre eigenen Wege«, schreibt er 1968: »Die Konsequenz ist sturer Praktizismus hier und selbstgefälliger Intellektualismus dort, beide sich einander misstrauisch gleichsam durch Glaswände betrachtend, jedoch nicht beeinflussend.«
Das war nicht die einzige Zumutung für die Neuen Linken von 1968. Dass sich Kofler an den Theorien von Georg Lukács orientierte, vor allem an dessen ästhetischer Theorie, war für die Neo-Avantgardisten schon schlimm genug. Dass er zudem der Psychologie Freuds kritisch bis ablehnend gegenüberstand und die Kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno als »Marxo-Nihilisten« geradezu beschimpfte, machte ihn den Jüngeren ebenso suspekt wie sein geradezu penetrantes Insistieren auf jenem sozialistischen Humanismus, der die Hauptzielscheibe für den damals um sich greifenden theoretischen Anti-Humanismus strukturalistischer Provenienz abgab.
Vielleicht hat er ja der seit 1969 bereits wieder zerfallenden neuen Bewegung zu viel zugemutet. Doch das waren – und diese Originalität Koflers scheint doch weitgehend verkannt worden zu sein – die Zumutungen eines neu-linken Weggenossen, nicht die eines bürgerlichen oder kommunistischen Kritikers. Sein ehrgeiziger Versuch einer zu den Frankfurtern alternativen Sozialphilosophie hatte keine Chance bei der jungen Intellektuellengeneration. Auch der mögliche Vorwurf, dass Kofler den neuen Phänomenen des sozialstaatlichen Kapitalismus hilflos gegenübergestanden hätte, trifft sein Werk nicht. Als einer der ersten Marxisten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er die Widersprüche und Fallstricke des vermeintlichen Wohlstandskapitalismus bereits in den 1950ern tiefgehend analysiert.
Seine in den Schriften Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Nihilismus und Humanismus (1960), Der proletarische Bürger. Marxistischer oder ethischer Sozialismus? (1964), Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie (1967) und Perspektiven des revolutionären Humanismus (1968) durchgeführten Analysen richten den Blick auf die neuartigen Integrationsprozesse der spätbürgerlichen Klassengesellschaft. Kofler sah diese neokapitalistische Gesellschaft in eine Epoche der Entliberalisierung und der geistigen Demoralisation übergegangen, in der sie von ihren frühbürgerlichen Emanzipationsversprechen nichts mehr wissen wolle, ja geradezu »nihilistisch« geworden sei.
Die Welt, schrieb er bereits Ende der 1950er Jahre, »ist für das Bürgertum nur noch ›nützlich‹, profiterträglich, sonst ist sie leer und sinnlos geworden. Die übriggebliebene ›Freiheit‹ ist nicht mehr die Freiheit, Ideale zu verwirklichen und den Menschen zu erhöhen – wer dies noch will, wird verdächtig! –, sondern die Freiheit der Konkurrenz, des Urwalds. Im Grunde ist alles erreicht, es hat Geschichte gegeben, aber es gibt in Zukunft keine mehr«. Dieser sich zu einer Art zynisch-nihilistischem Weltschmerz verdichtende und ein pessimistisches Menschenbild zum Vorschein bringende gesellschaftliche Stillstand treibe sogar seine linken Widersacher Stück für Stück in einen theoretischen Anti-Humanismus, der sie von den Einzigen isoliere, die eine wirkliche Umwälzung der Gesellschaft vollführen können: von der breiten Mehrheit der arbeitenden und denkenden Menschen.
Zweifelsohne, so Kofler, habe der Neokapitalismus seinen Menschen einiges zu bieten: politische Freiheit, mehr Einkommen und Freizeit, mehr Sicherheit und weniger Tabus (auch sexueller Art). Doch gleichzeitig fesseln diese neuen Freiheiten und Möglichkeiten das Individuum mehr denn je an eine dem Prinzip nach irrationalistische Gesellschaftsform. Verschwunden sei zwar der Hunger, nicht jedoch der Mangel. Möglich sei der Konsum, aber nur mittels vorhergehender und ihm erneut folgender Askese: »Verzichten, um sich etwas leisten zu können, und sich etwas leisten mit der Konsequenz des nachfolgenden Verzichts gehört zu den selbstverständlichsten Verhaltensformen unserer Zeit.« Die scheinbare Entideologisierung erweise sich als totale Ideologisierung, der individuelle Rationalismus als Begleiterscheinung kollektiver Irrationalität, die Demokratie des Marktes als Verschleierung der Despotie von Fabrik und Büro.
Kofler schreibt hier eine Kritik bürgerlicher Freiheit im spätkapitalistischen Konsumkapitalismus, die die damals vorherrschenden ideologischen Fallstricke einer vermeintlich »verwalteten Welt«, einer »eindimensionalen Gesellschaft« oder gar eines »integralen Etatismus« vermeidet, ohne die diesen irreführenden Ideologemen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Erscheinungen zu ignorieren. Auch der sozialstaatlich gebändigte Nachkriegskapitalismus sei zuallererst eine Klassengesellschaft – eine antagonistische, von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Herrschaft geprägte Gesellschaftsform, in der die einen haben, was den anderen fehlt. Noch immer gebe es Herr und Knecht, bürgerliche Elite und lohnarbeitende Klasse, und noch immer habe der Konsens den Zwang nicht aufgehoben – was damals, in den 1960er und 70er Jahren nur Wenige sehen wollten. Heute jedoch ist auch dies offensichtlicher geworden. Kofler schrieb also, so altmodisch wie zukunftsweisend, von der Klassengesellschaft, in der wir alle leben. Und er reflektierte darüber, was dies für die Perspektiven der Emanzipation bedeutet.
Damit forderte er viele Strömungen der Linken ebenso heraus wie bestimmte Lesarten der damaligen Marx-Renaissance – eine Herausforderung, die weitgehend ohne Auseinandersetzung geblieben ist. Das gilt für Koflers Blick auf die Fragen der Sozialpsychologie, seine kritisch-produktive Auseinandersetzung mit Freudschen Psychoanalyse oder sein Plädoyer, die Theoriestränge eines Georg Lukács mit denen Herbert Marcuses zu einem neuen zeitgenössischen Marxismus zusammenzuführen.
Auch seine Kritik der in ihren beiden Hauptströmungen strukturell verbürokratisierten Arbeiterbewegung (also die Kritik der sich in den bürgerlichen Staat integrierenden und den Sozialismus aufgebenden Sozialdemokratie wie die Kritik der zu einer Entstalinisierung offensichtlich unfähigen sozialistischen Bürokratie der kommunistischen Bewegung) trug nicht gerade zu seiner Popularität bei. Noch weniger seine frühe Ideologiekritik der Frankfurter Schule, die Kofler bereits Mitte der 1960er, also ein Jahrzehnt vor Perry Andersons berühmter Kritik des »westlichen Marxismus«, ganz ähnlich ausformuliert hatte. Nicht zuletzt gilt dies aber auch für seinen Versuch, den »westlichen Marxismus« mit einem radikalen »sozialistischen Humanismus« auch konzeptionell zu verbinden – und dabei die erkenntniskritischen Grundlagen einer marxistischen philosophischen Anthropologie zu begründen.
Mit seiner Gesellschaftstheorie hatte auch Kofler an den frühbürgerlichen, radikaldemokratischen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität angeknüpft und diese gleichzeitig sowohl gegen die bürgerlich beschränkte, rein politische Form der Freiheit wie auch gegen die »realsozialistisch« beschränkte, bloß ökonomisch-sozial gefasste Freiheit gewendet. Das sozialistische Emanzipationsprojekt sei umfassend zu verstehen. Und oppositionelle Forderungen nach Freiheit, Fortschritt, Demokratie und Selbstverwirklichung, nach einer klassenlosen, gemeinwirtschaftlichen Gesellschaft und sich selbstverwirklichenden Individualitäten sind ohne die auch konzeptionelle Hinwendung zum Menschen, also ohne eine anthropologische Erkenntnistheorie in marxistischer Perspektive, nicht ausreichend zu begründen.
Wir Menschen sind, wie es Terry Eagleton einmal ausgedrückt hat, »kulturelle Wesen aufgrund unserer Natur, das heißt aufgrund der Beschaffenheit unserer Körper und der Beschaffenheit der Welt, zu der sie gehören«. Und wo die Menschen gleichsam zwischen Natur und Kultur stehen, wird die menschliche Natur durch die menschliche Kultur zwar verändert, aber nicht beseitigt. Dies war, vierzig Jahre vor Eagleton, auch Leo Koflers Auffassung und sie liegt im Kern begründet in seiner Ansicht, dass es gerade die menschliche Bewusstseinsbegabung ist, das menschliche Gehirn und die menschliche Kultur also, die seine Natur auszeichnen. Es liegt im Wesen dieser menschlichen Natur, dass sie auf den Mitmenschen und die mit ihm vermittelten Arbeits- und Tätigkeitsformen strukturell angewiesen ist. Und diese praktisch-tätige Arbeit und die ihn begleitenden sozialen Beziehungsweisen sind von kreativ-schöpferischer Natur.
Koflers oft missverstandene Grundlegung einer marxistisch-philosophischen Anthropologie versteht sich wörtlich als »Lehre von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderung«, als eine Form der Metatheorie und Hilfswissenschaft, die keine Anleitung zum Handeln sein will und kann, sondern »nur« aufzeigt, warum es überhaupt eine spezifisch menschliche Geschichte gab und weiter geben wird, warum die Veränderung der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich möglich, wenn auch nicht in seinen konkreten Inhalten vorherbestimmt ist.
Kofler gibt uns einen Maßstab an die Hand für das, was die Selbstverwirklichung des Menschen tatsächlich sein kann und damit auch für das, was eben keine Emanzipation ist. Welche praktische Bedeutung eine solche Diskussion um anthropologische Menschenbilder hat, wird vielleicht erste heute, nach den Erfahrungen mit dem auf einen strukturellen Sozialdarwinismus setzenden Neoliberalismus und im Angesicht des immer offensichtlicher zerrütteten ökologischen Verhältnisses von Mensch und Natur wie der zeitgenössischen Herausforderungen der in die menschliche Natur eingreifenden Bio- und Neurowissenschaften wirklich deutlich.
Christoph Jünke lebt und arbeitet als Historiker in Bochum. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. »Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995)« (VSA Verlag, 2007) sowie »Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Einführung« (Laika Verlag, 2015).
Christoph Jünke lebt und arbeitet als Historiker in Bochum. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. »Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995)« (VSA Verlag, 2007) sowie »Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Einführung« (Laika Verlag, 2015).