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04. Dezember 2025

Der Gebrauchswert der Liebe

Aufmerksamkeit und Zuneigung können gekauft und verkauft werden. Und doch gibt es etwas an der Liebe, das sich der Warenform entzieht.

»Es braucht Zeit und Nähe, um mit anderen in einen Flow zu kommen und sich einem Kreislauf des Gebens und Nehmens anzuschließen, ohne Kosten und Nutzen zu berechnen.«

»Es braucht Zeit und Nähe, um mit anderen in einen Flow zu kommen und sich einem Kreislauf des Gebens und Nehmens anzuschließen, ohne Kosten und Nutzen zu berechnen.«

Illustration: Kristina Wedel

Jedes Mal, wenn ich für längere Zeit nach Deutschland komme, kaufe ich mir eine Tasse. Dazu gehe ich in der Regel zum nächsten T.K. Maxx, wo ich mir für 4 Euro ein extra großes Gefäß für meinen Kräutertee kaufe. Die zierlichen europäischen Tassen, die ich in meinen möblierten Unterkünften vorfinde, fassen einfach nicht die Mengen, die ich brauche. Meine Kriterien sind einfach: Die Tasse muss groß und robust sein. Wie sie aussieht oder wer sie hergestellt hat, ist mir egal. In marxistischer Terminologie interessiert mich nur ihr Gebrauchswert.

Wenn ich hingegen schick oder modisch wirken wollte, könnte ich mir die Tasse »H deco rouge no. 1« von Hermès kaufen. Würde ich meinen Ingwertee aus diesem schönen Porzellangeschirr trinken, würde das vielleicht meinen sozialen Wert in den Augen anspruchsvoller Geschirrkenner erhöhen, aber der Gebrauchswert bliebe derselbe: Die Tasse fasst meinen Tee. Um im Vokabular des Marxismus zu bleiben: Die zusätzlichen 121 Euro, die ich theoretisch für die Hermès-Tasse bezahlen könnte, stellen die Differenz zwischen den Tauschwerten beider Tassen als Waren dar.

Wenn Marx den Unterschied zwischen Gebrauchs- und Tauschwert diskutiert, bezieht er sich auf materielle Objekte, die menschliche Wünsche und Bedürfnisse befriedigen und sich erst dann in Waren verwandeln, wenn sie auf einem Markt gehandelt werden. Im Jahr 1857 verwendete er das Beispiel von Weizen – dieser »besitzt denselben Gebrauchswert, ob er von Sklaven, Leibeignen oder freien Arbeitern gebaut werde. Er würde seinen Gebrauchswert nicht verlieren, wenn er vom Himmel herunterschneite. Wie verwandelt sich nun der Gebrauchswert in Ware? [Er wird zu einem] Träger des Tauschwerts.« Dem Kapitalismus als Wirtschaftssystem ist es also eigen, Dinge mit Gebrauchswert (die oft reichlich vorhanden und kostenlos sind) in Dinge mit Tauschwert umzuwandeln, das heißt knappe Waren, für die Menschen bezahlen müssen.

»Gefühle der sozialen Ausgrenzung verändern sogar die auditive Wahrnehmung: Ignorierte Personen erleben die Welt subjektiv als einen leiseren Ort.«

Obwohl Liebe kein materieller Gegenstand ist, hat sie dennoch einen Gebrauchswert, der außerhalb der sozialen Tauschbeziehungen existiert, die kapitalistische Gesellschaften beherrschen. Die meisten, wenn nicht sogar alle von uns haben Liebe gegeben und empfangen, oft beginnend als Kinder in unseren Familien, wo wir uns von den Menschen um uns herum umsorgt und bestätigt fühlten. Das Geben und Empfangen dieser lebenswichtigen Emotion ist für das menschliche Gedeihen ebenso wichtig wie Nahrung, Wasser und Unterkunft – und deshalb sollte sie in jedem politischen Programm für eine sozialistische Transformation einen prominenten Platz einnehmen. Wenn wir jedoch eine sozialistische Analyse und eine daraus folgende Politik der Liebe entwickeln wollen, müssen wir verstehen, wie unser derzeitiges Wirtschaftssystem uns die Zeit und Energie raubt, die notwendig sind, um diesen Grundbedürfnissen zu entsprechen.

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Kristen Ghodsee ist Professorin für Russland- und Osteuropastudien an der University of Pennsylvania und Autorin von zwölf Büchern, darunter Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben und Utopien für den Alltag: Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat.