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04. Dezember 2025

Wie wir das Lieben lernten und verlernen

Von der höfischen Gesellschaft zum sozialen Netzwerk: Die Fähigkeit, den Anderen, die Menschen oder die Freiheit zu lieben, musste einst errungen und muss heute verteidigt werden.

»Wer ein kalkulierender Akteur reinen Eigeninteresses ist, gelangt zu Freiheit, aber nicht zu Liebe oder Politik.«

»Wer ein kalkulierender Akteur reinen Eigeninteresses ist, gelangt zu Freiheit, aber nicht zu Liebe oder Politik.«

Illustration: Julia Specht

Sich zu verlieben, verliebt zu sein und von Sehnsucht und Verlangen zerrissen zu werden, sind historische, kulturelle und neurologische Zustände des Menschseins, die unsere Spezies seit Jahrtausenden bereichern. Heute jedoch werden sie durch die Medienökologie des zeitgenössischen Lebens verstümmelt. In den meisten (post-)industriellen kapitalistischen Gesellschaften sind junge Männer wütend auf junge Frauen. Gleichzeitig haben junge Frauen kein Verlangen mehr nach jungen Männern. Es ist in der Tat bemerkenswert, dass die Menschen die Idee des Eros überhaupt noch erkennen, so fremd ist dieses Konzept den Bewohnern des Internets geworden.

Die Liebe zum Anderen und die Liebe zu den Menschen sind zwei Formen des Seins, in denen die Liebende – ob individuell oder kollektiv – bereit ist, etwas von sich selbst für die Spezies, für den Anderen oder für die Zukunft zu opfern. Die sexuelle Revolution der 1960er Jahre überließ den Menschen einem privaten, libertären, aber nicht utopischen Schicksal: Wer ein kalkulierender Akteur reinen Eigeninteresses ist, gelangt zu Freiheit, aber nicht zu Liebe oder Politik. Die Liebende als Individuum kann jedoch zur Liebenden als politische Akteurin werden. Liebe lehrt uns, frei zu handeln – nicht aus Eigeninteresse, sondern für etwas, das außerhalb unserer selbst liegt (auch wenn Liebe ursprünglich immer auch auf Narzissmus beruht).

Die Liebende wird in einen Zustand gesteigerter Empfindsamkeit gegenüber der Welt versetzt: Die Schönheit des Anderen – körperlich, geistig oder politisch – erzeugt ein Gefühl der Transzendenz und Solidarität, das Familienbande zu sprengen vermag. Die traditionelle Charakterisierung des Liebenden als männliches Subjekt beraubte Frauen der Fähigkeit, selbst Liebende zu sein, und verdammte sie zur lähmenden Rolle der Geliebten. Als Frauen zu den handelnden Subjekten der Liebe wurden, erhielten beide Geschlechter Zugang zu Liebe in all ihren Facetten: Liebe zur Schönheit, Liebe zum abstrakten Prinzip der Freiheit, Liebe zu den Menschen, oder Liebe zum Kampf gegen Unterdrückung, die aus der Fähigkeit entsteht, sich der Leidenschaft hinzugeben.

Die Liebe als Erfahrung macht uns erschreckend verletzlich gegenüber den Freuden der erotischen Verbindung, die unser limbisches System und unseren Frontallappen aktivieren. Die Liebe zum Schwung eines Schlüsselbeins, zur Wölbung einer Hüfte, zur Kontur eines Kinns ist eine Sublimation der furchterregenden und erniedrigenden, zugleich aber wahnsinnig lustvollen Erfahrung des eigentlichen Geschlechtsakts. Nach der sexuellen Revolution hielten wir guten Sex für selbstverständlich, aber wie wir gesehen haben, ist es trotz der nie dagewesenen Verfügbarkeit von »Informationen« über die Biologie und Mechanismen von Sex immer noch außerordentlich schwierig, die Kombination von Sex und Liebe zu erzielen.

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Catherine Liu ist Professorin für Film- und Medienwissenschaft an der University of California Irvine und Autorin von »Die Tugendpächter: Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät«. Ihr neues Buch »Traumatized: the New Politics of Suffering« wird 2026 bei Verso Books erscheinen.