29. Juni 2022
Preissteigerungen lassen bei uns allen das Geld knapper werden. Anstatt für Entlastung zu sorgen, setzt Linder auf Sparzwang und Scholz auf eine Einmalzahlung. Das ist ökonomischer Unsinn.
Bleibt seinem Sparkurs treu: Finanzminister Christian Lindner, Berlin 24. März 2022.
Es ist mittlerweile schon der zweite Monat mit rasant steigenden Lebensmittelpreisen. Im Vergleich zum Juni letzten Jahres sind sie um 12,7 Prozent gestiegen. Im Mai waren es schon 11,1 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit aber nicht genug: Die gesamten Preissteigerungen bleiben auch im Juni mit 7,6 Prozent auf einem sehr hohen Niveau.
Längst überfällige weitere Entlastungen werden nun umso wichtiger. Schon die Auswertung der ersten beiden Entlastungspakete zeigte, dass die Ärmsten auf Kosten sitzen bleiben. Man kann es nicht oft genug sagen: Das ist eine politische Entscheidung. Es ist nicht einmal die Schuldenbremse, die weitere Entlastungen verhindert – denn die ist aufgrund der »außergewöhnlichen Notsituation« ausgesetzt. Daher wird zur Rechtfertigung der große Mythos heraufbeschworen, dass wirksame Entlastungen nicht tragbar wären, schließlich könne niemand wollen, dass unsere Enkelkinder dann die Schulden zurückzahlen müssen. Genauso unsinnig ist der Mythos, dass Austerität geboten sei, damit die Inflation nicht noch weiter steigt.
Rein technisch gesehen könnte die Regierung ohne Probleme ein drittes Entlastungspaket von der Rampe schieben. Wenn man die Steuern für Spitzenverdiener, Vermögende und Krisenprofiteure erhöhen würde, könnte man Entlastungen sogar trotz dieser freiwilligen wie unsinnigen Sparpolitik vornehmen. Das alles wurde aber im Koalitionsvertrag vorsorglich schon einmal weitestgehend ausgeschlossen. Dass sich die Umstände seitdem fundamental verändert haben, wird von der Ampel größtenteils ignoriert.
Doch selbst in den eigenen Reihen regt sich inzwischen teilweise Unmut darüber, dass selbst Rentnerinnen und Rentner in Armut auf den steigenden Energiepreisen sitzen bleiben. Daher kommen selbst aus Ampelkreisen fast wöchentlich neue Entlastungsvorschläge: ein sozial gestaffeltes Energiegeld, die Abschaffen der kalten Progression und seit neuestem nun auch eine steuerfreie Einmalzahlung.
Angesichts der steigenden Preise kündigte Scholz vor Wochen eine »konzertierte Aktion« Anfang Juli an. Er plädiert dafür, Maßnahmen zu finden, mit denen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber leben können. Das hat man in der Vergangenheit schon häufiger versucht – in der Regel ohne Erfolg. Olaf Scholz schwebt nun eine steuerfreie Einmalzahlung der Arbeitgeber an die Arbeitnehmer vor. Im Gegenzug sollen die Beschäftigten auf hohe Lohnforderungen verzichten. Das stieß prompt auf Widerspruch von beiden Seiten, die sich jeweils auf die Tarifautonomie berufen – wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen. Die entscheidende Frage ist, was mit dem Lohnwachstum passiert. Die Gefahr besteht, dass die Goldene Lohnregel – also eine Lohnsteigerung gemäß der Zielinflation und des Produktivitätswachstums – damit ausgehebelt wird. Bei kommenden Lohnverhandlungen müssten die Gewerkschaften dann umso mehr Prozente einfordern, um die bei der Einmalzahlung fehlende dauerhafte Erhöhung zu kompensieren.
Auch hinsichtlich der Verteilungswirkung ist die Forderung nach einer Einmalzahlung problematisch. Im Vergleich zu der Energiepreispauschale aus den ersten Entlastungspaketen wirkt diese Einmalzahlung weniger progressiv, da sie nicht der Steuer unterliegt. Hinzu kommt, dass nur 43 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter in Beschäftigungsverhältnissen mit Tarifbindung tätig sind. Es ist also alles andere als ausgemacht, dass alle diese Einmalzahlung erhalten. Je prekärer die Arbeit, desto geringer die Tarifbindung. Gerade deshalb dürften die Bedürftigsten am wenigsten davon haben.
Etliche Gewerkschaften sehen hier daher richtigerweise die Politik in der Pflicht. Mit der Einmalzahlung zieht sich Scholz nämlich geschickt aus der Verantwortung und nimmt die Wirtschaft in die Pflicht. Wie zu erwarten, blockiert auch Christian Lindner, der die Einmalzahlung für nicht finanzierbar hält, da Steuereinnahmen entfallen dürften. Seine Blockade muss erst gebrochen werden, damit überhaupt Spielraum für Entlastungen entsteht.
Die Drosselung der russischen Gaslieferungen haben zuletzt außerdem einen Vorgeschmack darauf geboten, was bevorstehen könnte, wenn Putin den Gashahn ganz abdreht. Das würde nicht nur die Gaspreise massiv in die Höhe treiben, sondern auch die Umwälzung der Kosten auf die Verbraucherinnen und Verbraucher um ein Vielfaches beschleunigen. Die kürzlich aktivierte zweite Stufe des für angespannte Situationen vorgesehenen Notfallplans Gas enthält nämlich die sogenannte Preisanpassungsklausel. Die erlaubt den Energieunternehmen trotz der laufenden langfristigen Verträge erheblich höhere Preise zu verlangen, und zwar unmittelbar. Die Klausel ist zwar zum Glück noch nicht in Kraft getreten. Dazu müsste die Bundesnetzagentur nämlich erst deutlich verringerte Gasimporte feststellen. Doch spätestens wenn Putin die Lieferungen einstellen sollte, würde dieser Fall aller Wahrscheinlichkeit nach wohl eintreten.
Um diese sozialpolitische Katastrophe zu verhindern, braucht es nun große Maßnahmen, die finanzielle Sicherheit gewährleisten und der Wirtschaft nicht unnötig schaden. Denn ins Unermessliche steigende Energiepreise sind nicht nur unsozial, sondern auch schlecht für die Wirtschaft, da die Bevölkerung das Geld entweder für Energie oder Lebensmittel ausgeben kann. Mit einem Gaspreisdeckel könnte man exorbitante Preissteigerungen vermeiden. Dabei sollte ein Basiskontingent zu einem sozialverträglichen Preis festgeschrieben werden, während alles, was über dieses Kontingent hinweg verbraucht wird, dem Marktpreis unterworfen wäre.
Dieses Modell schlugen im Frühjahr die Ökonomin Isabella Weber und der Ökonom Sebastian Dullien vor. Mit einer solchen umfassenden Maßnahme wären die aufwendig zusammengeschusterten Entlastungspakete größtenteils obsolet geworden, da die Entlastung direkt über den Verbrauch bzw. den Preis erfolgt. Hinzu kommt, dass man dadurch ebenso das Risiko einer Preis-Lohn-Spirale verringern könnte, so Weber und Dullien.
Das hätte aber schon vor Monaten passieren müssen. Daher braucht es jetzt kurzfristig auch zusätzliche Zuschüsse für die Ärmsten in der Gesellschaft, die unter den höheren Preisen besonders leiden. Außerdem ist zu bedenken, dass nicht nur die Energiepreise gewaltig anziehen, auch die Preise für Lebensmittel und Mobilität sind gestiegen, was nicht nur die Ärmsten, sondern die gesamte Gesellschaft belastet. Daher sollte die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel abgeschafft und das 9-Euro-Ticket mindestens verlängert, besser noch verstetigt werden. Das alles lehnt Christian Lindner bisher aber ab. Trotz ausgesetzter Schuldenbremse ist und bleibt er ein neoliberaler Sparminister.
Daneben muss natürlich auch alles getan werden, um einen Gasmangel zu verhindern. Zwar kommt eine Gemeinschaftsdiagnose führender Wirtschaftsinstitute zu dem Fazit, dass eine Gaslücke inzwischen nicht sehr wahrscheinlich ist, gleichzeitig warnt eine andere aktuelle Prognose davor, dass bei einem russischen Gasstop ein Wirtschaftseinbruch von bis zu 13 Prozent drohen könnte. Um das zu verhindern, muss die Klimawende auf allen Ebenen beschleunigt werden – von der Gebäudeisolierung bis hin zur Heizungsmodernisierung.
Am Ende bleibt die Frage: Kann Lindner bei den Entlastungen weiter blockieren und die Bevölkerung weiter verarmen lassen? Allem Anschein nach wird es so sein. So kündigte Gesundheitsminister Karl Lauterbach kürzlich schon einmal an, dass der Krankenkassenbeitrag steigen »muss«. Auch hier hat sich Lindner offensichtlich gegen einen genügenden Bundeszuschuss und eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze durchgesetzt. Nachdem die große Mehrheit zunächst indirekt durch steigende Preise und fehlende Entlastungen ärmer wurde, hat die Ampel nun auch vor, der breiten Bevölkerung ganz direkt das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Krisenprofiteure in der Energiebranche bleiben dank ihres Bodyguards Lindner von allem verschont. Klar ist: Fortschritt kann man nur gegen Christian Lindner durchsetzen.
Lukas Scholle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag für Finanzpolitik und betreibt den Podcast Wirtschaftsfragen.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.