14. Dezember 2023
Nichts wird besser werden, solange alle die Geschichte glauben, Schulden seien schlecht.
»Herr Lindner, Sie können über Nacht 100 Milliarden für die Bundeswehr bereitstellen, wieso nicht für die Sanierung der Schulen oder den Bau bezahlbaren Wohnungen?«
»Only Lindner could go to Kreditaufnahme« – so titelte ein Artikel im Freitag, als Christian Lindner im Winter 2021 sein Amt als Finanzminister antrat. Der Satz spielt auf die Redewendung »Only Nixon could go to China« an, soll heißen: Nur der antikommunistische Hardliner unter den US-Präsidenten war in der Lage, die diplomatischen Beziehungen zu Maos China zu entspannen. Der Koalitionsvertrag der Ampel machte Hoffnung, dass nun ausgerechnet Lindner mit dem Spardiktat aufräumen könnte.
Zwar sollte die Schuldenbremse für den Bundeshaushalt ab 2023 wieder gelten, jedoch versprach man auch erlaubte Kreditaufnahme im Rahmen der Schuldenbremse für die Deutsche Bahn, die Aktienrente und die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA), lockerte die Regeln für Nebenhaushalte und setzte nach langem Zerren für 2022 die Schuldenbremse aus.
Alle drei Maßnahmen hatten es in sich, da sie potenziell unlimitierten finanziellen Spielraum bedeuteten. Die finanziellen Transaktionen für Bahn und BImA konnten ebenso gut eine Milliarde wie 100 Milliarden Euro schwer sein, genauso die Milliarden für den Staatsfonds. Denn für letztere wurde neu geregelt, dass sie Schulden auf Vorrat aufnehmen dürfen. Bedeutet: In den Jahren, wo die Schuldenbremse ausgesetzt ist, verschuldetet man sich, und in den Jahren, wenn die Schuldenbremse wieder gilt, kann man das Geld ausgeben. Dies wurde beim Klima- und Transformationsfonds sowie beim Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit hunderten Milliarden gemacht – bis das Konstrukt am Bundesverfassungsgericht scheiterte. Die These, dass die Ampel die Austeritätspolitik der Vorjahre beenden könnte, schien anfangs also durchaus begründet.
An der These, dass es manchmal die politische Gegenseite braucht, um weitreichende Forderungen der eigenen Seite umsetzen, ist durchaus etwas dran. Schließlich fehlt dann der politische Gegenwind aus der Opposition. Auch stehen die Regierenden nicht im Verdacht, aus ideologischer Vorliebe zu handeln, sondern scheinen sich einer Notwendigkeit zu beugen, was die Sache in den Augen vieler gleich viel legitimer macht.
Nach dem Muster könnte man etwa auch sagen: »Only Schröder could go to Sozialstaatszerstörung.« In der Ausschließlichkeit des »Nur« ist diese Formel jedoch absurd, schließlich haben auch Konservative die neoliberalen Reformen mit und führend umgesetzt, man denke an Helmut Kohls ökonomische Schocktherapie für den Osten oder seine Privatisierungswelle. Gleichzeitig würde die Regel, nur Lindner könnte Schulden machen, ja bedeuten, dass die politische Linke nicht fähig wäre, selbst politischen Fortschritt umzusetzen.
»Es ist nichts davon zu sehen, dass Lindner besser Kredite aufnimmt, als es ein neoliberaler Sozialdemokrat auch könnte.«
In der Tat sieht es derzeit leider danach aus, dass die Linke den fiskalpolitischen Zielen der Gegenseite nachjagt. Anstatt das Schuldenregime grundsätzlich infrage zu stellen, wollen oftmals gerade Linke als sparsam erscheinen. Dabei übernehmen sie das Framing der Rechten, Schulden seien dringlichst zu vermeiden und alle Staatsausgaben müssten durch Steuereinnahmen gegenfinanziert sein. Solange sie von diesen Mythen nicht wegkommen, sieht es schlecht aus für sozialistische Politik.
Denn ohne Kreditaufnahme wird es weder möglich noch sinnvoll sein, etwa eine Jobgarantie zu finanzieren, die strukturell die Arbeiterklasse besserstellen würde, geschweige denn Vergesellschaftungen von Immobilien oder Unternehmen, was ein wirklicher Schritt hin zu einer sozialistischen Wirtschaft und Gesellschaft wäre. Die Schuldenbremse auszuhebeln, ist der eine große Schritt, der viele weitere Schritte einer Wirtschaftspolitik zugunsten der überwältigenden Mehrheit der Menschen ermöglicht. Solange mit diesem Dogma der Austerität nicht gebrochen wird – ob im Großen in Athen oder im Kleinen in Erfurt – kann es kaum ein Vorankommen geben.
Was stimmt: Tatsächlich wurden im Koalitionsvertrag etliche Türen geöffnet, die auf der technischen Ebene fortschrittlichere Finanzpolitik ermöglicht hätten. Und tatsächlich hat Lindner auch Schulden gemacht – etwa bei dem Energie- und den Transformationsfonds, aber auch bei den 100 Milliarden für die Aufrüstung oder den (weitgehend ungenutzten) 200 Milliarden für die Energiepreisbremsen. Doch während hier vor allem große Hausnummern ins Fenster gestellt werden, sind die realen Ausgaben bemerkenswert niedrig. Das sieht man daran, dass die staatlichen Finanzierungssalden Deutschlands geringer ausfallen als die der Eurozone und sogar weitaus geringer als die der USA. Dabei hätten die von der Ampel genutzten Instrumente auch das Doppelte oder Dreifache an Spielraum problemlos zugelassen.
Davon, dass Christian Lindner enorme Schulden gemacht hätte, die die Gegenseite nicht hätte machen können, kann also keine Rede sein. Auch Anfang der 2000er hat Deutschland unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Schulden in ähnlichem Umfang gemacht. Es ist nichts davon zu sehen, dass Lindner besser Kredite aufnimmt, als es ein neoliberaler Sozialdemokrat auch könnte.
Lindners Sparpolitik ging im Gegenteil so weit, dass sich die Schuldenquote Deutschlands seit 2020 sogar verringert hat und nun weit unter den Schuldenquoten anderer Länder der G7 liegt. Man kann ganz klar sagen: Mit ihrer Sparpolitik hat die Ampel Deutschland als einziges Industrieland 2023 in die Rezession geschickt – eine drohende Deindustrialisierung in energieintensiven Branchen gab es gleich mit dazu. Um die paar Prozentpunkte Rezession zu vermeiden, hätte es nur einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag mehr an Schulden gebraucht. Dann hätte man sich viele der wirtschaftspsychologischen Effekte gespart, die mit der Rezession einhergehen – etwa das Abnehmen der Konsum- und Geschäftssklimaindizes.
Die Ampel ist wirklich keine Schuldenkoalition. Das sieht man vor allem daran, dass sie die Vereinbarung, 2023 zur Schuldenbremse zurückzukehren, trotz Krieg und Krise einhalten wollte. Doch im Herbst 2023 stoppte das Bundesverfassungsgericht die Haushaltstricks der Bundesregierung – sie sind teilweise gleich mehrfach verfassungswidrig. Jetzt müssten die Milliarden aus dem Klima- und Transformationsfonds über den Bundeshaushalt abgewickelt werden. Dem stehen aber die Schuldenbremse in den kommenden Jahren und die Ampel-Blockade bei der Steuerpolitik im Weg. In der Folge wird aller Wahrscheinlichkeit nach entweder bei den Projekten des KTF oder beim Bundeshaushalt gekürzt werden. Dabei waren diese Milliarden an Schulden für die Nebenhaushalte sogar bereits verabredet, werden jetzt aber neu verhandelt.
Beim WSF müssen die Gelder nachträglich für 2023 legitimiert werden, sodass die Schuldenbremse gerissen wird. Effektiv wird sie wieder ausgesetzt – auch wenn Lindner dieses Wort tunlichst vermeidet. Denn damit ist einer der wichtigsten Punkte Lindners im Koalitionsvertrag gebrochen. Dass dies aber in allerletzter Minute passiert und immer neu über weitere Mittel verhandelt werden muss, zeigt: Das Austeritätsdogma ist lebendig wie eh und je.
»Es wäre uns schon aufgefallen, wenn die Ampel eine ganz andere Fiskalpolitik gemacht hätte, denn das hätte sich direkt positiv auf die Infrastruktur, den Geldbeutel und die Jobs ausgewirkt.«
Das beweisen auch die etlichen Kürzungen im Bundeshaushalt: minus 16 Prozent beim Bafög für Studierende, minus 77 Prozent für Jugendbildungsstätten, minus 12 Prozent für Wohlfahrtsverbände. Sogar vor besonders unsozialen Steuererhöhungen, etwa bei der Mehrwertsteuer auf Gas, Fernwärme und Gastronomiebesuche, schreckte die Ampel nicht zurück. All das geht sowohl zulasten der Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen, da sie diese Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können oder sich ihr Leben direkt verteuert. Aber auch indirekt, makroökonomisch, betrifft es sie: Weil ihr Leben teurer wird und ihr Staat spart, sinken die wirtschaftliche Auslastung, damit die Anzahl der Jobs und folglich auch die Löhne. Selbst die Vorzeigeprojekte der Ampel wie die Kindergrundsicherung oder das Bürgergeld verkümmern durch die Sparpolitik quasi zu bloßen Umbenennungen.
Es wäre uns schon aufgefallen, wenn die Ampel eine ganz andere Fiskalpolitik gemacht hätte, denn das hätte sich direkt positiv auf die Infrastruktur, den Geldbeutel und die Jobs ausgewirkt. Denn Sparpolitik ohne Vollbeschäftigung bedeutet auch: Es werden weniger Züge gebaut, der ÖPNV ist teuer und es gibt offene Stellen für Bahnfahrer.
Dass es anders geht, zeigt selbst US-Präsident Joe Biden. Er wirft zwar teilweise auch Großkonzernen Geld in den Rachen, aber durch das schiere Ausmaß der Programme und Entlastungen, die er auf den Weg gebracht hat, kurbelt er die Wirtschaft an. Das bringt die Arbeiterklasse in eine bessere Position, um höhere Löhne zu verhandeln. Die Ampel macht genau das Gegenteil. So sind laut OECD die Reallöhne in Deutschland im ersten Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 3,3 Prozent gefallen – in den USA nur um 0,7 Prozent.
Mal angenommen, es gäbe einen wirklichen politischen Kurswechsel, dann wäre das alles nichts wert, wenn eine linke Regierung nicht auch finanziellen Handlungsspielraum hätte. Diesen Handlungsspielraum gibt es jetzt auf Knopfdruck, wie die Ampel bei den 100 Milliarden für die Bundeswehr eindrucksvoll gezeigt hat.
Vollbeschäftigung, exzellente öffentliche Daseinsvorsorge und eine schnelle Klimawende sind nur mit mehr Schulden zu machen – aus praktischen, ökonomischen und politischen Gründen. Praktisch braucht es Schulden, weil Steuererhöhungen Monate brauchen, bis sie durch die Gesetzgebung durch sind, und Jahre, bis sie tatsächliche Einnahmen einbringen. Ökonomisch braucht es sie, weil sich irgendjemand in der Wirtschaft verschulden muss – ohne Minus auf der einen Seite gibt es kein Plus auf der anderen Seite.
Wenn sich Privathaushalte typischerweise nicht verschulden und Unternehmen auch nicht – wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war –, dann bleiben nur zwei Möglichkeiten: Der Staat nimmt Schulden auf oder die Volkswirtschaft macht Exportüberschüsse gegenüber dem Ausland. Mit solchen Exportüberschüssen gehen bekanntlich große Probleme einer – zum Beispiel wird der Globale Süden niederkonkurriert.
Bleibt also nur der Staat als Schuldner. Doch der ist in den Zeiten der Schwarzen Null auch zum Sparer geworden und nimmt nun mit der angezogenen Schuldenbremse viel zu zaghaft Kredite auf. An der Notwendigkeit, dass der Staat immer mehr Schulden machen muss, ändern auch etwas mehr Steuereinnahmen nichts. Denn besteuert der Staat nur zögerlich, ergibt das viel zu wenig Einnahmen, und besteuert er hart, gibt es keine dauerhaften Einnahmen.
Schulden zu machen, ist auch nicht weiter schlimm – solange zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens darf die Wirtschaft nicht voll ausgelastet sein. Das bedeutet, dass weitere reale Ressourcen zur Verfügung stehen – etwa Arbeitskraft, Boden oder Rohstoffe. Zweitens muss die Zentralbank den Staat direkt oder über Umwege finanzieren können – denken wir an die Bank of England, die die Staatsanleihen Großbritanniens mit neu erzeugtem Geld kauft, oder an die Europäische Zentralbank, die selbiges über den Umweg der Geschäftsbanken macht, die vorher dem deutschen Staat Anleihen abkaufen müssen. Sobald diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Regierung ohne weiteres Geld ausgeben.
Aber was ist mit den Zinsen, die der Staat auf seine Kredite zahlen muss? Ja, sie sind ein Problem – nämlich, weil sie zum Teil in die Taschen von Finanzinvestorinnen und Superreichen wandern. Für die Auslastung der realen Wirtschaft, die alleinig die staatlichen Ausgaben limitiert, sind sie aber nahezu irrelevant. Denn sie zirkulieren vor allem im Finanzwesen und machen die Reichen reicher. Das kann man aber ändern, indem man den Leitzins senkt oder stärker umverteilt. Oder man erlaubt der Zentralbank einfach, die Anleihen direkt vom Staat zu kaufen. Dann fließen die Zinszahlungen der Zentralbank zu und diese schüttet ihre Gewinne an die Nationalstaaten aus.
Auch politisch lassen sich viel stärkere Framings schaffen, wenn man mit der Angstmache vor Schulden aufhört, zum Beispiel: »Herr Lindner, Sie können über Nacht 100 Milliarden für die Bundeswehr bereitstellen, wieso nicht für die Sanierung der Schulen oder den Bau bezahlbaren Wohnungen?« Jede progressive Politikerin muss die Argumentationskette draufhaben: Wenn Lindner das Zentralkonto des Bundes bei der Bundesbank überzieht, also mehr Ausgaben tätigt als Steuern eintreffen, dann muss er regelbedingt dieses Minus ausgleichen. Dies tut er, indem er Staatsanleihen verkauft, die die Banken mit Zentralbankgeld kaufen. Der Steuerzahler hat damit so ziemlich gar nichts zu tun.
»Man muss jetzt die Schuldenbremse so weit aussetzen wie möglich, so weit umgehen wie möglich und so weit reformieren wie möglich.«
Wenn man hingegen fragt, warum nicht die Superreichen nicht dieses oder jenes finanzieren sollten, kommt Lindner einfach heraus: Die Superreichen haben gar keine Milliarden auf dem Konto und Deutschland sei ein Höchststeuerland. Das sind zwar eher irrsinnige Entgegnungen, doch sie verfangen in der Öffentlichkeit.
Natürlich sollte eine linke Regierung, auch wenn sie sich erlaubt, für ihre politischen Vorhaben Schulden zu machen, dennoch auch die Reichen hart besteuern und ihre Vermögenswerte vergesellschaften, wo das im öffentlichen Interesse liegt. Das sollte sie aber nicht zur Finanzierung tun, sondern zur Umverteilung und zur Steuerung der Produktionsmittel, die derzeit ihren Eigentümerinnen und Eigentümern Macht über Zehntausende Beschäftigte und Milliarden an Investitionen zulasten des Klimas, der Menschen und der Wirtschaft verleiht.
Auch wenn es kontraintuitiv erscheinen mag: Lautstark die Abschaffung der Schuldenbremse zu fordern, ist zwar gut, um das Thema zu politisieren. Doch für realistische Politik reicht es nicht, recht zu haben – ausschlaggebend ist, was man tatsächlich erreicht. Und es ist gesetzlich so gut wie unmöglich, die Schuldenbremse abzuschaffen, da dies eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und eine Mehrheit im Bundesrat benötigt. Es muss vielmehr darum gehen, sie real wirkungslos zu machen: so weit aussetzen wie möglich, so weit umgehen wie möglich und soweit reformieren wie möglich.
Ironischerweise wenden sich entgegen der gängigen Auffassung des wirtschaftsliberalen Mainstreams auch Teile des Kapitals gegen die Austeritätspolitik. So will etwa auch Michael Hüther, der Vorsitzende des Instituts der Deutschen Wirtschaft, die Schuldenbremse angehen – aber natürlich nicht im Sinne der großen Mehrheit der Menschen. Hüther möchte das Kapital in Deutschland durch fette und bedingungslose Subventionen für die Industrie nach innen und nach außen schützen. Auch Lindner selbst findet Schulden gar nicht so doof, etwa wenn der Staat auf einmal in Milliardenhöhe am Aktienmarkt spekulieren soll.
Die politische Linke sollte nicht auf das Framing der Gegenfinanzierung hereinfallen, sondern aufzeigen: Wenn der Wille für Ausgaben da ist, dann gibt es auch einen Weg. Bei dem Bundeswehr-Sondervermögen ging das schon vielfach schief. So hat man allzu häufig nicht kritisiert, dass das Geld für Aufrüstung verballert wurde und damit kluge Ingenieure und seltene Erden nicht stattdessen für die Klimawende eingesetzt werden. Stattdessen bemerkten einige Linke vermeintlich kritisch, es handle sich ja in Wirklichkeit nicht um ein Sondervermögen, sondern um Sonderschulden. Damit befand sich die linke Kritik auf einer Linie mit der fiskalkonservativen Kritik von AfD und Union.
Das Sondervermögen für die Bundeswehr ist ein Paradebeispiel dafür, dass man die Finanzierungsfrage getrost in den Hintergrund und das, wofür das Geld ausgegeben wird, in den Vordergrund stellen kann. Linke könnten mit derselben Selbstverständlichkeit die Investitionen durchsetzen, die es braucht, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen: Milliarden fürs Soziale, Milliarden fürs Klima und Milliarden für die Wirtschaft.
Lukas Scholle ist Ökonom und Kolumnist bei JACOBIN.