31. Mai 2022
Für dieses Jahr plant Finanzminister Lindner eine massive Neuverschuldung. Doch für die kommenden Jahre sieht er einen harten Sparkurs vor. Das muss schief gehen.
Will mit Sparkurs in die Zukunft: FDP-Finanzminister Christian Lindner, 20 Mai 2022.
Christian Lindner macht Schulden. Dieses Jahr sind im Haushalt rund 140 Milliarden Euro Schulden geplant sowie weitere 100 Milliarden für die Bundeswehr, die über einen Extrahaushalt finanziert werden sollen. Angesichts dessen scheint Lindner das Finanzministerium tatsächlich als »Ermöglichungsministerium« zu begreifen, wie er am Anfang der Legislatur versprach. Progressive bis konservative Politiker, Wissenschaftlerinnen und Medien haben Lindner daraufhin zum neuen Schuldenkönig auserkoren. Diese Darstellung ist genauso falsch wie Lindners Fiskalpolitik.
Natürlich stimmt es, dass unter Lindner Schulden gemacht werden. Das hat allerdings wenig mit Lindner selbst zu tun. Von den rund 140 Milliarden Schulden im Bundeshaushalt wurden 100 Milliarden schon von der Vorgängerregierung zur Bewältigung der Folgen der Coronapandemie eingeplant. Die restlichen 40 Milliarden sind für die soziale Abfederung der Folgen des Ukrainekriegs vorgesehen. Die 100 Milliarden Sondervermögen für die Aufrüstung sind wiederum Ergebnis der sicherheitspolitischen Zeitenwende. Christian Lindner hat also – abgesehen von dem Zweck des Sondervermögens – gute Argumente auf seiner Seite, die seine Erzählung stützen können. Wer in einer Krise, wie wir sie jetzt erleben, auf Sparkurs setzt, wäre wahnsinnig. Daher hat die FDP-Fraktion auch im Jahr 2020 für die Aussetzung der Schuldenbremse gestimmt.
Schon vor ihm haben Konservative und Wirtschaftsliberale in Krisenzeiten Schulden gemacht – und das werden sie auch in der Zukunft tun. An sich ist das nichts Besonderes und leuchtet jedem ein, der ein Mindestmaß an ökonomischem Grundverständnis mitbringt. Daher ist es völlig verkürzt, in Christian Linder einen Schuldenkönig zu sehen, bloß weil er in einem Krisenjahr Schulden macht – vor allem weil klar ist, dass Lindner zur Austerität zurück möchte.
Wenn Konservative dem neoliberalen Märchen verfallen und nun behaupten, Christian Lindner würde zu viele Schulden aufnehmen, dann ist das keine Überraschung. Aber wenn Progressive in die gleiche Kerbe der Gegenfinanzierung schlagen, ist das ärgerlich. Denn tatsächlich macht Lindner gar nicht genug Schulden.
Am deutlichsten sieht man das an den Entlastungspaketen. Es ist klar, dass Deutschland durch die Energiepreise insgesamt ärmer wird. Doch es ist eine politische Entscheidung, Geringverdiener und die untere Mittelschicht auf den Kosten sitzen zu lassen. Die Ampel könnte genauso gut weitere 20, 40 oder 60 Milliarden Euro Schulden über den Ukraine-Nachtragshaushalt machen und für eine adäquate Entlastung sorgen.
Da ab nächstem Jahr auch wieder die Schuldenbremse greifen wird, wäre auch eine Verschuldung auf Vorrat ratsam, sodass Spielräume in der Zukunft entstehen – ähnlich wie beim Energie- und Transformationsfonds. Genauso könnte man jetzt mehr Schulden machen und damit die große Mehrheit mehr entlasten als belasten. Praktisch nimmt man damit Entlastungen vorweg, weil später der Spielraum wieder eingeschränkt ist. Wenn die Regierung diese Spielräume nutzen würde, wäre nicht nur eine faire Entlastung möglich, sondern auch eine Beschleunigung der Energiewende – ob durch eine Verstetigung des 9-Euro-Tickets, ein staatliches Programm zur Klimasanierung oder auch ein Abschreibungsprogramm für Klimainvestitionen. Das alles wäre dieses Jahr problemlos umsetzbar, da die Schuldenbremse ausgesetzt ist.
Dass Geld nicht knapp ist, zeigt auch das Sondervermögen für die Bundeswehr. Die Voraussetzung dafür ist der politische Wille. Der Staat muss sich offensichtlich das von ihm geschaffene Geld nicht erst über Steuern von den Bürgern zurückholen. Genausowenig leiht er sich jetzt das Geld seiner Bürgerinnen. Lindner verkauft die Staatsanleihen an Banken, die diese mit neu geschaffenem Geld bezahlen. Dennoch gehen mit den Schulden Tilgungs- und Zinsverpflichtungen einher. Das wirft die Frage auf, ob das Sondervermögen die zukünftigen Spielräume einschränkt. Das kann es, muss es aber nicht.
Der Kürzungsdrucks kann hier entweder durch die Zinszahlungen oder die Tilgung entstehen. Da die Tilgung erst nach vollständiger Inanspruchnahme fällig wird, beginnen die Tilgungen erst viel später als die Zinszahlungen. Um den Druck durch Tilgungen zu vermeiden, könnte man einen Rest des Sondervermögens ungenutzt lassen. Bei vollständiger Ausgabe müsste hingegen weitgehend die Schuldenbremse sowie die Steuerpolitik reformiert werden. So ließe sich auch der marginale Kürzungsdruck der Zinszahlungen verhindern.
Wenn allerdings jemand mit einem Fetisch zum Abbau der Staatsschulden in die Regierung kommt, dann kann ein politisch forcierter Kürzungsdruck entstehen, indem das Sondervermögen ausgegeben wird und eine Reformierung der Schuldenbremse und der Steuerpolitik verschlafen wird. Das Problem wird aber erst die Nachfolgeregierung der Ampel haben, da die Ampel das Sondervermögen über mehrere Jahre hinweg ausgeben möchte.
All das gilt aber natürlich genauso für die Schulden in der Pandemie. Nicht die Schulden an sich sorgen für Kürzungsdruck, sondern die politischen Regeln und Rahmenbedingungen. In jedem Fall werden mit dem Sondervermögen reale Ressourcen massiv verschwendet.
Problematisch wird es im kommenden Jahr: Trotz Aussetzung der EU-Fiskalregeln möchte Christian Lindner zur Schuldenbremse zurück. Hinzu kommt, dass die Steuereinnahmen kaum wachsen. Die neue Steuerschätzung besagt, dass die Einnahmen zwischen 2023 und 2026 von 365,2 Milliarden auf 404,4 Milliarden steigen werden. Dieser nominale Anstieg wird aber kaum neue Spielräume eröffnen, da auch die Ausgaben automatisch steigen. Das bedeutet, dass sich die Neuverschuldung nach Plan von den 140 Milliarden im Jahr 2022 auf 7,5 Milliarden im Jahr 2023 reduziert. (Auch in den Folgejahren soll die Neuverschuldung im Rahmen der Schuldenbremse 2024 10,6 Milliarden, 2025 11,8 Milliarden und 2026 13,7 Milliarden betragen.)
Damit ist das Ende der progressivsten Projekte der Ampel bereits besiegelt. Ein »Jahrzehnt der Investitionen« sieht jedenfalls anders aus. Die Investitionen im Haushalt werden in den kommenden Jahren bei rund 51 Milliarden Euro stagnieren. Um dem entgegenzuwirken, hat die grüne Haushhaltsexpertin Jamila Schäfer angekündigt, dass ihre Partei weiterhin Druck machen werde, um die Schuldenbremse oder die Steuerpolitik zu reformieren. In beiden Fällen wären tatsächlich einige progressive Reformen vorstellbar, die auch gesichtswahrend für Christian Lindner sein könnten. So könnte man bei der Schuldenbremse die sogenannte Konjunkturkomponente der Schuldenbremse anpassen, sodass sie das tatsächliche Produktionspotenzial bemisst. Derzeit berechnet sich dieses Produktionspotenzial nämlich an der vergangenen Produktion, die aufgrund der Pandemie niedriger war und das reale Produktionspotenzial daher nur sehr schlecht abbildet. Diese Option wurde auch bereits im Koalitionsvertrag zur Überprüfung gestellt. Würde die Reform kommen, würde sich der haushälterische Spielraum um rund 25 Milliarden Euro vergrößern. Das ist ungefähr so viel wie alle Corona-Entlastungspakete zusammengenommen – und das jährlich.
Gleichzeitig gibt es auch steuerpolitische Hebel, die selbst mit Christian Lindner im Finanzministerium umsetzbar sein könnten. Das beträfe zum Beispiel die Entprivilegierung von Firmenerben bei der Erbschaftssteuer, das Schließen von Steuererstattungslücken wie Cum Ex oder das Einführen einer Übergewinnsteuer, die mittlerweile sogar von Markus Söder gefordert wird. Dennoch würde das alles zusammengenommen nicht ausreichen, um den haushälterischen Spielraum so auszuweiten, dass soziale und ökologische Ziele erreicht und reale Ressource weitestgehend genutzt werden könnten.
Leider sind aber nicht einmal diese minimalinvasiven Reformen denkbar, da Lindner auf die Bremse treten wird. Das lässt sich aus seinem Kommentar zu dem von Hubertus Heil fürs kommende Jahr vorgeschlagenen Klimageld herauslesen: »Da Schulden und Steuererhöhungen ausgeschlossen sind, bin ich auf die Finanzierungsideen gespannt.«
Progressive müssen jetzt Druck auf Christian Lindner und seine Blockade bei der Steuer- und Haushaltspolitik ausüben. Die Reformierung der Schuldenregeln muss dabei im Zentrum der Kritik stehen. Bei jeder Gelegenheit muss auf das Bundeswehr-Sondervermögen verwiesen werden, denn es zeigt, dass Deutschland kein Finanzierungsproblem hat, wenn der politische Wille da ist. Genauso muss es eine gerechte Steuerpolitik geben, um die Macht von Superreichen einzudämmen. Ob bei maximaler Auslastung bei einer gerechten Steuerpolitik ein kleines oder ein großes Haushaltsdefizit entsteht, ist nicht entscheidend, da die Finanzierung von sozialen und ökologischen Zielen nicht vom Steueraufkommen abhängig ist.
Schließlich sollten Progressive davon absehen, den Kampfbegriff des »Schuldenkönigs« ins Feld zu führen. Solche neoliberalen Framings fallen einem spätestens dann wieder vor die Füße, wenn eine progressive Regierung an die Macht kommt, die zur Erreichung ihrer Ziele um Schulden nicht herumkommt. Wir sollten stets die realen Ressourcen als Schuldenbegrenzung verstehen. Denn Arbeitskräfte, Maschinen und Rohstoffe sind knapp – nicht aber das Geld. Daher muss die Finanzpolitik bei Progressiven ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt werden. Dort liegen die Hebel für eine gerechte und ökologische Wende.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.