17. August 2022
Der Finanzminister begründet seine Sparpolitik damit, doch die Geschichte von der Einhaltung der Schuldenbremse ist ein Märchen.
Christian Lindner wird auch im nächsten Jahr die Schuldenbremse nicht einhalten könnten.
Am 1. Juli veröffentlichte das Bundesministerium der Finanzen den Haushaltsentwurf der Bundesregierung für das Jahr 2023. Vorgesehen ist eine Kürzung des Bundeshaushalts um 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – ein ebenso drastischer wie absurder Sparkurs angesichts der Herausforderungen, mit denen sich Staat und Gesellschaft konfrontiert sehen.
Insgesamt umfassen die Sparmaßnahmen 50 Milliarden Euro. Wenn man die geplanten Mehrausgaben für die Bundesschuld in Höhe von 13 Milliarden Euro zu diesen Einschnitten hinzurechnet, ergeben sich Gesamtkürzungen von über 63 Milliarden Euro. Der Etat des Verkehrsressorts etwa wird trotz des desolaten Zustands der Bahn und aller Versprechungen hinsichtlich einer Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur um über eine Milliarde Euro gekürzt.
Gleichzeitig dient der Sparkurs der Regierung manchen Ministerinnen als Vorwand, um Mittel aus politischen Motiven umzuverteilen. Das FDP-geführte Bildungsministerium etwa hält trotz einer geplanten Budget-Erhöhung bereits bewilligte Projekte auf, unter anderem Förderlinien zu den sozialen Folgen der Coronapandemie sowie zu Rechtsextremismus und Rassismus. Die Mittel für das von den Grünen geführte Auswärtige Amt wiederum wurden um 10 Prozent reduziert, was sich auch in drastischen Kürzungen beim Deutschen Akademischen Austauschdienst niederschlägt.
Besonders verheerend ist die Bilanz bei den öffentlichen Investitionen, die nur aufgrund von zwei einmaligen Darlehen ansteigen und ansonsten auf dem Niveau der Vergangenheit stagnieren. Rechnet man die Inflation und die dadurch gestiegenen Baukosten mit ein, fallen die realen öffentlichen Investitionen sogar deutlich.
Weshalb diese Einschnitte? Die Begründung des Finanzministeriums, die Rückkehr zur Sparpolitik werde die Inflation dämpfen, trägt nicht. Kürzungen im Gesundheitswesen, bei Forschungsmitteln, oder bei der Bahn werden gegen die durch den Krieg gestiegenen Energiekosten, dem wesentlichen Inflationstreiber, nichts ausrichten. Im Gegenteil: Ausgerechnet eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft attestierte dem 9-Euro-Ticket jüngst eine »auffällige disinflationäre Wirkung«. Die von den Energiepreisen getriebene Inflation, wie von Lindner angestrebt, durch Austeritätspolitik zu bekämpfen ist daher nicht nur sozial und ökonomisch schädlich, sondern auch hochgradig ineffizient.
Die Erklärung für die erzwungene Sparpolitik ist banaler, und zynischer: Finanzminister Christian Lindner hat sein politisches Kapital darauf verwettet, im kommenden Jahr die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse erstmals seit 2019 wieder einzuhalten.
In den vergangenen Jahren sorgte eine wachsende Anzahl von Krisen und Katastrophen dafür, dass der Staat tätig werden musste, um Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Kollaps zu bewahren. Nun kommt durch den Wegfall russischer Gaslieferungen auch noch eine nie dagewesene Energiekrise hinzu. Es ist, als hätte sich die Weltgeschichte verschworen, dem Mantra der individuellen Eigenverantwortung jegliche politische Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft zu entziehen. Was vom liberalen Programm übrig bleibt, ist das Einhalten der Schuldenbremse – in den Augen der FDP vor allem ein Mittel zum Zweck der Vermeidung von zukünftigen Steuererhöhungen, vor denen sich ihre Klientel fürchtet.
Dass das Pochen auf die Einhaltung der Schuldenbremse an wirtschaftspolitische Sabotage grenzt, ist das eine. Massive staatliche Investitionen in die grüne Transformation werden mit jedem Jahr dringlicher; die nächsten Generationen werden katastrophale Kosten und die drastische Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen ertragen müssen, sollten sie ausbleiben. Hinzu kommt, dass es sich bei Lindners Plänen für die Einhaltung der Schuldengrenze um ein Fantasieszenario handelt.
Hier sitzen die meisten Beteiligten – und auch die Öffentlichkeit – einem Taschenspielertrick auf: Angesichts der Weltlage wird die Bundesregierung auch 2023 die Schuldenbremse nicht einhalten. Viel zu groß wären die ökonomischen und sozialen Verwerfungen. Das 5 Milliarden Euro umfassende »Energiekostendämpfungsprogramm für energieintensive Industrien«, dessen Start Lindners Finanzministerium Mitte Juli verkündete, macht deutlich, in welchen Dimensionen sich die staatliche Unterstützung der vom russischen Gasembargo gebeutelten Wirtschaft bewegen wird. Ganz zu schweigen von notwendigen Entlastungen für Haushalte.
Wir erleben eine Polykrise, die sich aus einer eskalierenden Klimakatastrophe, einer andauernden Pandemie, einem russischen Angriffskrieg und einer akuten Energiekrise ergibt. Nur der Staat kann ihre sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen eindämmen oder abfedern. Das Grundgesetz sieht eine Ausnahme von der Schuldenbremse für »außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen« vor. Wann, wenn nicht heute, liegt eine solche Notsituation vor? Die Schuldenbremse, wie sie aktuell gilt, taugt nicht als Rechtfertigung für Kürzungen im Bundeshaushalt 2023.
Doch geht es den Liberalen im Kern nicht nur darum, eine formale Vorschrift um ihrer selbst willen oder zur Beruhigung der eigenen Kernwählerschaft einzuhalten. Die FDP verfolgt mit gezielten Angriffen auf neuralgische Punkte der öffentlichen Infrastruktur, der Wissenschaft, und der staatlichen Handlungsfähigkeit auch langfristige Ziele. Je schwächer der Staat, desto attraktiver die Partei der individuellen Verantwortung.
Die gute Nachricht: die geplanten Kürzungen erfordern die Zustimmung des Bundestages im Rahmen der Haushaltsdebatte im September. Politikerinnen von SPD und Grünen, die einen handlungsfähigen Staat wollen, müssen Lindners Täuschungsmanöver beim Namen nennen. Doch das ist nur der erste Schritt. Zukunftsfähige Politik kann sich mit diesem Relikt eines gescheiterten neoliberalen Dogmas nicht arrangieren – die Schuldenbremse muss weg.
Benjamin Braun ist Senior Researcher am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
Philipp Golka ist Postdoktorand am Institute for Public Administration der Universität Leiden.
Philipp Golka ist Postdoktorand am Institute for Public Administration der Universität Leiden.