23. Januar 2024
Die Wut auf die Grünen ist nicht unbegründet: Sie haben sich im Eiltempo aus der Hoffnung der Linksliberalen zur Status-quo-Partei entwickelt, die die unsoziale Regierungspolitik mitträgt und dabei den Klimaschutz unpopulär macht.
Omid Nouripour und Annalena Baerbock müssen lachen vor lauter Bauchschmerzen bei der Grünen Bundesdelegiertenkonferenz 2023.
Sich über die Grünen und ihre heuchlerische Art aufzuregen, ist spätestens in den vergangenen zwei Jahren zum linken Volkssport geworden. Das ist auch verständlich, wenn man sich anschaut, wie viele schlechte Entscheidungen Grüne getroffen oder mitgetragen haben.
Die Kampfjets für die Kriegstreiber in Saudi-Arabien sind nur der neuste Aufreger. Das Bürgergeld droht, nach und nach wieder zu Hartz IV zu werden – oder, in Sachen Sanktionen, sogar noch härter. Die schwache Kindergrundsicherung bekämpft Kinderarmut nicht. Die Asylpolitik in Deutschland und der EU wird immer menschenfeindlicher und an allen Enden wird gespart. Die Politik, die die Grünen mitmachen, macht auch ihr Kernanliegen Klimaschutz unpopulär und ist ein gefundenes Fressen für die AfD.
Natürlich ist es so, dass mit der SPD noch eine zweite Mitte-links-Partei diese Entscheidungen mindestens genau so sehr, wenn nicht sogar noch mehr zu verantworten hat. Und trotzdem steigt der Puls besonders, wenn schlechte Rechtfertigungen von Grünen kommen. Das liegt auch daran, dass sie sechzehn Jahre in der Opposition waren. Für die neue Generation von jungen Linken war die Erinnerung an die rot-grüne Regierung und die Agenda-Politik inzwischen verblasst.
Bevor die Grünen Teil der Ampel wurden, standen sie vielerorts zivilgesellschaftlichen Bewegungen nahe. 2016 waren sie in vielen Städten direkt an der Flüchtlingssolidarität oder dem Ausrufen sicherer Häfen beteiligt. Sie haben Umweltbegehren für mehr Radwege oder Artenschutz mitorganisiert. Der Aktiven-Zuwachs bei den Grünen speiste sich entsprechend auch aus Menschen, die in solchen Projekten aktiv waren. Die Partei wurde zur Hoffnungsträgerin der Linksliberalen. Sie schien wirklich noch etwas verändern zu wollen, im Gegensatz zur Großen Koalition.
Es gab auch programmatische Verschiebungen nach links, etwa hin zu einer höheren Vermögensbesteuerung, einer humanen Geflüchtetenpolitik und ambitionierteren Klimazielen. Selbst Robert Habeck stellte eine Enteignung von großen Immobilienkonzernen in den Raum.
Diese hohen Ansprüche stören jetzt aber dabei, mit den Großen am Regierungstisch zu sitzen. Dass die Grünen sie so einfach ablegen können, hat zweierlei Gründe: Zum einen waren sie trotz ihrer Verortung im Mitte-links-Spektrum nie eine Arbeiterpartei und weit davon entfernt, einen Klassenstandpunkt einzunehmen. Sie vertreten ein Politikverständnis, in dem es darum geht, Interessen auszugleichen und Kompromisse zu finden, nicht die Interessen einer bestimmten Klasse durchzusetzen.
»Wenn die Realos sich näher an die Mitte heran bewegen wollen, dann meinen sie damit leider nicht, Mehrheitsforderungen wie höhere Löhne oder niedrigere Mieten umzusetzen, sondern sich an den Einheitsbrei von CDU und SPD anzugliedern.«
Dass Regierungsparteien im Kapitalismus nur selten große Veränderungen anstoßen, liegt jedoch nicht nur an den analytischen Schwächen der Parteien, sondern auch daran, dass die Spielräume von Regierungen im Kapitalismus sehr begrenzt sind. Einschnitte in die Profitmaximierung oder Vergesellschaftungen, wie sie nötig wären, um höhere Löhne, niedrigere Mieten und weitgehende Maßnahmen gegen die Klimakrise durchzusetzen, sind nur mit sehr starkem Druck möglich. Denn sie stehen dem Interesse des kapitalistischen Weiter-so entgegen. In diesem Interesse liegt es auch, nur wertvolle Migrantinnen und Migranten ins Land zu lassen, Waffen nach Saudi-Arabien zu liefern und die Arbeitenden im Land mit Sanktionen zu knechten, damit sie geringere Löhne in Kauf nehmen.
Die Grünen versuchen, ihr Kernanliegen Klimaschutz durchzubringen, ohne sich mit Konzerninteressen oder Superreichen anzulegen. Wo das hinführt, haben wir beim Heizungsgesetz gesehen. Überhaupt ein Gesetz vorzuschlagen, bei dem man zwar CO2 einspart, aber die Frage, wie die Menschen das denn bezahlen sollen, völlig offen lässt, ist ein perfektes Beispiel für das Vorgehen der Grünen. Dass man jetzt CO2-Preis-Erhöhungen mitträgt, aber das Klimageld zunehmend aufgibt, ebenso.
Linke, die die erste Regierungsbeteiligung 1998 miterlebt haben, erfahren es wie ein Déjà-vu: Die Grünen werden wieder zu einer Partei, die nach den Regeln des Kapitalismus spielt, ihn grün verwaltet, aber die ungerechten Grundsätze nicht verändern will.
Es gibt noch immer Teile der Basis, die die Grünen wieder an Seite der Zivilgesellschaft verorten möchten. Das konnte man an den Abstimmungen zu Lützerath oder der Asylpolitik auf den Bundesparteitagen beobachten. Dass Robert Habeck sich genötigt sah, quasi eine Vertrauensfrage zu stellen, war ein Ausdruck der Unsicherheit, inwiefern ihr Kurs eine Mehrheit erringt.
Auch in der Funktionärsschicht gibt es weiter Auseinandersetzungen – oft intern, selten offen. Beim Abschiebegesetz der Regierung entschieden sich auch ein paar Abgeordnete, dagegen zu stimmen. Auch sie hat das Argument überzeugt, man müsse fürs Klima in die Regierung gehen, doch jetzt zweifeln sie daran, ob da unterm Strich wirklich so viel Fortschritt herausspringt.
Das ist es, was viele Menschen besonders nervt: Linke Grüne, die ständig Bauchschmerzen haben. Wahrscheinlich lügen sie nicht einfach, um ihr progressives Image zu wahren, sondern es geht ihnen wirklich schlecht damit. Doch sie befinden sich auf der Rutsche Richtung Status-quo-Partei und wissen nicht, wie sie da wieder herunterkommen.
»Die Argumentation, man würde noch Schlimmeres verhindern, verbannt die Möglichkeit, Positives im eigenen Sinne umzusetzen, in weite Ferne.«
Die Realos auf der anderen Seite wollen einfach nur, dass die Grünen »regierungsfähig« sind. Wenn sie sich näher an die Mitte heran bewegen wollen, dann meinen sie damit leider nicht, Mehrheitsforderungen wie höhere Löhne oder niedrigere Mieten umzusetzen, sondern sich an den Einheitsbrei von CDU und SPD anzugliedern: Einsatz für Menschenrechte nur, wenn es deutschen Interessen passt, kein Herz für Geflüchtete und kein Sich-Anlegen mit Konzerninteressen.
Doch sie sitzen einem Denkfehler auf: Wenn sie all ihre progressiven Positionen verwerfen, dann punkten sie zwar bei einer bestimmten Wählerklientel. Aber diese wählt sie dann auch nur, wenn sie weiterhin keine progressive Politik umsetzen. Die Grünen haben dann Wähler ohne Programm.
Einige Grüne, die an der Ampel festhalten, sehen sich dadurch legitimiert, dass eine Regierung ohne sie noch schlimmere Entscheidungen treffen würde. Es ist wahr, dass die Grünen innerhalb der Ampel oft zwei zu eins unterliegen und dass sie in vielen Bereichen die am wenigsten rückschrittlichen Positionen vertreten. Und es stimmt auch, dass sie kleine Verhandlungserfolge erzielen. Doch die Argumentation, man würde noch Schlimmeres verhindern, verbannt die Möglichkeit, Positives im eigenen Sinne umzusetzen, in weite Ferne. Offensichtlich reicht es auch nicht aus, um das Erstarken der AfD aufzuhalten – im Gegenteil.
Einer der Hauptgründe, warum die FDP trotz ihrer 12 Prozent so weitgehende Maßnahmen in der Ampel durchsetzen kann, ist simpel: Sie vertritt ziemlich konsequent die Interessen ihrer Wählerschaft und traut sich, auf ihrer Position zu beharren, auch wenn darüber die Koalition brechen könnte. Natürlich ist das für eine Partei wie die Grünen, die sich als regierungs- und staatstragend definiert, keine Option. Das bedeutet auf Dauer aber auch, dass sie kaum Stiche landen wird.
Es sieht nicht danach aus, als würde der linke Teil der Grünen eine Machtperspektive entwickeln, um etwas am jetzigen Kurs zu ändern. Dieser wird zementiert, auch dadurch, dass immer mehr Linke aus der Partei austreten, weil sie in ihr keine Zukunft mehr sehen – und dadurch, dass die progressive Zivilgesellschaft die Partei weiter aufgibt. Doch ohne diese progressiven Kräfte als Grundpfeiler ihrer Basis werden die Grünen zu einer Partei, die vielleicht an Greenwashing interessierten Unternehmen etwas nützt, aber nicht der Mehrheit der Menschen.
Sarah-Lee Heinrich ist ehemalige Bundessprecherin der Grünen Jugend und Aktivistin für soziale Gerechtigkeit.