02. Oktober 2024
Die Linke schwankt zwischen manischem Optimismus und lähmender Depression. Wie findet sie da wieder heraus?
»Das Leben geht weiter, aber die Zeit scheint stillzustehen.«
Wer in den letzten Wochen einer Kundgebung, Parteiveranstaltung oder Demonstration beigewohnt hat, wird sie gehört haben: Rhetorische Appelle an die Hoffnung, die inmitten der Krise der gesellschaftlichen Linken zunehmend pflichtschuldig klingen. Auch wenn die Linke abgeschlagen sei, so werde sie gerade jetzt so sehr gebraucht, wo immer mehr Menschen verarmen, die Rechten die Parlamente erobern, die geopolitische Lage von blutigen Konflikten dominiert wird und wir ungehalten auf eine Klimakatastrophe zurasen – also ran an die Arbeit! Die Skepsis gegen diesen enthusiastischen Krisen-Voluntarismus scheint zu wachsen. Kaum jemand fühlt das noch. Zu oft folgte auf optimistische Erneuerungsrufe weitere Stagnation, und das kurzzeitige Momentum schlug in bleierne Lethargie um.
Die 2010er Jahre, die infolge der Finanz- und Eurokrise eine linkspopulistische Erfolgswelle auslösten – mit Podemos, Syriza, Corbyn und Sanders –, versprühten anderswo die Euphorie eines Neuanfangs. An Deutschland ist sie einfach vorbeigezogen. Ein linkspopulistisches Aufbäumen, das sich in starken Wahlergebnissen für die Linke gezeigt hätte, gab es nicht. Umso spektakulärer waren die Massenproteste dieser Ära – gegen TTIP, für das Klima, gegen die AfD.
Es war die Zeit, in der sich Menschen in Baumhäusern gegen den Ausbau von Autobahnen auflehnten und in Kohlegruben sprangen, um sich dem fossilen Kapitalismus entgegenzustellen. Spätestens seitdem RWE Lützerath abbaggert, hat sich eine große Verlorenheit breitgemacht. Keine dieser Mobilisierungen übersetzte sich in langfristige politische Landgewinne. Jetzt durchleben wir eine Art demoralisierende Katerstimmung, die aus dem Frust über die Ergebnislosigkeit dieser Ära resultiert.
Während in den letzten Jahren eine ganze Reihe psychologischer Studien die depressive Verstimmung der Linken und die heitere Gemütsverfassung der Konservativen untersuchten, hat die Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühlslage innerhalb der Linken einen schweren Stand, steht sie doch im Verdacht, privatistisch, schlimmstenfalls neoliberal zu sein. Diese falsche Gegenüberstellung des Psychischen und des Sozialen verschleiert, dass es in der Denktradition der Linken schon länger eine Auseinandersetzung mit der Gefühlsebene der eigenen Bewegung gegeben hat – was auch kaum verwunderlich ist. Schließlich hat man öfter verloren als gewonnen.
Den Typus des linken Melancholikers skizzierte der Literaturtheoretiker Walter Benjamin 1931 in seiner Beschimpfung der Lyrik Erich Kästners. Diesem schwerfälligen, fatalistischen Charakter mit »verträumten Babyaugen hinter der Hornbrille« wirft er eine nihilistische Gegenwartsverweigerung und defätistische Verliebtheit in die eigene Marginalität vor: »Dieser linke Radikalismus ist genau diejenige Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht. Er steht links nicht von dieser oder jener Richtung, sondern ganz einfach links vom Möglichen überhaupt. Denn er hat ja von vornherein nichts anderes im Auge als in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen.«
Der linke Melancholiker fühlt sich einem gescheiterten, illusorischen Ideal stärker verpflichtet als der Realität, in der er lebt. Die vergangenen Kämpfe der Linken können so nicht mehr zum Bezugspunkt für die eigene Geschichte werden – sie werden zu Erinnerungen. Man könnte in Anlehnung an Benjamin sagen: Für den linken Melancholiker wird die Unmöglichkeit der eigenen Politik zur Gesinnung.
Der Historiker Enzo Traverso geht noch weiter und beschreibt die Melancholie als einen epochalen Zustand, der es der Linken erschwert, ihr Scheitern produktiv zu bewältigen: Seit der Französischen Revolution 1789 konnte jede noch so vernichtende Niederlage als bloßer Rückschlag begriffen werden, der sich in einen größeren, zweihundert Jahre andauernden Kampf um Emanzipation einordnen ließ. Diese historische Kontinuität ist mit dem Fall der Mauer durchbrochen, so Traverso.
Diese Diagnose sollte man nicht als Verklärung des Stalinismus fehlinterpretieren. Traverso meint vielmehr, dass der Sieg des Kapitalismus 1989 als Zäsur zu verstehen ist, die sich qualitativ von allen vorangegangenen Niederlagen der Linken unterscheidet. Die Paradigmen, durch die man vormals die Welt verstand – Antistalinismus, Antikapitalismus, Antiimperialismus –, ließen sich in dieser neuen Gegenwart nicht einfach so wiederbeleben. Sie hatten keine reale Verankerung mehr. Der gemeinsame politische Erwartungshorizont der historischen Linken ist seither versperrt. »Wir sind Waisenkinder«, sagt Traverso.
»Dieses nie enden wollende Jetzt hat sich bis in unsere Gegenwart hinein verlängert, die links wie rechts geprägt ist von einer nostalgischen Verklärung der guten alten Nachkriegswirtschaft.«
Der Kulturtheoretiker Mark Fisher hat sich der zeitlichen Dimension dieser politischen Verlassenheit ausführlicher zugewendet. Den Spätkapitalismus beschreibt er in Anlehnung an den marxistischen Philosophen Bifo Berardi als langsame Annullierung der Zukunft, womit er ein Gegenwartsgefühl in Worte fasst, in dem es keine Fortentwicklung mehr zu geben scheint. Das Leben geht weiter, aber die Zeit scheint stillzustehen. Er bezieht sich in dieser Beobachtung vor allem auf die Popkultur, in der Versatzstücke, Referenzen und Elemente vergangener Stile so sehr dominieren – das Rebranding, das Remake, der Remix –, dass es unmöglich scheint, etwas gänzlich Neues zu schaffen.
Seither hängen wir in einer Endlosschleife der Nostalgie fest, unser einziger imaginativer Zugriff auf die Zukunft ist die Katastrophe, so Fisher. Mit dieser Beobachtung scheint er recht gehabt zu haben, denn dieses nie enden wollende Jetzt hat sich bis in unsere Gegenwart hinein verlängert, die links wie rechts geprägt ist von einer nostalgischen Verklärung der guten alten Nachkriegswirtschaft.
Am Ende der Geschichte hofft man allenfalls noch auf eine andere Spielart des Kapitalismus. Für diesen Zustand hat Mark Fisher den Begriff des kapitalistischen Realismus geprägt, der den Möglichkeitssinn sozialistischer Politik verschluckt. Fatalismus und Resignation sind die Folge. Da die Hoffnung auf ein gewinnbares, konsensfähiges Projekt ebenso verloren gegangen ist wie der Glaube an ein Subjekt, das in diesem Projekt seine Interessen vertritt, kann man das Elend des Kapitalismus allenfalls noch in medienwirksamen Aktionen und Protesten zum Spektakel machen.
Für die von Fisher beschriebene Linke der 2010er Jahre war Politik zu einer Art Geste geworden, an deren Verwirklichung sie selbst nicht mehr glaubt. In der offensiven Empörungsbereitschaft der Identitätspolitik und der strafenden Rigidität der Cancel Culture vermutet er einen Ersatz für die Parteidisziplin der kommunistischen Bewegung und eine Sehnsucht nach der ideologischen Kohärenz einer Parteilinie – nur eben in Ermangelung eines entsprechenden institutionellen Gerüsts. Das sei Stalinismus ohne Utopie, schreibt Fisher.
Die politische Stimmung hat sich inzwischen gewandelt. In den Parteien und Bewegungen der Linken stehen Strategiedebatten im Zentrum. Ob nun eine West- oder eine Oststrategie den Weg aus der Krise weist, fragt man sich etwa in der Linkspartei, Bewegungen wie die Interventionistische Linke setzen auf Streiks und Vergesellschaftung als neue Ausrichtung der eigenen Praxis. Diese verstärkte Zuwendung zu strategischen Fragen kann als Erbe der überhitzen Politisierung der 2010er Jahren betrachtet werden, die viele Menschen mobilisiert, aber nur wenige organisiert hat.
Ohne das geteilte Klasseninteresse als zentralen politischen Antrieb und Fundament der Solidarität ist man gezwungen, Menschen auf Basis amorpher Positionen und disparater Erfahrungen zu Genossinnen und Genossen zu machen. Auf organisatorische Fragen des Machtaufbaus und der politischen Taktik kann dann selbstredend weniger Energie verwendet werden, weil man zunächst erstmal alle, die man als Subjekt oder Objekt der eigenen Politik begreift, einer Art Gesinnungstest unterziehen muss. Das politische Gebilde, das daraus entsteht, ist zwangsläufig fragiler und störanfälliger, als eines, das auf der soliden Basis gemeinsamer materieller Interessen operiert, die selbst dann noch bestehen, wenn innerhalb der Klasse Widersprüche sichtbar werden.
Es erschwert zudem einen konstruktiven Umgang mit Konflikten und Kritik, da kritische Äußerungen als eine Art feindlicher Vorstoß empfunden werden, an dem der fragile Gruppenzusammenhang zu zerschellen droht. Um dieses Risiko zu umgehen, wird versucht, Konflikte zu vermeiden oder zu unterdrücken. Wenn sie dann doch ausbrechen, werden sie in derselben Tonalität ausgetragen, als befände man sich in der direkten politischen Konfrontation mit dem Gegner und nicht in einer innerlinken Debatte unter Genossinnen und Genossen.
Wie kommt es zu diesem vergifteten Umgang miteinander? Wenn man in dem Versuch gescheitert ist, die herrschenden Verhältnisse zu verändern, scheint man den Frust über eben jene Verhältnisse auf diejenigen umzulenken, die nicht imstande waren, sie zu überwinden. Diese Art der Verbitterung ist ein typisches Symptom von Burnout – ein Begriff, der vor allem als Beschreibung eines Erschöpfungszustands geläufig wurde, der unter Menschen verbreitet ist, die sich in Sektoren mit gravierendem Personalmangel vollends kaputtgearbeitet haben. Inzwischen wurde er zu einer Art Gesellschaftsdiagnose ausgeweitet, die sämtliche Symptome zu beschreiben versucht, für die man den Highperformer-Ethos des Neoliberalismus verantwortlich sieht – angefangen bei der Reizüberflutung durch stundenlanges Doomscrolling bis hin zur ermüdenden Entnervtheit nach zu vielen Tinder-Dates.
»Es geht vielmehr um jenen Zustand erschlagender Enttäuschung, der sich einstellt, wenn man mit der Fehlerhaftigkeit eines Projektes konfrontiert wird, in das man Zeit, Emotionen und Arbeit eingebracht hat, und das dennoch scheitert.«
Geprägt hat ihn allerdings der Psychoanalytiker Herbert J. Freudenberger, um ein Phänomen zu beschreiben, das er unter Ehrenamtlichen in der Radical Health Bewegung beobachtet hatte. Diese hatte in den 1970er Jahren kostenfreie Kliniken und Hotlines gegründet, um ökonomisch benachteiligte Menschen medizinisch zu versorgen. Unter diesen ehrenamtlich Aktiven, die sich einem Projekt verschrieben hatten, das den Anspruch verfolgte, die Gesellschaft so zu transformieren, dass allen Menschen, unabhängig ihrer finanziellen Mittel, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung eine adäquate gesundheitliche Versorgung zusteht, beobachtete er nicht nur Symptome von Erschöpfung und körperlichem Stress, sondern auch offenen Zynismus, unterkühlte Distanziertheit und Anzeichen von Selbstentfremdung. Freudenberger folgert, dass dieser Zustand das Ergebnis der Erfahrung ist, dass trotz des erhöhten Engagements ein lähmendes Gefühl der eigenen Wirkungslosigkeit zurückbleibt.
Burnout meint in diesem Sinne nicht einfach nur Überarbeitung. Es geht vielmehr um jenen Zustand erschlagender Enttäuschung, der sich einstellt, wenn man mit der Fehlerhaftigkeit eines Projektes konfrontiert wird, in das man Zeit, Emotionen und Arbeit eingebracht hat, und das dennoch scheitert. Was Freudenberger beschreibt, sind der Schmerz und die Verbitterung, die Menschen empfinden, wenn eine Idee stirbt.
Die Ideologie des freien Marktes hat den Menschen am Ende der Geschichte viel versprochen, aber wenig gehalten. Das aus der Weltfinanzkrise resultierende Legitimationsproblem dieses Systems hat seine Alternativlosigkeit nicht erschüttern können, aber unsere Gegenwart unbestritten verändert. Als Gegenbewegung hat sich aufseiten der Rechten ein reaktionärer Nihilismus Bahn gebrochen, der sich im Erstarken der AfD ausdrückt. Die Begriffe Faschismus und Sozialismus sind seit einigen Jahren wieder ins breite Bewusstsein zurückgekehrt, und zwar nicht als historische Referenz, sondern als Analysekategorien in der tagespolitischen Berichterstattung.
Nach Dekaden der Kleinstpolitik, die sich auf das Feld der Mikroaggressionen und Sprachsensibilisierungen zurückgezogen hatte, tritt aufseiten der Linken jetzt wieder die ganz große Politik auf den Plan: die Systemfrage. Innerhalb der Linken, die Mark Fisher in den 2010er Jahren noch beschrieb, hat sich eine Rückbesinnung auf die Geschichte der alten Arbeiterbewegung vollzogen. Das Ziel einer sozialistischen Transformation wird wieder offen artikuliert – nur trifft es nun auf einen Kontext, in dem diese Machtfrage realistisch kaum gestellt werden kann.
»Auf den Stalinismus ohne Utopie folgt nun ein Sozialismus ohne Arbeiterklasse.«
Angesichts der aktuellen Supermarginalität der Linken kommt immer wieder ein geradezu manischer Optimismus auf, der jede neue Bewegung, die auf den Straßen junge Menschen politisiert, zum neuen Hoffnungsträger hochjazzt. Angesichts der desolaten Lage ist das auf einer rein affektiven Ebene nachvollziehbar. Es ist leicht, sich von der kollektiven Euphorie mitreißen zu lassen, die sich breit macht, wenn man sich auf Blockaden und Massenmobilisierungen mit anderen verbunden fühlt. Nicht von der Hand zu weisen ist auch, dass die eigene Politisierung eine für viele Menschen transformative Erfahrung ist, die sie als einen Ausbruch aus einem rein privat gelebten Leben wahrnehmen. Im Kapitalismus, in dem weite Teile des Alltags im wörtlichen wie übertragenen Sinn durchprivatisiert sind, ist das ein Befreiungsschlag. Aber wir müssen uns auch der Desillusionierung zuwenden, die einsetzt, wenn man begreift, dass sich dieses Gefühl nicht so leicht kollektivieren lässt. Eine bessere Welt entsteht nicht automatisch aus Protest – und die Hoffnung, dass sich in ihm ein neues plurales Subjekt formiert, in dem sich mosaikartig verschieden soziale Kämpfe vereinen, hat sich nicht erfüllt.
In der Sehnsucht nach diesem neuen Subjekt vollzieht sich eine bizarre Entkopplung von Klasse und sozialistischer Politik. Im Grunde wird so getan, als gäbe es dazwischen – wenn überhaupt – nur eine lose Korrespondenz. Für den Erfolg einer Protestbewegung ist aber nicht nur entscheidend, wofür oder wogegen protestiert wird, sondern auch, wer protestiert. Zu diesem Schluss kam eine Studie der Universität Oslo nach Auswertung sämtlicher sozialer Bewegungen der vergangenen hundert Jahre. Sie stellte fest, dass das geschmähte Industrieproletariat der ausschlaggebende Faktor des Erfolgs ist.
Wer eben darauf beharrt, sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, einer stumpfen Orthodoxie anzuhängen, die sich der Tatsache verschließt, dass die Klasse der Arbeitenden heute größer, diverser und heterogener ist als vor hundert Jahren. »Die Klasse« – wer soll das heute überhaupt sein? Dieser Frage widmete sich etwa eine repräsentative Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Deren Auswertung ergab, dass das Wählerpotenzial der Linkspartei unter den Beschäftigten aus dem Dienstleistungssektor am höchsten sei, während man unter den Facharbeitern aus der Schwerindustrie den Rückhalt verloren habe. Daraus wird geschlossen: Mit den Beschäftigten aus Bildung und Pflege möchte man durchaus gemeinsam Politik machen, aber die unter dem Generalverdacht des Reaktionismus stehenden Facharbeiter aus den Montagehallen mit ihrem Verbrennerstolz könnten wohl kaum Agenten des sozialen Wandels sein.
Während man also vorgibt, sich am Sozialismus zu orientieren, ruft man paradoxerweise gleichzeitig den Tod der Klasse aus. Natürlich sind die Widersprüche innerhalb der Arbeiterklasse gewachsen. Wessen Arbeitsplatz von einer Industrie abhängt, die nicht mehr zukunftsfähig ist, der ist nicht so leicht für ein Projekt zu gewinnen, das auf die Abschaffung dieser Industrie abzielt. Wer diese Widersprüche aber als determinierend erachtet, der negiert in letzter Konsequenz auch die Realität eines gemeinsamen Klasseninteresses an sich. Damit erliegen wir dem kapitalistischen Realismus, der genau das propagiert. Auf den Stalinismus ohne Utopie folgt nun ein Sozialismus ohne Arbeiterklasse.
Während wir darüber diskutieren, ob die Klasse zu fragmentiert ist, um noch als Subjekt zu taugen, leben wir unter einer Regierung, die darüber diskutiert, das Streikrecht zu beschneiden, das Sozialsystem zu dezimieren und den Achtstundentag abzuschaffen. Dort hat man erkannt, dass das Klassenbewusstsein, das im Streik entsteht, gefährlicher ist als jede Großdemonstration, auf der »Kämpfe verbunden« werden. Sowohl die Nostalgie der Linken, die sich nicht erneuern kann und in melancholischer Fixierung ihr eigenes Scheitern musealisiert, wie auch der überzogen enthusiastische Voluntarismus, der um jede neue Bewegung einen kurzatmigen Hype erzeugt, sind am Ende vor allem sich selbst zugewandt. Beide Zustände sind Pathologien, die es uns verunmöglichen, nach der realen Machbarkeit unserer politischen Vision zu fragen.
In einem Essay kurz vor der Jahrtausendwende denkt die Politologin Wendy Brown in Rekurs auf Walter Benjamin über die Schwermütigkeit der Linken dieser Zeit nach. Sie beschreibt eine Bewegung, die nach dem Fall der Mauer ihren Kompass verloren hat und ziellos umherirrt. Sie empfiehlt uns keinen Gang zum Therapeuten, fragt aber, ob wir unsere Frustration, Verzweiflung und Enttäuschung nicht annehmen müssen, anstatt sie weiter zu verdrängen. Andernfalls, so glaubt sie, werden unsere selbstzerstörerischen Impulse weiterhin unsere politischen Träume überschatten.
Eine solche ehrliche Bestandsaufnahme und ein geduldiger Umgang miteinander – auch angesichts der politischen Dringlichkeit – sind möglicherweise das, was wir jetzt brauchen. Denn wenn man sich der Sache verpflichtet fühlt, eine gerechtere Welt aufzubauen, muss man schließlich wissen, wo man steht, und nicht nur, wo man hinwill.
Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.