19. April 2024
Eine neue Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung fragt, ob die Linkspartei die Arbeiter verloren hat, und antwortet »eigentlich nicht«. Statt das Problem mangelnder Verankerung ernsthaft zu untersuchen, wird es wegdefiniert, um den aktuellen Kurs zu bestätigen.
Vorstellung der Plakatkampagne der Partei Die Linke zu der bevorstehenden Europawahl mit Spitzenkandidat Martin Schirdewan im Berliner Kino Babylon, 19. März 2024.
Seit Jahren zeigen Nachwahlbefragungen, dass die Zustimmung zur Politik der Linkspartei unter abhängig Beschäftigten sukzessive abnimmt. Nur noch 5 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter, 5 Prozent der Angestellten und 11 Prozent der Arbeitslosen gaben der Linken bei der letzten Bundestagswahl ihre Stimme. Damit war sie das Schlusslicht, hinter allen anderen Parteien.
Es kommt also nicht von ungefähr, wenn die Genossinnen und Genossen die Notwendigkeit diskutieren, sich wieder stärker der Arbeiterschaft zuzuwenden. Wir brauchen mehr Klassenverankerung, sagen die einen. Die haben wir längst, erwidern die anderen. Diese Diskussion läuft seit mindestens einem Jahrzehnt, und an ihren Grundkoordinaten hat sich wenig verändert – nur, dass in der realen Welt immer weniger Menschen aus der Arbeiterklasse ihr Kreuz bei der Linken machen.
Vor einigen Wochen bekam diese Diskussion durch eine Studie der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) einen neuen Impuls: Hat Die Linke »die Arbeiter« verloren? Nein, eigentlich nicht! In einer repräsentativen Umfrage wollte das Meinungsforschungsinstitut Kantar im Auftrag der Stiftung wissen, ob die Lohnabhängigen ihre Interessen, Einstellungen und Forderungen noch in der Partei Die Linke repräsentiert sähen.
Das Datenmaterial wurde vom ehemaligen Leiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der RLS, Mario Candeias, ausgewertet und politisch eingeordnet. Sein Fazit: Die Linke hat die Arbeiter nicht verloren, aber die Welt der Arbeit hat sich verändert. Diese Transformation habe die Lohnabhängigenklasse weiblicher und migrantischer gemacht. Und insbesondere dieser Teil der Klasse sieht sich in der Linken repräsentiert, so Candeias. In Anbetracht dessen, dass die Partei in den letzten Bundestagswahl-Umfragen selten über 2–3 Prozent hinauskam, erstaunt dieses Fazit.
Der Parteivorstand sendet zuweilen ratlos anmutende Signale zur Krise der Partei aus. Etwa präsentierte er trotz kritischen Anmerkungen aus dem Gewerkschaftsrat sein Konzept zur Einführung einer Vier-Tage-Woche abermals prominent in einer Pressekonferenz. Auch schuf er drei Stellen, um Mitglieder zu werben, nicht aber, um die Gewerkschaftsorientierung zu konsolidieren. In diesem Licht betrachtet, liest sich die Studie stellenweise wie ein Gefälligkeitsgutachten. Ein Untersuchungsbefund, der attestiert, dass die Werte stimmen, kann nur allzu leicht als Rechtfertigung dienen, alte Gewohnheiten beizubehalten. Will aber die Linke nicht gänzlich in die Bedeutungslosigkeit abrutschen, muss dieser Hang zur Beschönigung durchbrochen werden.
Bereits in einer früheren Studie hatte Candeias festgestellt, dass das theoretische Wählerpotenzial der Linken bei 18 Prozent liegt. Ein ebenso spannender Untersuchungsgegenstand wäre es daher gewesen, warum die Partei dieses Potenzial bisher nicht ausschöpfen konnte. Die neue RLS-Befragung dagegen zieht es vor, die Klassenzusammensetzung des Linken-Wählerpotenzials zu untersuchen. Das ist im Grunde nicht falsch. Aber um die titelgebende Fragestellung beantworten zu können, wäre ein Vergleich mit der Gesamtbevölkerung notwendig. Die in der RLS-Studie vorgenommene Erhebung anhand von Berufen und Branchen kann die Frage gar nicht seriös beantworten.
Wenn zudem der Anteil der Menschen, die die Linke wählen, kleiner wird, muss das Ergebnis der Befragung auch hinsichtlich seiner Größenordnung eingeordnet werden. Leider erfährt man nicht, wie viele der 2.510 befragten Personen auf die erste Frage »Können Sie sich vorstellen, bei einer Bundestagswahl die Partei DIE LINKE zu wählen?« mit ja geantwortet haben und dadurch weitergekommen sind. Denn wer diese Frage verneinte, schied für die weitere Befragung aus. Am Ende der Studie gibt es einen Verweis, wonach das Wählerpotenzial der Linken bei 15 Prozent liege. Unterstellt man diese Kenngröße, dürfte sich die Untersuchungsgruppe also im niedrigen dreistelligen Bereich bewegen.
Doch schauen wir auf die Ergebnisse: Die Befragung ergab, dass 21 Prozent derjenigen, die sich vorstellen können, die Linke zu wählen, im Bereich »Gesundheit & Pflege« beschäftigt sind. Ebenso viele sind es im Bereich »Erziehung & Bildung«. Über 40 Prozent arbeiten also in diesen beiden Sektoren. Das ist eine überraschend hohe Zahl, denn von allen Erwerbstätigen sind nur 18,5 Prozent in diesen Bereichen beschäftigt. 11 Prozent sind es aus dem Bereich »Handel, Logistik & Lieferdienste« und 10 Prozent aus dem Bereich »Industrie & produzierendes Gewerbe«. Zusätzlich bildet sich die potenzielle Wahlpräferenz auch entlang von Einkommensgruppen ab: je geringer das Einkommen, desto höher das Potenzial. Hinzu kommt: Diejenigen, die sich vorstellen können, die Linke zu wählen, haben häufig einen überdurchschnittlichen Bildungsabschluss und verfügen überproportional über einen Migrationshintergrund.
»Der augenfälligste Hinweis darauf, dass die Verankerung der Linken in der Arbeiterschaft zurückgeht, ist das unterdurchschnittliche gewerkschaftliche Engagement der Menschen, die die Partei unterstützen.«
Doch der Widerspruch zu den besagten Nachwahlbefragungen ist damit nicht aus der Welt geräumt, sondern fordert eine Erklärung. Candeias verweist auf Verschiebungen in der Wirtschaftsstruktur. Der Anteil der Beschäftigten, die in Industrie und produzierendem Gewerbe arbeiten, sei seit 1980 von 41 auf 24 Prozent gesunken, der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor im gleichen Zeitraum von 54 auf 74 Prozent gewachsen. Mit dieser Verschiebung sei auch die Selbstzuschreibung der Menschen als »klassische Arbeiter« zurückgegangen.
Die dominierenden Berufe im linken Wählerpotenzial seien Pflegekräfte, Erzieherinnen, Verkäufer, Transport- und Logistikarbeiterinnen. Sie könnten mit der Selbstzuschreibung als »Arbeiter« kaum noch etwas anfangen, erklärt Candeias. Er unterstreicht diese Aussage mit dem Verweis darauf, dass sich gegenüber Kantar 81 Prozent der Befragten als Angestellte und nur 7 Prozent als Arbeiter eingeordnet hatten. Man könne also nicht davon ausgehen, so der Autor, dass die Linke die Arbeiterinnen und Arbeiter verloren habe – sie würden sich nur selbst nicht mehr so bezeichnen.
Das ist sicherlich nicht falsch, stichhaltig ist das Argument dennoch nicht. Denn die Nachwahlbefragungen zeigen, dass die Linke seit 2009 nicht nur bei Arbeiterinnen und Arbeitern, sondern auch bei Angestellten und Arbeitslosen verliert. Es ist also nicht so, dass sich die Stimmen innerhalb des Wählermilieus von Arbeitern zu Angestellten verschieben, sondern die Unterstützung in allen drei Segmenten nimmt kontinuierlich ab.
Der augenfälligste Hinweis darauf, dass die Verankerung der Linken in der Arbeiterschaft zurückgeht, ist das unterdurchschnittliche gewerkschaftliche Engagement der Menschen, die die Partei unterstützen. Danach befragt, ob sie einer Gewerkschaft angehören, antworten gerade einmal 16 Prozent im Wählerpotenzial der Linken mit ja. Nur 5 Prozent sind gewählte Betriebsräte, nur 3 Prozent aktive Vertrauensleute. Mit solchen Ergebnissen ist die Linke weit entfernt von einer Klassenverankerung, wie sie eine sozialistische Partei haben sollte.
Nicht zufällig wirken die Erklärungen von Candeias wie Rechtfertigungsbemühungen. Er argumentiert, hinsichtlich der Gewerkschaftsmitgliedschaft erreiche die Linke einen überdurchschnittlichen Wert, denn gesellschaftlich sei nur jeder achte Beschäftigte – genauer gesagt 12,7 Prozent – Mitglied einer DGB-Gewerkschaft. Zudem schneide die Partei im Vergleich zum Wahlergebnis bei Gewerkschaftern deutlich besser ab. So wählten 6,4 Prozent der männlichen und 7,4 Prozent der weiblichen Gewerkschaftsmitglieder die Linke, was über dem Bundestagswahlergebnis der Partei von 4,9 Prozent liege.
Dass bei diesem Vergleich unerwähnt bleibt, dass Gewerkschaftsmitglieder eher alle anderen Parteien wählen, als der Linken ihre Stimme zu geben, ist das eine. Das andere ist, dass eine Partei, die nach Klassenverankerung strebt, mit einem solchen Befund nicht zufrieden sein kann.
Die Studie krankt aber nicht nur an ihrer Neigung, zu beschönigen – sie zieht auch die falsche politische Schlussfolgerung aus den Daten. Noch 2009 wählten dreimal so viele Gewerkschaftsmitglieder die Linke wie 2021. Diesen Einbruch führt Candeias unter anderem darauf zurück, dass sich das Wahlverhalten von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern nach rechts verschoben habe. Abstiegsängste und politische Polarisierung beförderten vor allem unter Industriearbeitern eine »exklusive Solidarität«. Dagegen soll der Zuspruch für radikal rechte Positionen in Bereichen wie Gesundheit und Erziehung, die stärker weiblich geprägt sind und in denen grundsätzlich mit und an Menschen gearbeitet wird, geringer sein.
Belegt wird diese Behauptung nicht. Und wer in der einschlägigen Literatur eigenständig nach Belegen sucht, stößt eher auf das Gegenteil. So merkt die Politologin Macarena Ares in ihrer Untersuchung A progressive service class coalition? an, die These, Dienstleistungsbeschäftigte seien progressiver und deshalb empfänglicher für links-progressive Politik, sei ein Mythos. Und auch die Autoren des Buches Triggerpunkte kommen zu dem Schluss, dass die Ressentimentgrenze nicht innerhalb der Klasse zwischen Lohnabhängigen »in der Montagehalle oder an der Supermarktkasse« verlaufe, sondern zwischen »akademischen Mittelklassen und Arbeitern«.
Die Interpretation von Candeias lässt vermuten, dass er einen Kurs der passiven Unentschlossenheit verinnerlicht hat. Denn aus dem objektiv richtig diagnostizierten gesellschaftlichen Rechtsruck leitet er ebenso wenig wie die Partei einen subjektiven Auftrag ab. Wo bleibt die Bereitschaft, aus den realen Widersprüchen sozialistische Politik zu entwickeln, möchte man fragen.
Auf diese Notwendigkeit weist der Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban hin. »In Situationen gesellschaftlicher Weichenstellungen herrscht zunächst allgemein Verunsicherung, und die führt oftmals zu massiven Kontrollverlust-Ängsten«, schreibt er in dem Buch Krise. Macht. Arbeit. Diese Entwicklung sei jedoch nicht nur negativ, sondern bringe die Bereitschaft hervor, alte Denkmuster infrage zu stellen. Und wenn Denkmuster und Denkstrukturen in Bewegung geraten, so Urban, dann beginnt der Kampf, in welche Richtung sie sich verschieben.
»Sozialistische Politik sollte nicht die trennenden Merkmale zwischen den Lohnabhängigen in den Vordergrund stellen, sondern sie alle als Vertreterinnen und Vertreter ihrer Klasse ansprechen.«
Die größte Schwachstelle der Linken scheint daher aktuell eine unterentwickelte Analyse der gesellschaftlichen Krisensituation und die mangelnde Fähigkeit zu sein, für solidarische und humanistische Denkbilder zu kämpfen – schon allein, damit die autoritären und antidemokratischen Deutungsmuster nicht an Hoheit gewinnen. Die Partei versteht sich offenbar nicht als Impulsgeberin gegenüber der arbeitenden Bevölkerung, um politische Orientierung anzubieten und Klassenbewusstsein zu befördern. Sie sieht die Lohnabhängigen lediglich als eine Wählerzielgruppe neben vielen anderen, nicht als das handelnde Subjekt gesellschaftlicher Veränderung.
Eine Partei, die selbst Schwierigkeiten hat, sich politisch zu orientieren, hat es natürlich auch schwer, zum Orientierungs- und Referenzpunkt für die Lohnabhängigen zu werden. Wenn aber linke Orientierungsangebote ausbleiben, dann gibt es nur autoritäre und reaktionäre Angebote. Die RLS und die Linke sollten daher der Versuchung widerstehen, objektive gesellschaftliche Entwicklungen zu bemühen, um eigene subjektive Unterlassungen zu rechtfertigen.
Die Studie der RLS macht also für die Krise der Linken ein rückwärtsgewandtes Industriearbeiterproletariat verantwortlich. Das spiegelt sich auch in dem Versuch wider, ein alternatives Klassenbild zu zeichnen. So schlägt Candeias vor, »von einer vielfältig zusammengesetzten Klasse der Lohnabhängigen auszugehen«. Genauer dargestellt wird diese Klassenzusammensetzung nicht.
Stattdessen wird die These aufgestellt, dass Streikbewegungen der veränderten Zusammensetzung der Arbeiterklasse folgen würden. Sie verschöben sich in den Dienstleistungssektor und erfassten nach und nach Branchen, die neu entstanden oder stark gewachsen sind. Candeias verweist auf den Handel, Sozial- und Erziehungsdienste, Krankenhäuser oder das Dienstleistungsproletariat in der Logistik und anderen Bereichen des digitalen Plattformkapitalismus.
Mit der Andeutung, dass die Akteure dieser Kämpfe weiblicher und migrantischer seien, suggeriert die Studie einen kausalen Zusammenhang, der zumindest voreilig anmutet, aber auch in weiten Teilen der Bewegungslinken vorherrschend zu sein scheint, nämlich Streikaktivitäten als die direkte Folge dieser neuen Klassenzusammensetzung anzusehen. Zwar hat sich in der Tat das Arbeitskampfgeschehen in den letzten Jahren in den Dienstleistungssektor verschoben. Zahlen des Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung stützen diese Darstellung.
Der Streik-Experte Heiner Dribbusch stellt aber zugleich fest, dass nach wie vor die umfangreichsten Arbeitskämpfe mit der stärksten Beteiligung im Bereich der Metall- und Elektroindustrie stattfinden. Der Unterschied zu früheren Jahren bestehe darin, dass diese Branche nicht mehr die Streikwahrnehmung in der Öffentlichkeit prägt. In den Blickpunkt rücken eher die Erzieherinnen, Pflegerinnen, Lokführer oder Reinigungskräfte.
Dribbusch erklärt diese Verschiebung damit, dass einerseits der Dienstleistungsbereich immer knapper ausfinanziert ist, was den Handlungsdruck vor allem im Bereich Pflege sowie in Sozial- und Erziehungsdiensten erhöht. Andererseits wirkt sich der Strukturwandel im produzierenden Gewerbe arbeitskampfhemmend aus: Die zunehmende Tarifflucht durch die Arbeitgeber schafft große Unterschiede zwischen den Arbeitsbedingungen in den einzelnen Betrieben.
»Statt die Gegensätze unterschiedlicher Zielgruppen abbilden und vereinen zu wollen, muss die Linke den Blick für die Lohnabhängigenklasse als ihre zentrale Zielgruppe schärfen.«
Es ist richtig, die Klassenzusammensetzung zu untersuchen und danach zu fragen, wie es sich auf Arbeitskämpfe auswirkt, wenn die Anteile von weiblichen und migrantischen Beschäftigten zunehmen. Doch eine solche Untersuchung sollte sorgfältig erfolgen und nicht dem Ziel dienen, die arbeitende Klasse immer weiter auszudifferenzieren und einen moralischen Bewertungsmaßstab danebenzuhalten. Sozialistische Politik darf die politische Unterdrückung von Teilen der Arbeiterschaft aufgrund von Herkunft, Religion oder Geschlecht nicht aus dem Blick verlieren, sollte aber nicht die trennenden Merkmale zwischen den Lohnabhängigen in den Vordergrund stellen, sondern sie alle als Vertreterinnen und Vertreter ihrer Klasse ansprechen.
Denn es ist das Bürgertum, das seit jeher einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, Deutschen und Migranten, Migrantinnen mit guten und Geflüchteten ohne Sprachkenntnisse macht, um die Belegschaften zu spalten und ungleiche Bezahlung zu rechtfertigen. Klassenpolitik bedeutet aufzuzeigen, wer davon profitiert und wer nicht – und auf Grundlage dieser Interessenlage eine gemeinsame Handlungsfähigkeit herzustellen.
Die Studie behauptet im Titel, die Linke habe die Arbeiterklasse nicht verloren, liefert aber keine stichhaltigen Beweise dafür. Als Potenzialstudie kommt sie zudem über eine Beschreibung und Untersuchung des Linke-Wählerpotenzials nicht hinaus. Um zu erklären, warum dieses Potenzial nicht ausgeschöpft werden kann, ist sie, wie gesagt, das falsche Instrument. Dokumentiert wird stattdessen ein klassenpolitischer Voluntarismus in Partei und Studie gleichermaßen: Die Linke möchte die Partei der abhängig Beschäftigten sein.
Dabei wird eine zentrale Schwachstelle der Partei vernachlässigt: Die Orientierung auf verschiedene Zielgruppen führt nämlich im Parteialltag zu sich widersprechenden Forderungen – denken wir beispielsweise an das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) einerseits und die Forderung nach stärkeren Tarifverträgen andererseits.
Beim BGE, das vor einem Jahr durch einen Mitgliederentscheid Eingang in die Programmatik der Partei gefunden hat, handelt es sich um die monatliche Zahlung eines Geldbetrages, der, sofern er an alle gezahlt wird, entweder nicht bedingungslos oder nicht existenzsichernd sein wird. Eine solche Forderung schwächt die gewerkschaftliche Tarifpolitik, weil Arbeit in diesem Fall nicht mehr identitätsstiftend und existenzsichernd sein muss, sondern nun noch den Charakter eines Zuverdienstes hat. Die Orientierung auf ein BGE steht damit im geraden Gegensatz zum positiven Bezug auf Sozialstaat und Tarifverträge, wie er vor allem durch die gewerkschaftlich organisierten Mitglieder in der Partei vertreten wird.
Statt die Gegensätze unterschiedlicher Zielgruppen abbilden und vereinen zu wollen, muss die Linke den Blick für die Lohnabhängigenklasse als ihre zentrale Zielgruppe schärfen – dazu gehören das Dienstleistungsproletariat ebenso wie die Industriearbeiter, mit all den dazugehörigen Widersprüchen: Logistik-Beschäftigte beispielsweise, die vielleicht Witze über Veganer machen, KFZ-Schrauber, die lieber im SUV sitzen, als den ÖPNV zu nutzen, Kohlekumpel, die stolz darauf sind, dass ihre Arbeit zur Energiesicherung des Landes beiträgt. Auch mit einem widersprüchlichen Bewusstsein sind sie doch Teil der Klasse, die die Linke ansprechen muss.
Was folgt nun aus der Studie? Die Linke wäre schlecht beraten, der in ihr angedeuteten Empfehlung zu folgen und den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. Die immerzu sinkenden Umfragewerte warnen davor. Die Orientierung auf nur einen Teil der arbeitenden Klasse kann Folge von zu wenigen Ressourcen sein, sie sollte aber nicht noch zusätzlich mit empirischer Ungenauigkeit gerechtfertigt werden. Das wäre zudem das Gegenteil von (verbindender) Klassenpolitik.
Obwohl die Studie erhebliche Schwachstellen aufweist und nicht immer von den richtigen Prämissen ausgeht, leistet sie ihren Beitrag zur klassenpolitischen Debatte der Partei. Sie zeigt, wenn auch vermutlich ungewollt: Klassenpolitik ist mehr als eine politische Schwerpunktsetzung, die zu Widersprüchen zögerlich schweigt.
In der Geschichte sozialistischer Parteien haben Wortführer wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht die Sorgen und Nöte der Lohnabhängigen klar und kompromisslos an die Herrschenden adressiert. Sie erhielten dafür viel Anerkennung. Die heutige Linke dagegen verliert die Zustimmung der arbeitenden Klasse, weil sie die sozialen Belange anhand von Nebenfragen zum Thema macht, etwa durch das Grunderbe, den Menstruationsurlaub oder kostenlose Brillen für alle.
Diese Forderungen sind im Grunde nicht falsch, aber sie geben der Wut der Klasse keinen Ausdruck. Wer nur versucht, nicht anzuecken und nichts Falsches zu sagen, wird von abhängig Beschäftigten nicht als Interessenvertreterin, Anwältin oder Bündnispartnerin wahrgenommen. Klassenpolitik muss deutlich darüber hinausgehen und die arbeitende Klasse politisch so orientieren, dass sie handlungsfähig wird.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE.