19. Juli 2024
Die Linke droht, zu einer Splitterpartei zu zerfallen. Partei-Urgestein Michael Brie analysiert, warum Die Linke die Arbeiter verloren hat und wieso der Austritt von Sahra Wagenknecht die Partei nicht einen konnte.
Mit der Abspaltung des BSW habe sich Die Linke ihre Chance auf die Unterstützung von »linkskonservativen« Arbeiterinnen und Arbeitern verbaut, so Brie.
Die Führung der Partei Die Linke brachte das Ergebnis der Europa- und Kommunalwahlen am Abend des 9. Juni im ersten Satz ihres Briefes an die Mitglieder der Partei prägnant so auf den Punkt: »Die Linke ist in einer herausfordernden Lage.« Dies war wohl auch der erste Gedanke des Kapitäns der Titanic, nachdem ein Eisberg den Rumpf des Ozeanriesens in ganzer Länge aufgerissen hatte. Er hatte einfach den falschen Kurs zu falscher Zeit gewählt. Wie aber konnte es dazu kommen, dass die Linke einen Weg wählte, der ihr fast jeden politischen Einfluss raubt, nachdem sie doch 2005 so fulminant gestartet war? Ich werde dazu sechs Thesen formulieren.
Zunächst einmal muss man sich bewusst machen, dass das Ergebnis der Wahlen für Die Linke das Resultat einer seit vielen Jahren bewusst gewählten Strategie ist. Es war kein Verkehrsunfall und keinesfalls durch mangelnde Vermittlung des »Markenkerns« der Partei bedingt. Im Gegenteil: Man kann deshalb das Ergebnis von 2,7 Prozent der für Die Linke bei den Europawahlen abgegebenen Stimmen durchaus als Erfolg der Parteiführung und ihrer Wahlkampfstrategen bezeichnen. Es gelang, bei Frauen bis 25 Jahren einen Anteil von 8,2 Prozent zu erreichen und den Grünen und der SPD Wählerinnen und Wähler abspenstig zu machen, wenn auch nur jeweils 40.000 beziehungsweise 10.000.
»Die Unterstützung der Linken nach 2022 innerhalb der akademischen Mittelklasse ist konstant geblieben. Verloren hat die Partei unter Zugehörigen der Arbeiterklasse.«
Mehr noch: Der Anteil der Höherqualifizierten an der realen Wählerschaft der Linken und an jenen von ihnen, die in Metropolregionen wohnen und denen es wirtschaftlich gut geht, ist gestiegen. Die Wählerschaft ist zudem in ihren Einstellungen deutlich homogener geworden. Wie der Sozialwissenschaftler Carsten Braband in seiner Analyse der Ergebnisse der Europawahl mit Blick auf Die Linke feststellt, ist die Unterstützung der Linken nach 2022 innerhalb der akademischen Mittelklasse konstant geblieben. Verloren hat die Partei unter Zugehörigen der Arbeiterklasse und Menschen ohne universitäre Qualifikation.
Das Elektorat der Linken ist 2024 akademischer denn je. Dezidiert linke Parteien in Europa der letzten Jahrzehnte waren aber vor allem dann erfolgreich in ihrer Mehrheit, wenn sie Lohnarbeitende aus dem Produktions- und Dienstleistungsbereich sowie Angestellte aus sozialen und kulturellen Berufen für sich gewinnen konnten. Die früheren Differenzen in der Frage der Migration, die die Wählerschaft wie auch die Partei selbst prägten, sind weitgehend verschwunden. Die beschlossenen und kommunizierten Positionen der Partei und die der erreichten Wählerschaft decken sich nun. Dies wurde nicht zuletzt dadurch möglich, dass 1,3 Millionen Wählerinnen und Wähler abwanderten und der LINKEN nur 1,01 Millionen Stimmen verblieben. Über ein Drittel wandte sich dem BSW zu. Das waren fast so viele, wie sich entschieden, doch Die Linke zu wählen. Noch einmal 30 Prozent früherer Wählerinnen und Wähler nahmen schlicht an der Wahl nicht teil, 11 Prozent entschieden sich, die AfD zu wählen, so Infratest Dimap. Noch so ein »Sieg« und Die Linke ist verloren.
Der Erfolg der Parteiführung der Linken und ihrer Strategen hat ganz offensichtlich eine Kehrseite: So fein wie progressiv die erzielte Wählerschaft erscheinen mag, so klein war sie aber auch, als es am 9. Juni zum Schwur kam. Die Wahlen zum Europaparlament haben gezeigt: Herausgekommen für Die Linke ist eine weitgehend homogene, aber für den dauerhaften Bestand als bundesweite Partei viel zu kleine Wählerschaft. Man ist immer mehr unter seinesgleichen: Gebildet, urban, weltoffen und linksorientiert. Es scheint, man ist dem Rat von Bertolt Brecht an die Regierung der DDR gefolgt und hat sich von Teilen des eigenen Wahlvolks abgewandt, um sich ein anderes zu wählen, das aber die Wahl in großer Mehrheit nicht annahm. Man hat »klassenverbindende Politik« propagiert und klassenspaltend agiert.
Die Führung der Linken sieht die Hauptursache für das Wahlergebnis vor allem in einem jahrelang öffentlich ausgetragenen innerparteilichen Konflikt, der Abspaltung des BSW und dem damit einhergehenden Verlust des Fraktionsstatus im Bundestag. Das habe der öffentlichen Wahrnehmung der Partei geschadet und dazu geführt, dass die inhaltliche wie strukturelle Fortentwicklung zurückfiel und die Partei ihr Profil nicht schärfen konnte. Viele Wählerinnen und Wähler wüssten nicht mehr, wie sich die Partei »zu wichtigen Fragen und aktuellen Auseinandersetzungen« positioniert und ob sie imstande sei, sich »für ihre Interessen« einzusetzen. Die genannten Faktoren mögen zwar die geringe Fähigkeit erklären, Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, ihre Stimme für Die Linke abzugeben. Diese Analyse verkennt aber, dass die Abwanderungen seit einer ganzen Reihe von Jahren zu einem großen Teil genau dadurch erklärt werden können, dass diejenigen früheren Wählerinnen und Wähler der Linken, die sich in großer Zahl für das BSW entschieden oder Wahlenthaltung übten, glasklar erkannt hatten, welche Position diese Partei »zu wichtigen Fragen« hat und wo sie in »aktuellen Auseinandersetzungen« steht.
Carsten Braband zeigt auf, dass sich die Partei mit ihrem Eintreten für legale Fluchtwege und die humanitäre Aufnahme von Geflüchteten tatsächlich dafür einsetzt, Zuwanderung zu erleichtern. Dieser Positionierung in der Migrationspolitik habe man mit der Aufstellung der als Seenotretterin bekannten Carola Rackete bei der EU-Wahl »noch einmal zusätzliches symbolisches und personelles Gewicht verliehen«. Braband fügt hinzu, dass man seit 2017 mehr Befürwortende einer restriktiven Zuwanderungspolitik verloren habe, als man progressive Wählerinnen und Wähler hinzugewinnen konnte. Hinzu kommt die Profillosigkeit in Bezug auf den Ukraine-Krieg, einer zweiten brennenden Zeitfrage. Man hat die Deutung des Krieges als Angriffskrieg Russlands übernommen, den interimperialistischen Charakter verdrängt und zur Mäßigung bei den Waffenlieferungen aufgerufen.
Wieso aber hat Die Linke seit vielen Jahren per Beschluss auf Parteitagen und durch ihren Vorstand eine Strategie verfolgt, die sie an den Rand des Abgrunds und vielleicht schon darüber hinaus getrieben hat? Im Folgenden wird versucht nachzuweisen, dass dies die Konsequenz dessen war, dass sie die Sicht von unten auf die kapitalistische Konkurrenz- und Klassengesellschaft verlernt hat und linkslibertäre Positionen in den Führungsetagen der Linken vorherrschend wurden. Und dies begann damit, dass man die liberale Deutung von »progressiv« und »konservativ« übernommen und damit große Teile der lohnarbeitenden Klassen als »konservativ« abgeschrieben hat.
Die Begriffe »progressiv« und »konservativ« sind aber im Zeitalter des Neoliberalismus trügerisch geworden. Die Herrschenden haben das Libertäre in ihr Projekt übernommen und genau damit den Durchmarsch des Neoliberalismus erst ermöglicht. Dieser Verwirrung muss begegnet werden, wenn linke politische Kräfte einen Ausweg suchen. Konfuzius hatte mit gutem Grund die Aufgabe, »die Namen richtigstellen« an den Anfang jedes politischen Handelns gestellt: »Stimmen die Namen und Begriffe nicht, so ist die Sprache konfus. Ist die Sprache konfus, so entstehen Unordnung und Misserfolg.« In ihrer Analyse Triggerpunkte identifizieren Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser »progressive« Positionen als Forderungen, die Ungleichheit kritisieren. Dabei werden vier Ungleichheitsdimensionen ins Zentrum gerückt: Fragen der Umverteilung von Reichtum, Migration, Gender und Klima. »Progressiv« sind dann jene Haltungen, die umverteilungsaffin, migrationsfreundlich sowie anerkennungs- und transformationsbereit sind. Dabei stellt sich die Frage, ob es wirklich »progressiv« ist, wenn man daran zweifelt, dass sich gesellschaftliche Anerkennung und Verteilung keinesfalls nach der Leistung richten sollte. Und ist es »konservativ«, wenn man die These in Frage stellt, dass jede Art von Migration eine »Bereicherung« darstellt?
Eindeutig ist der Befund von Mau, Lux und Westheuser, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik keinesfalls in sich polar gegenüberstehende Lager der »Progressiven« und der »Konservativen« gespalten ist. Sie kommen zu dem Schluss: »Die Meinungslandschaft ist von einer Klassenspezifik gekennzeichnet, aber nicht von einer Klassenpolarisierung. Damit ist gemeint, dass die Einstellungen in allen vier Arenen systematisch mit der Klassenlage zusammenhängen; keine der Arenen ist aber so verfasst, dass sich zwei Klassen als Antagonisten gegenüberstehen.« Während in der Frage von Umverteilung vor allem die Klassenposition ausschlaggebend ist, ist es bei der Frage von Migration stärker noch die Bildung, während es bei Gender-Fragen eher das Alter ist.
Bezogen auf die Umverteilungsfrage wird deutlich, dass zwei soziale Gruppen, die in allen drei anderen Ungleichheitsfragen weit auseinander sind, ähnlich kritisch sind – die sogenannten kulturellen Experten (nicht zuletzt Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter) einerseits und die Beschäftigten aus dem Dienstleistung- sowie (etwas abgestuft) dem Produktionssektor andererseits. In der Forderung nach Verringerung sozialer Ungleichheit mit den gehobenen kulturellen Dienstleistern vereint, ist die nichtakademische Arbeiterschaft deutlich skeptischer als diese, was die Frage verstärkter Migration oder Beschleunigung des ökologischen Umbaus betrifft. Und während die Arbeitgeber und die Selbständigen wenig Grund zu verstärkter Umverteilung sehen, liegen sie mit Blick auf die anderen Ungleichheitsfragen zwischen Produktions- und Dienstleistungsarbeitern einerseits und den kulturellen Experten andererseits.
Die 2007 vorgenommene Auswertung einer Studie zu soziokulturellen Milieus, die Mitte der 2000er Jahre im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt worden war, war bezogen auf die Bundesrepublik zu dem Befund gekommen, dass sich in den Mittelschichten eine Polarisierung zwischen einem marktwirtschaftlich orientierten, gemäßigt autoritären Lager und einem sozial-libertären Lager vollzieht. Ersteres rekrutiert sich aus dem privatwirtschaftlichen und unternehmerischen Bereich, letzteres aus den kulturellen und sozialen Dienstleistungen. Jeder dieser Sektoren hat eine je eigene Logik.
Die Spaltung vollzieht sich entlang der Frage, wie stark der Staat wirtschaftlich intervenieren soll und wie sehr man eine starke politische Führung über eine demokratische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger priorisiert. Je stärker staatliche Eingriffe in die Wirtschaft eingefordert wurden, desto stärker wurde auch nach demokratischer Beteiligung verlangt. Und je konsequenter die Freiheit der Märkte verlangt wurde, desto autoritärer waren die Ansichten. Während die bessergestellten Gruppen der Gesellschaft in der sozialen Frage relativ stark und in den anderen Ungleichheitsfragen moderat auseinander liegen, sind sich, so der damalige Befund, die weniger gut Gestellten weitgehend einig in ihren Werteeinstellungen und Erwartungen an Staat und Gesellschaft. Für sie stellt sich die Gesellschaft als sozial ungerecht und wenig demokratisch dar.
»Eine linke Einheit mit den Lohnarbeitenden herzustellen, ist deutlich leichter bei jenen Fragen, die bei den Bürgerinnen und Bürgern weitgehend unumstritten sind. Sie wird auf die Probe gestellt, wenn gegensätzliche Positionen aufeinanderprallen. Und bei solchen Punkten hat die Führung der Linken versagt.«
Linkslibertäre Positionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Kritik an Ungleichheit entlang der genannten vier Dimension (oder auch anderer) aus dem Kontext der kapitalistischen Klassengesellschaft herauslösen und verabsolutieren. Sie werden damit zu (schlechter) Ideologie und verkennen – um es mit Adorno zu sagen – den »Doppelcharakter des Fortschritts, der stets zugleich das Potential der Freiheit und die Wirklichkeit der Unterdrückung« in sich trägt. Die vorbehaltlose Bejahung jeder Verteilung von Reichtum als der nach den Bedürfnissen, die bedingungslose Begrüßung von Einwanderung, die ständige Heraushebung der Genderdifferenzen in Sprache und Kultur sowie die Privilegierung der Ökologie gegenüber sozialen Fragen werden als »progressive« Haltungen anerkannt. Wer diesen Positionen nur bedingt oder nur teilweise zustimmt, wird als konservativ abgewertet.
Genau diese bedingte oder teilweise Zustimmung ist aber die vorherrschende Sichtweise der Lohnarbeitenden in der Bundesrepublik und weit darüber hinaus. Sie ziehen ihre Forderung nach Anerkennung aus eigener Leistung; sie wägen ab, ob ihnen Respekt gezeigt wird; sie fragen, was welche Einwanderung und welche Art von »grüner« Transformation in einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft für sie bedeutet. Und sie müssen es tun, weil ihnen immer wieder Respekt versagt wird, weil sie es sind, die angesichts des Macht- und Eigentumsmonopols im Kapitalismus die Rechnung bezahlen, und ein wirklicher ökologischer Richtungswechsel nicht in Sicht ist, für den auch die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden, damit er nicht zum asozialen Kahlschlag wird. Einem bedingungslosen Grundeinkommen können sie anders als der bedarfsorientierten Grundsicherung nichts abgewinnen. Das arbeiterliche Bewusstsein denkt Rechte und Pflichten zusammen.
Eine linke Einheit mit den Lohnarbeitenden herzustellen, ist deutlich leichter in ruhigen Zeiten und bei jenen Fragen, die bei den Bürgerinnen und Bürgern bis auf Nuancen weitgehend unumstritten sind. Sie wird auf die Probe gestellt, wenn die Gesellschaft in heftige krisenhafte Anspannung versetzt wird, wenn gegensätzliche Positionen schmerzhaft aufeinanderprallen, bei den Triggerpunkten. In genau solchen Zeiten und bei solchen Punkten hat die Führung der Linken seit 2015 drei Mal versagt – im »Sommer der Migration«, als der Anschein erzeugt wurde, offene Grenzen seien eine reale unmittelbare Option der Solidarität, in der Pandemie, als jede überzeugende Kritik an der Gleichschaltung der öffentlichen Meinung und harter, wie sich später herausstellte, unnötiger Eingriffe unterblieb, und im Ukraine-Krieg, als die herrschende Deutung des Wesens dieses Krieges als Angriffskrieg Russlands übernommen wurde, um den interimperialistischen Charakter dieses Konflikts zu vernachlässigen. Dieses dreifache Versagen hat zur Spaltung der Linken geführt und ihr enorm an Ansehen in der lohnarbeitenden Klasse gekostet. Sie wurde als zu leicht, sprich als zu abgehoben und libertär befunden.
»Es gibt einen Konservatismus der Herrschenden, die ihre Macht- und Eigentumsprivilegien bewahren wollen, und einen Konservatismus der Lohnabhängigen, die ihre hart erkämpften sozialen Errungenschaften verteidigen.«
Im Brief des Netzwerk Progressive Linke nach den Europawahlen wird die Forderung erhoben, »einen klaren Schnitt« zu ziehen »mit dem raunenden Antikapitalismus und mit dem opportunistischen Versuch, Klassenbindung über das Andocken an Vorurteile, Ängste und rechte Illusionen zu simulieren«. Lenin paraphrasierend kann man darauf nur antworten: Wer Politik nur mit jenen machen will, die keine Vorurteile, Ängste und Illusionen haben, der versteht nichts von wirklicher Politik. Lenin wusste: »Massenkampf« ist nur möglich, wenn Gruppen, die voller Vorurteile sind, mit diesen daran teilnehmen. Die »Vorurteile« selbst sind Produkt der Klassen- und Konkurrenzgesellschaft, in der wir leben. Und es ist auch ein Vorurteil zu glauben, irgendjemand sei frei davon. Kein Wunder, dass sich jene, die aus der Arbeiterklasse kommen, von solchen Linken verachtet fühlen. Aufgabe der Linken ist es, diesen Kampf unter den gegebenen Bedingungen und gemeinsam mit jenen, die durch sie geprägt sind, zu führen, sprich, im Dialog mit den Lohnarbeitenden eine linke solidarische Richtung aufzuzeigen und dabei die eigenen Vorurteile kritisch zu reflektieren.
Neuere Untersuchungen, die in einer Vielzahl europäischer Staaten mit je unterschiedlichen Modellen von Sozialstaat oder wohlfahrtsstaatlicher Regulierung durchgeführt wurden, kommen mit Blick auf die Differenzen zwischen den Milieus der Klassengesellschaft zu dem Schluss, dass die Mittelklasse in Bezug auf Verteilungsfragen gespalten ist und hier sehr heterogene Positionen vertreten werden. Die Konfliktlinie verläuft also nicht mehr nur zwischen Ober- und Unterschicht. Um diese Spaltungslinien darzustellen, werde ich im Weiteren die Pole individuellen Freiheitsrechte vs. kollektive Schutzrechte benutzen, was die Dichotomie von Universalismus und Partikularismus aufgreift. Zugleich werde ich auch die Begriffe des Libertären wie Konservativen verwenden, was einschließt, die Legitimität des Konservatismus der Lohnarbeitenden anzuerkennen, die sich gegen ihre ökonomische, soziale und kulturelle Abwertung auflehnen. Es gibt einen Konservatismus der Herrschenden, die ihre Macht- und Eigentumsprivilegien bewahren wollen, und einen Konservatismus der Lohnabhängigen, die ihre hart erkämpften sozialen Errungenschaften verteidigen. Linke politische Kräfte haben die Aufgabe, diese Verteidigung in solidarische Bahnen zu führen und dagegen zu kämpfen, dass er von rechts okkupiert und monopolisiert wird.
»Die Botschaft, die Linkspartei habe die Arbeiter eigentlich nicht verloren, steht in direktem Kontrast zu dem realen Wahlverhalten der Arbeiter bei der EU-Wahl.«
In der aktuellen Konstellation sind drei unterschiedliche Klassenbündnisse möglich, auf deren Basis eine mehrheits- und hegemoniefähige Politik angestrebt werden kann: Ein Oben-Mitte-Bündnis mit libertär-marktzentrierter Orientierung, ein Oben-Unten-Bündnis mit marktzentrierter nationalistischer Ausrichtung und ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis, das Schutz mit libertären Forderungen zu verbinden sucht. Unter allen drei Bündnissen ist ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis am schwierigsten zu erreichen. Denn man ist sich zwar in Fragen des Sozialstaats und der staatlichen Intervention in den Markt größtenteils einig, in Fragen der individuelle Freiheitsrechte und der kollektiven Schutzrechte aber gespalten. Und da genau letzterer Konflikt gegenwärtig dominiert, ist die Herstellung eines Mitte-Unten-Bündnisses besonders schwierig, während die des neoliberalen Oben-Mitte-Bündnisses oder des nationalistischen marktorientierten Oben-Unten-Bündnisses – mit Abstrichen – deutlich einfacher ist. In der neoliberalen Ära hat sich der Machtblock weitgehend auf ein libertär-marktorientiertes Oben-Mitte-Bündnis verständigt, das nun von rechts herausgefordert wird, während ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis in fast allen Ländern schwach ist.
Die Ursache dafür ist, dass Gruppen mit niedrigerem Einkommen und ohne Hochschulbildung in der Umverteilungsfrage nach links tendieren, aber in anderen Ungleichheitsfragen einer gesellschaftlichen Regulierung gegenüber offen eingestellt sind, sprich: vor allem ausdrücklichen Schutz erwarten und politisch heimatlos sind und deshalb auch zur Wahlabstinenz oder Wechselwählerschaft tendieren. Ungeachtet dieser Schutzerwartung sind aber die Arbeiterschaft und die unteren Angestellten mehrheitlich weder homophob noch ausländerfeindlich oder blind für ökologische Fragen. Es ist keine Nein-, sondern vor allem eine Ja-aber-Position. Der Schwerpunkt der rechten Wählerschaft liegt bei den Gruppen, die über relativ hohes ökonomisches Potential, aber nicht über Hochschulbildung verfügen. Die früheren Wählerinnen und Wähler sozialdemokratischer oder anderer linker Parteien sind keinesfalls mehrheitlich in das radikal rechte Lager übergelaufen. Wer ihnen aber im Namen der Linken offene Grenzen als »grenzenlosen Pragmatismus« (Christoph Spehr) verkaufen will, der verkauft sie für grenzenlos naiv und entfremdet sie von der Linken. Und wo sollen Menschen willkommen sein, wenn nicht in einer lebenswerten Heimat, die es zu erhalten und zu verschönern gilt?
Die Partei Die Linke hatte seit 2005 bis 2017 eine sehr heterogene Wählerschaft. Dies teilte sie mit der PDS als einer Vorgängerpartei im Osten Deutschlands. Bei der Bundestagswahl von 2009, als die Partei Die Linke ihr bisher bestes Ergebnis von 11,9 Prozent erzielte, hatten sich unter den Wählenden 18 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter, 11 Prozent der Angestellten, 7 Prozent der Selbständigen, 12 Prozent der Rentnerinnen und Rentner und 25 Prozent der Arbeitslosen (mehr als bei SPD und CDU/CSU) dafür entschieden, der Linkspartei ihre Stimme zu geben. Fast gleichmäßig haben Personen mit sehr unterschiedlichen Bildungsabschlüssen Die Linke gewählt: 12 Prozent mit Hauptschulabschluss, 14 Prozent mit mittlerer Reife, 12 Prozent mit Abitur und 11 Prozent mit Hochschulabschluss. Diese Heterogenität ist die Bedingung des Erfolgs jeder Partei, die über eine enge Nische hinauswirkt und sich deshalb dauerhaft zu etablieren vermag.
Mau, Lux und Westheuser weisen nach, dass die soziale Heterogenität der Wählerschaft dazu führte, dass die Wählerschaft der Linken zwar bis in die späten 2010er Jahre in der Umverteilungsfrage ganz in Übereinstimmung mit den Positionen der Partei selbst dezidiert linke Positionen vertrat, aber mehr als bei jeder anderen Partei in den drei anderen Arenen – Migration, Gender und Klima – faktisch über das ganze Spektrum von »konservativ« bis »progressiv« verteilt war. In der Partei seien, so Mau, Lux und Westheuser, migrationsskeptische bis migrationsoffene Haltungen vertreten. Gleiches zeige sich bei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, wo anerkennungsbereite Positionen einem »Wagenknecht-Hügel« gegenüberstünden, wo man der diversitätssensiblen »Lifestyle-Linken« mit Skepsis begegnet. Bei der Klimapolitik zeige sich innerhalb der Wählerschaft wiederum ein Spektrum, das von politischer Nähe zur AfD-Wählerschaft bis zu einer stark klimaprogressiven Gruppe mit Nähe zu den Grünen reicht. Abseits der sozialen Frage zerfalle das Elektorat der Linkspartei in mehrere Teilfraktionen. Was der Führung der Linken fehlte, war die Fähigkeit zu dialektischer Politik, die noch aus dem Gegenwind des herrschenden Finanzmarkt-Kapitalismus, der auch in den Einstellungen der lohnarbeitenden Klasse verkörpert ist, die Kraft zieht, gegenzuhalten.
Bei den Wahlen zum Europaparlament haben sich überdurchschnittlich viele Arbeitslose von der Linkspartei abgewandt, aber auch Gewerkschaftsmitglieder, Arbeiter und Personen mit mittleren Bildungsabschlüssen. Insgesamt waren es vor allem Bürgerinnen und Bürger, die ihre wirtschaftliche Lage als weniger gut oder schlecht ansahen. Und während das BSW bei allen sozialen Gruppen bis auf Beamte und Landwirte weitgehend gleiche Anteile erhielt, erhielt es geradezu spiegelbildlich zu den Verlusten der Linken besonderen Zuspruch bei jenen, die sich in einer angespannten und schwierigen sozialen Situation sehen. Besonders hervorstechend ist, dass die Linke von 4 Prozent derer gewählt wurden, die sich zur muslimischen Konfession bekennen, aber 19 Prozent mit muslimischer Konfession das BSW wählten, mehr als jede andere Partei. Während medial das BSW geradezu als ausländerfeindlich dargestellt wird, ist ihr Anteil an muslimischen Wählerinnen und Wählern also drei Mal höher als sein Gesamtanteil an den insgesamt abgegebenen Stimmen, während er bei den Grünen nur ein Drittel beträgt, also weit unterproportional ist.
»Es entstand nach 2009 kein strategisches Zentrum mit der notwendigen Führungs- und Integrationsfähigkeit gegenüber den auseinandertreibenden Kräften.«
Entgegen medial immer wieder kolportierten und in Teilen der Linken bereitwillig aufgegriffenen Aussagen hat das BSW fast ein Viertel seiner Stimmen von früheren SPD-Wählerinnen und -Wählern und knapp 20 Prozent von denen der Linken erhalten, also vor allem im linken Feld reüssiert. Nur rund 7 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Grünen beziehungsweise der AfD wandten sich dem BSW zu, jeweils rund 10 Prozent von CDU/CSU und FDP. Der Generalsekretär des BSW, Christian Leye, äußerte sich nach den Wahlen zum Europaparlament so über seine Partei: »Im klassischen Sinne sind wir eine linke Partei. Denn wir vertreten das, was früher links war – soziale Gerechtigkeit, Umverteilung und Frieden. Aber für viele Menschen außerhalb der Berliner Politikblase haben die Begriffe links und rechts ihre Bedeutung verloren. Für sie steht links für eine bevormundende Politik von oben herab, die ihre Lebensbedingungen nicht verbessert.«
Die Europawahlen haben die Annahmen einer Studie über das Wählerpotential der Linken der Rosa-Luxemburg-Stiftung von 2023 fast durchgehend falsifiziert. Dort war man davon ausgegangen, dass sich das Wählerpotenzial von BSW und Linkspartei weniger als erwartet überschneiden würde. Das BSW würde vor allem unter Sympathisantinnen und Sympathisanten von AfD und FDP reüssieren. Außerdem bekräftigte man, das Potenzial der Linkspartei sei besonders im Osten stabil und hoch, während das dortige Potenzial für das BSW überschätzt würde. Die Botschaft, Die Linke habe die Arbeiter »eigentlich« nicht verloren, steht in direktem Kontrast zu dem realen Wahlverhalten der Arbeiter am 9. Juni 2023.
Mit der Abspaltung des BSW ist eine neue Partei entstanden, die der Linken harte Konkurrenz macht. Diese Spaltung hat getrennt, was bei der Gründung der Partei Die Linke verbunden wurde – ein breites Spektrum mit sehr unterschiedlichen Positionen aus PDS, SPD, Grünen, gewerkschaftlichen Kreisen, sozialen Bewegungen, kommunistischen Gruppen, linken Aktivistinnen und Aktivisten. Mit ihrer klaren Frontstellung zu Neoliberalismus, Finanzmarkt-Kapitalismus, Imperialismus und Krieg gab es hohe Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten traten in dem Maße in den Hintergrund, wie neue Probleme sich in den Vordergrund schoben. Auslöser war der Zuzug vieler Migrantinnen und Migranten 2015 und danach die Pandemie und der Ukraine-Krieg. Mehrheiten auf Parteitagen und in der Führung der Partei bezogen nun Positionen, die eine Absage an jene unter den Wählerinnen und Wählern darstellten, die kollektiven Schutz einforderten, wirkliche Friedenspolitik verlangten und früher einen größeren Teil der Wählerschaft ausmachten.
Die Aufforderung an Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger sowie jene, die die Klassenfrage in den Vordergrund stellten, sich den Mehrheitspositionen von Parteitag und Parteivorstand in Fragen von Migration oder Ukraine-Krieg unterzuordnen, hätte von diesen verlangt, die Abkehr von der sogenannten linkskonservativen Wählerschaft zu vollziehen. Umgekehrt vertrat gerade Sahra Wagenknecht Positionen, die im linkslibertären Milieu auf massive Ablehnung stoßen mussten. Auf dem Erfurter Parteitag im Juni 2022 hatten die Delegierten jenen Strömungen, die in Fragen des Ukraine-Krieges eine stärkere Verurteilung nicht nur der russischen, sondern auch der westlichen Politik anmeldeten und klassenbezogen argumentierten, eine klare inhaltliche wie personelle Absage erteilt und vermittelnde Ansätze abgelehnt. Dies hat die Axt an die Einheit der Partei gelegt und ihre Spaltung vorangetrieben. Und als der Parteivorstand den Angriff auf Wagenknecht und Schwarzer als Organisatorinnen der Demonstration vor dem Brandenburger Tor am 25. Februar 2023 als Betreiber eines gemeinsamen Marschierens mit Faschisten deckte, war der Schwesternmord auf offener Bühne vollzogen und die Parteispaltung unvermeidlich geworden.
Die Versuche zu vermitteln, waren endgültig zum Scheitern gebracht worden. Die Linke als klassenverbindendes Projekt eines breiten solidarischen Mitte-Unten-Bündnisses wurde von zwei Seiten zerstört. Die objektiven Ursachen liegen in der ungeheuren Spannbreite jener Positionen, die in einer Situation hoher Komplexität hätten verbunden werden müssen. Die subjektiven Gründe liegen in einer eklatanten Führungsschwäche, die genau in dem Moment einsetzte, als die Partei selbst die größten Erfolge hatte, und nie überwunden wurde. Es entstand nach 2009 kein strategisches Zentrum mit der notwendigen Führungs- und Integrationsfähigkeit gegenüber den auseinandertreibenden Kräften. Gerade eine Partei, die ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis anstrebt, braucht aber ein solches starkes Zentrum.
Die Linke und das BSW sehen sich nun in einer jeweils völlig unterschiedlichen Situation. Bei der Bildung des BSW folgt Sahra Wagenknecht einer Strategie, die auch Antonio Gramsci im Auge hatte, als er moderne Parteien mit Armeen verglich. Er machte darauf aufmerksam, dass es leichter ist, ausgehend von einem Generalstab »mit einer in hohem Maß kohäsiv wirksamen, zentralisierenden, disziplinierenden und (vielleicht gerade deshalb) erfinderischen Kraft begabt« und »ausgebildeten Offizieren« eine Armee aufzustellen, als »Offiziere auszubilden«. Das BSW wird von oben aufgebaut. Zunächst wird ein hinreichend breites »Offizierskorps« gebildet, bevor die Partei in der Breite geschaffen werden soll. Damit soll die Eigendynamik eines »Haufens« zuströmender Sympathisanten kontrolliert werden. Sahra Wagenknecht hat aus dem Projekt Aufstehen gelernt. Ein größerer Teil gut ausgebildeter und erfahrener »Offiziere« des BSW kommt aus der Mutterpartei Die Linke und aus einer Reihe anderer Zusammenhänge.
Ganz anders stellt sich die Lage für Die Linke dar. Genau in dem Augenblick, wo sie, so Gregor Gysi, »eine strukturelle, politische und personelle Erneuerung« braucht, ist ein entscheidender Teil des dafür notwendigen Offizierskaders – um Gramscis militärische Sprache weiter zu benutzen – von Bord gegangen und Teile der Schiffsmannschaft befinden sich in heller Auflösung, andere warten noch ab bis zum Parteitag im Oktober dieses Jahres, wieder andere setzen sich mit aller Kraft für die Stabilisierung vor Ort ein. Die innerparteiliche Formierung derer, die um Die Linke als sozialistische, mit den Lohnarbeitenden verbundene und von ihnen ausgehende Kraft kämpfen, ist bisher nicht gelungen. Ob es vor diesem Parteitag doch noch gelingt, das schon lange geforderte »strategische Zentrum« zu bilden und ob es noch jene Vermittlungsgruppe in hinreichender Größe und Disziplin findet, die dafür notwendig ist, ist völlig offen. Ohne dies aber wird – wie im Bauernkrieg – der »helle Haufen« auseinanderlaufen.
Über diese innerorganisatorisch sehr unterschiedliche Lage der Linken und des BSW hinaus gibt es auch Unterschiede im Feld des Parteienwettbewerbs. Die Linke scheint weiter dem Konzept der »disruptiven Erneuerung« zu folgen. Mario Candeias etwa fordert, die Linkspartei könne nur durch eine eindeutige Distanzierung zum Linkskonservatismus und eine neue Bündnispolitik zu einer ansprechenden Repräsentantin der gesamtgesellschaftlichen Linken werden. Für die Fortsetzung der bisherigen Linien sprechen auch die Stellungnahmen der Parteiführung nach den Wahlen sowie neuere Positionen zu Rassismus, Migration und Einbürgerung, wie sie jüngst von Janine Wissler vorgestellt wurden. Dieser Ansatz kann unter sehr bestimmten Bedingungen aufgehen. Das linkslibertäre Milieu ist groß genug, bezieht man es auf die soziokulturell »avantgardistisch« geprägten Gruppen oder die von Milieus von postmateriellen, expeditiven und neoökologischen Gruppen. Man sieht in skandinavischen linken Parteien ein Vorbild. In Deutschland ist aber das linkslibertäre Feld hart umkämpft. In ihm dominieren die Grünen, aber auch Volt oder die Piraten (zusammen entfielen auf letztere beiden Parteien fast 1,8 Millionen Stimmen bei der Europawahl) und andere. Es ist schwer vorstellbar, dass die Partei Die Linke bis zur Bundestagswahl 2025 in der Lage sein wird, so erfolgreich ihre Positionen in diesem Feld auszubauen, dass dies die notwendigen 5 Prozent der abgegebenen Stimmen sichert.
»Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die Lage, die Sichtweisen, den Stolz auf die eigene Leistung, die Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung der lohnarbeitenden Klassen in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen.«
Zugleich ist durch die Gründung des BSW und seine bisherigen und absehbaren Erfolge der Linken die Chance auf einen Erfolg bei einer möglichen Hinwendung zu »linkskonservativen« Milieus der Arbeiterinnen und Arbeiter weitgehend verbaut. Ihr eigenes Spaltungsprodukt verhindert dies. Wenn diese Einschätzung stimmt, dann kann am Ende Die Linke sich weder mit der disruptiven Verschärfung des linkslibertären Kurses noch mit einer Wende hin zu einem solidarischen Mitte-Unten-Bündnis kurz- und mittelfristig Chancen ausrechnen. Ihr Absturz in die bundespolitische Bedeutungslosigkeit wird, bleibt der Erfolg aus, dann kaum noch aufzuhalten sein. Der PDS half nach 1990 trotz nur 2,8 Prozent der Stimmen die alte Grundmandatsklausel, nach der drei Direktmandate ausreichen, um zumindest mit Gruppenstärke im Bundestag präsent zu sein. Doch diese Klausel wurde gerade abgeschafft, wobei das Bundesverfassungsgericht noch das letzte Wort hat.
Anders sieht auch in dieser Frage die Lage des BSW aus. Bezüglich des Zuspruchs durch Bürgerinnen und Bürgern steht das BSW schon jetzt deutlich besser da als Die Linke. Es hat ein Feld besetzt, in dem es wenig Konkurrenz gibt, aber viele Nicht- und Wechselwähler. Erst hat die SPD hier viele politisch Heimatlose hinterlassen, dann auch noch Die Linke. Verfolgt das BSW seinen jetzigen Kurs stabil weiter, wird es sich bis zur Bundestagswahl bundesweit etablieren. Auch beim BSW stehen Konflikte ins Haus, sei es mit Blick auf Regierungsbeteiligungen auf Landesebene. Sie sind aber wahrscheinlich beherrschbar. Angesichts der Tatsache, dass das BSW vor allem von links gewählt wurde, mit Abstrichen auch aus dem Feld derer, die sich als Selbständige und kleinere Unternehmer behaupten, könnte das BSW versuchen, das Profil als Partei der sozialen Gerechtigkeit, Demokratie und des Friedens weiter konsequent auszubauen. Das kann es aber nur, wenn es spätestens nach 2025 die Stärken auch von linkslibertären universalistischen Anliegen in sich aufnimmt. Es würde dann Hegel folgen und als »siegende Partei« den Pol, den sie vorher bekämpfte, integrieren. Tut das BSW dies nicht, dann wird es sich nicht behaupten können. Objektiv zumindest sind die Chancen des BSW, sich als integrative linke Kraft dauerhaft politisch zu behaupten, wesentlich besser als das der Linkspartei.
Linke Kräfte bedürfen unter dem überwältigenden Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse nach innen wie nach außen einer starken Identität. Diese können sie, so meine feste Überzeugung, nur in der sozialistischen Tradition, in der Tradition des Strebens nach einer solidarischen Gesellschaft als Alternative zur kapitalistischen Klassengesellschaft gewinnen. Dieser Bezugspunkt verlangt es, ganz »konservativ« die Klassenfrage zu stellen: Wem nützt es? Wessen Position in den Eigentums- und Machtverhältnissen wird gestärkt? Welche Wege öffnen zu sozialen, demokratischen, friedensorientierten Alternativen? Wenn solche Fragen im Zentrum stehen, hört die Berufung auf Sozialismus auf, eine bloße Phrase zu sein.
»Klassenverbindende Politik bleibt eine Phrase, wenn man gegen die Einstellungen in der Klasse konfrontativ agiert.«
Linke Politik, die die Sicht von »unten« auf die kapitalistische Klassengesellschaft nicht absolut ernst nimmt und als Ausgangspunkt ihrer Politik begreift, verfehlt ihre zentrale Aufgabe. Sie wird die realen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht für eine sozialistische Politik gewinnen können. Klassenverbindende Politik bleibt eine Phrase, wenn man gegen die Einstellungen in der Klasse konfrontativ agiert. Das Wesen einer sozialistischen Bewegung und Partei besteht in der Verbindung von realer Arbeiterbewegung, von realen sozialen Bewegungen und deren Anliegen mit dem Ziel der Schaffung solidarischer Gesellschaften. Rosa Luxemburg formulierte ihr Verständnis von sozialistischer, sprich revolutionärer Realpolitik, die im Kapitalismus auf die Überwindung des Kapitalismus zielt, folgerichtig so: »Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.« Diese Einheit braucht beides: Wirklichen Ausgangspunkt von der wirklichen lohnarbeitenden Klasse und dauerhafter Bezug auf das Ziel einer »Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller wird«. Eine sozialistische Partei ist wie ein Vogel und wird nur dann fliegen können, wenn sie zwei Flügel hat – den des klassenbasierten »Konservatismus« der populären Verteidigung der Interessen der Lohnarbeitenden und den emanzipatorischen Flügel, der den Horizont von Solidarität öffnet.
Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die genannten Fragen in keiner Weise zu leugnen, sondern sie ausgehend von den Lohnabhängigen her und mit ihnen gemeinsam zu stellen. Sie verlangt, die Lage, die Sichtweisen, den Stolz auf die eigene Leistung, die Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung der lohnarbeitenden Klassen in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen. Denn nur mit der lohnarbeitenden Klasse ist es möglich, dass Klimabewegung, Friedensbewegung, feministische, antirassistische und antifaschistische Bewegungen ihre Ziele erreichen können. Gelingt dies nicht, werden die lohnarbeitenden Klassen entweder ihr Schutzbedürfnis nur defensiv wahrnehmen können, resignieren oder sich der Neuen Rechten zuwenden. Radikale transformatorisch orientierte Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg ist nur möglich durch ein in den lohnarbeitenden Klassen verwurzeltes politisches Projekt. Ansonsten bleibt linke Politik das freundliche Gesicht des neoliberalen kapitalistischen Mainstreams und stärkt nolens volens die Rechte.
Nur in dem Maße, wie es gelingt, den Gegensatz linker Positionen zu denen des liberalen Mainstreams wie der Rechten ins Zentrum zu rücken, werden viele der Spannungen, die in der Wählerschaft linker Parteien und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern sowie vor allem auch in der Mitgliedschaft vorhanden sind, überbrückbar. Es ist diese linke Identität, die die Kraft gibt, sich hart gegen den Mainstream zu stellen und gleichzeitig einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zu entwickeln. Ohne eine tief verwurzelte sozialistische Identität kann der Anpassung an den liberalen Zeitgeist und der Disziplinierung durch ihn am Ende nicht widerstanden werden. Das Ringen um diese Identität ist deshalb für jede dezidiert linke Partei eine der wichtigsten Zukunftsfragen.
Michael Brie ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.