13. Juli 2024
Die Linke steckt in einer tiefen Krise. Damit sie gestärkt daraus hervorgeht, müssen wir jetzt um die Partei kämpfen. Ein Gastbeitrag.
Frischer Wind durch eine strategische Erneuerung der Partei.
Die Linkspartei kämpft ums Überleben. Einige haben die Hoffnung auf eine Erneuerung der Partei bereits aufgegeben, andere arbeiten mit immer mehr Kraft daran, dass eben diese Erneuerung doch noch gelingt. Es gilt anzuerkennen, dass die Bevölkerung das Vertrauen in die Partei verloren hat: Nur 6 Prozent der zur EU-Wahl Befragten glauben, dass die Linkspartei für soziale Gerechtigkeit sorgen wird. Dabei ist soziale Gerechtigkeit das Kernthema der Linkspartei. In Zeiten von massiven Reallohnverlusten wird die Partei offensichtlich nicht mehr als Protestpartei wahrgenommen, weshalb AfD, BSW und CDU von der Enttäuschung von der aktuellen Ampelpolitik stärker profitieren. Es ist fatal, dass Die Linke angesichts der unsozialen Politik der Ampel nicht mit Veränderung verbunden wird.
Wenn wir eine starke sozialistische Partei wollen, braucht es eine Kehrtwende in der Linkspartei. Weder ein neues Marketing-Team noch eine andere Schwerpunktsetzung im Wahlprogramm werden ausreichen, um das Vertrauen der Bevölkerung in linke Politik wiederzugewinnen. Um als glaubwürdige Vertreterin der Interessen der Lohnabhängigen wahrgenommen zu werden, braucht es vor allem eine strategische Neuausrichtung – und genau darüber sollte nun in der Basis sowie in Vorständen diskutiert werden. Die Linke muss sich verändern und der Jugendverband sollte ein Teil dieser Veränderung sein, immerhin verbuchte die Partei unter jungen Wählerinnen und Wählern stets die meisten Prozente. Um diese Veränderung zu erreichen, ist es unerlässlich, die Wurzeln der Strategie zu überdenken und neu auszurichten.
Im ersten Schritt braucht die Linkspartei eine gemeinsame Analyse, auf dem sie weitere Überlegungen aufbauen kann. Über eine vage Vorstellung von Sozialismus scheint die gemeinsame Zielsetzung nicht hinauszugehen. Man ist sich zwar einig, wohin es ungefähr gehen soll, doch in den Landtagswahlkämpfen wird besonders deutlich, dass die konkrete Politik, mit der man sich diesem Ziel nähern will, sehr divergent ist. Das verhindert eine konkrete sozialistische strategische Ausrichtung. Deshalb plädieren wir dafür, Klasse als Ausgangspunkt von Strategie und Praxis zu nehmen.
»Lohnabhängige stellen die Mehrheit in der Gesellschaft. Von ihrer Macht hängt auch die Realisierung sozialistischer Ziele ab.«
Grundlegend sollten wir Lohnabhängige in den Fokus linker Politik rücken. Sie stellen die Mehrheit in der Gesellschaft – von ihrer Macht hängt auch die Realisierung sozialistischer Ziele ab. Wir wollen die Gesellschaft nicht anhand nebeneinanderstehender Betroffenheiten einteilen, sondern anhand ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln. Dadurch wird unsere Politik nicht rein moralisch begründet, sondern basiert auf einer realen politischen Analyse.
Klasse hat das Potential, viele verschiedene Anliegen zu bündeln. So werden Krisen im Bereich Wohnen, Mobilität, Arbeit und Verteilung als Ausdruck von Klassengegensätzen enttarnt. Der Vereinzelung dieser Probleme wird eine Einordnung in die kapitalistische, neoliberale Wirtschaftsordnung gegenübergesetzt. Lohnabhängige dürfen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern grundlegende Gemeinsamkeiten müssen in den Fokus gerückt werden. Das bedeutet, dass wir uns unter konkreter Bezugnahme auf Unterschiede unter Lohnabhängigen für gemeinsame Interessen einsetzen wollen. Abstiegsängste dürfen nicht dazu führen, dass man nach unten tritt, sondern gemeinsam nach oben schreitet.
Für die Überwindung des Kapitalismus braucht es eine geeinte arbeitende Klasse. Statt Einzelinteressen zu betonen, muss die soziale Politik, die dem Großteil der Menschen zugutekommt, im Vordergrund stehen. Um dies zu erreichen, muss Die Linke ihre Politik auf konkrete und drängende Probleme der Lohnabhängigen ausrichten.
Ein zentrales Thema, das dabei besondere Aufmerksamkeit verdient, ist das Wohnen. Das derzeitige Programm der Partei wirkt wie ein Nebeneinander verschiedenster politischer Fragestellungen. Die Partei kann nicht weiter auf allen Hochzeiten tanzen, ohne dabei an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Fragt man Menschen auf der Straße, wofür die Linkspartei steht, fällt vielen nichts ein oder nur ein abstraktes Konzept. Die Linke muss also zu konkret fassbaren Anliegen der Lohnabhängigen arbeiten.
Die Wohnungsfrage ist ein solches Anliegen. Schaut man sich Orte an, an denen linke Kräfte Vertrauen gewinnen, arbeiten sie in der Regel zum Thema Mieten. Besonders in Großstädten bietet sich ein Fokus darauf an. Wohnen ist ein milieuübergreifendes Anliegen, das Interessengegensätze sichtbar macht. Außerdem kann die Wohnungsfrage auf lokaler Ebene angegangen werden. Gerade hier, also vor Ort und an der Basis, müssen wir Beziehungen zueinander und Gemeinschaft aufbauen. Der Stadtteil, der Kiez, die Stadt sind Orte, in denen die LINKE sich verankern kann.
»Die Linkspartei muss sich fragen: Welches Angebot macht sie Bürgerinnen und Bürgern, wenn die politische Durchsetzung ihrer Forderungen in den Parlamenten kaum möglich ist?«
Der Kampf für bezahlbaren Wohnraum ist ein linkes Gewinnerthema, aber nur, wenn die Partei dazu kontinuierlich, stetig und nah an den Menschen vor Ort arbeitet. Deshalb fordern wir, dass sie sich dort dafür einsetzt, dass Wohnen dem Markt entzogen und gemeinschaftlich organisiert wird. Ist die Miete bezahlbar – wie etwa auf dem Land – bietet sich eine andere Schwerpunktsetzung an, etwa Verkehr oder Gesundheit.
Die Linkspartei hat unter Bürgerinnen und Bürger ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil viele das Vertrauen in Politik grundsätzlich verloren haben. Die Arbeit der Partei hat für die Menschen oft keinen konkreten Nutzen. Die Linkspartei muss sich fragen: Welches Angebot macht sie Bürgerinnen und Bürgern, wenn die politische Durchsetzung ihrer Forderungen in den Parlamenten kaum möglich ist?
Wir glauben, dass die Grundausrichtung linker Praxis nicht in der parlamentarischen Arbeit liegen sollte, sondern in der Gesellschaft selbst. Sozialberatungen sind nicht nur als reine Dienstleistung zu verstehen, sondern als Möglichkeit, um Menschen ihre Ohnmachtsgefühle zu nehmen und langfristig eine Gegenmacht aufzubauen. Wenn Die Linke Mietberatungen, Sozialberatungen und Unterstützung bei BAFöG-Anträgen anbietet, hat sie dadurch nicht nur einen konkreten Nutzen für die Menschen, sondern gewinnt an politischer Glaubwürdigkeit, was für die langfristige strategische Ausrichtung zentral ist. Dabei sollte ein selbstermächtigender Anspruch verfolgt werden: Politik muss mit den Menschen und nicht nur für die Menschen gemacht werden.
»Nur eine politische Praxis, deren Fokus auf die Selbstermächtigung der Bevölkerung ausgerichtet ist, wird imstande sein, der Entfremdung entgegenzuwirken.«
Politikerinnen und Politiker haben eine andere Lebensrealität als der Großteil der Bevölkerung. In den letzten Jahrzehnten hat das zu einer massiven Entfremdung von Bürgerinnen und Bürgern geführt, die sich zu Recht fragen, wie Menschen, die ganz andere Probleme haben als sie selbst, für ihre Interessen kämpfen sollen. Nur eine politische Praxis, deren Fokus auf die Arbeit für die Bevölkerung und ihrer Selbstermächtigung ausgerichtet ist, wird imstande sein, dieser Entfremdung entgegenzuwirken. Gerade in Ostdeutschland wurde das in den letzten Jahrzehnten verfolgt, der Unterschied liegt jedoch in der Struktur. Denn es ist nicht irrelevant, wer die Beratungen durchführt und welchen Anteil sie an der Arbeit der Partei ausmacht. Deshalb glauben wir, dass Sozialberatungen ein wichtiger Teil der Arbeit von Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern sein sollten. Zum einen führt das dazu, dass Mandatsträgerinnen und Mandatsträger jetzt ganz konkret für die Bevölkerung verantwortlich sind und diesen Kontakt nicht hauptsächlich für die Entwicklung der eigenen Positionen nutzen. Der Zweck ist die Tätigkeit selbst. Zum anderen folgt daraus eine tatsächliche Verankerung vor Ort.
Konkrete Hilfe anzubieten, bedeutet für uns als sozialistische Partei aber auch, Menschen zu organisieren: Mieterinnen und Mieter gegen ihre Vermieter, Stadtteile gegen Gentrifizierung, Lohnabhängige gegen ihre Chefs. Denn dadurch entsteht ein neues Organisationsverständnis, an das sich Die Linke anpassen muss.
In Folge der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche sind Personen, die sich nicht als politisch bezeichnen würden, zusammen mit alteingesessenen Linken auf die Straße gegangen. Es waren die größten Massenmobilisierungen seit der Wende. Doch an der Stärke der AfD konnten diese Demonstrationen nichts ausrichten, das zeigten nicht zuletzt auch die Ergebnisse der EU-Wahl. Viele dieser neu politisierten Menschen sind nicht langfristig organisiert oder anderweitig politisch aktiv geworden.
»Es ist an uns, die Gemeinschaft zu schaffen, die der Kapitalismus uns raubt.«
Die Linke hat versucht, mit den sozialen Bewegungen zu verschmelzen und ist darin, ähnlich wie Podemos und Syriza, gescheitert. Unabhängig davon, wie groß der Anteil der Bevölkerung ist, der in Bewegungen aktiv ist, muss man festhalten, dass eine Verschmelzung mit Bewegungen die Partei nicht gestärkt hat. Handlungsfähig ist eine Partei dann, wenn die verschiedenen Ebenen effektiv ineinandergreifen: Wenn eine gemeinsame Vision mit einer Praxis verfolgt wird. Man kann nicht als Führungsebene allein eine Kampagne schmeißen und als Ortsverband ist man stärker, wenn man seine Strategie nicht alleine verfolgt.
Die Partei muss eine Partei der Aktiven sein, die offen für neue Mitglieder ist und sich dazu in der Lage sieht, sie niedrigschwellig einzubinden. Das bedeutet, zugängliche Angebote im vorpolitischen Raum anzubieten, aber auch eine Willkommenskultur zu leben, in der man kleine sowie große Erfolge feiert. Das bedeutet ein Ende der Fokussierung auf den Wahlkampf.
Wir müssen in den vorpolitischen Raum, um das gesellschaftliche Leben zu gestalten und uns dort sozialistisch positionieren. Das heißt auch: Gemeinschaft schaffen, der Entfremdung entgegenwirken und Communitys aufbauen. Gemeinsam Fußball spielen und den DFB beschimpfen, Filme schauen und die Kulturindustrie verteufeln, Anknüpfungspunkte suchen, die vermeintlich unpolitisch sind und den eigentlichen Kern unserer Politik zelebrieren: Menschen. Es ist an uns, die Gemeinschaft zu schaffen, die der Kapitalismus uns raubt. Gesellschaft zelebrieren bedeutet, ihr zu helfen.
Um als Partei der Lohnabhängigen glaubwürdig zu sein, braucht es eine andere Organisationsstruktur sowie politische Kultur. Ämter wie Mandate sollten zeitlich beschränkt und die Gehälter auf den Durchschnittslohn gedeckelt werden. Arbeiterinnen und Arbeiter sollten die Partei als Ort ihrer Selbstorganisation begreifen und dazu befähigt werden, selbst in die Parlamente zu gehen. Beides bedingt sich gegenseitig.
Die Linkspartei sollte in ihrer Öffentlichkeitsarbeit den Klassenwiderspruch zuspitzen. Anhand von (Arbeits-) Kämpfen, an denen sie beteiligt ist, sollte sie das deutlich machen. Das heißt: Bei endlosen Kleinkriegen nicht mitmachen. Die Hofgesellschaft des Bundestags zieht durch die Talkshows und Diskussionsrunden, hält Reden und lässt sich ernst in die Kamera blickend ablichten. Themen werden abgehandelt, aber nicht bearbeitet. Der gesellschaftliche Diskurs ist zu einer Arena verkommen, in der nur noch um Aufmerksamkeit gekämpft wird. Diese Dynamik beeinflusst Parteien in ihrer Praxis. Alles sollte am besten gestern passiert und Kampagnen vor allem öffentlichkeitswirksam sein. Wir glauben die Linkspartei sollte sich stattdessen auf ein Thema fokussieren, um auf lange Sicht eine Diskursverschiebung nach links zu bewirken.
»Die Linke muss die drängendsten gesellschaftlichen Probleme in einen größeren Kontext setzen und einen positiven Ausblick eröffnen.«
Denn die rasenden Diskurse konzentrieren sich auf Symptome und schaffen es nicht, nach Ursachen zu fragen. Probleme werden aus ihrem Kontext gerissen. Das lässt keine Möglichkeit, nach einer grundlegend anderen Gesellschaft zu fragen. Doch genau das ist notwendig. Die Linke muss die drängendsten gesellschaftlichen Probleme in einen größeren Kontext setzen und einen positiven Ausblick eröffnen. Die Realität des Klassenwiderspruchs ist für die Mehrheit der Bevölkerung nichts Neues, die Partei muss sie nur greifbar machen. Wir plädieren nicht dafür, sich aus der öffentlichen Diskussion rauszuhalten, ganz im Gegenteil: Gerade lokal sollte Die Linke verstärkt ihre Arbeit und Erfolge sichtbar machen.
Als Genossinnen und als Bundessprecher der Linksjugend [‘solid] sind wir uns sicher: Wir stecken den Kopf nicht in den Sand. Genau deshalb muss die Linkspartei jetzt neue Strategien ausprobieren, wenn sie das Vertrauen der 99 Prozent wiedergewinnen will.
Tim Roschig kommt aus Sachsen und ist seit 2023 Bundessprecher der linksjugend [‘solid].
Momo Eich ist seit 2022 Bundessprecherin des Jugendverbands Linksjugend ['solid].