28. Oktober 2024
Die Linke ist zu einer Akademiker-Partei geworden. Das ist Fakt. Eine neue Studie offenbart, wie das geschehen ist und weshalb die neue Parteispitze keine leichte Aufgabe vor sich hat.
Wollen Die Linke aus der Krise führen: die neuen Vorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken, Berlin, 21. Oktober 2024.
Die Linke ist im Sinkflug. In weiten Teilen der Partei hat man jedoch verstanden, dass sich etwas grundlegend ändern muss, wenn Die Linke noch überleben soll. Seit dem katastrophalen Wahlergebnis von 2021, bei dem Die Linke nur noch dank der Grundmandatsklausel in den Bundestag einziehen konnte, haben Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Lager eine Fülle von Analysen und Strategiepapieren veröffentlicht. Carsten Braband liefert mit seiner Studie »Linke Triggerpunkte« für die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung den jüngsten Beitrag dazu. Er zeigt, dass sich die Wählerschaft der Linken nicht nur verkleinert, sondern auch zur Mittelklasse hin verschoben hat.
Die Wahlniederlagen der Linkspartei sind also nicht nur widrigen äußeren Umständen geschuldet, sondern auch ihrer strategischen Ausrichtung anzulasten. Braband räumt damit mit zwei Mythen auf und offenbart die Hürden, die den Wiederaufbau erschweren.
Auf dem vergangenen Bundesparteitag der Linken in Halle, war immer dann besonders lauter Applaus zu hören, wenn Begriffe wie »Klasse«, »Klassenpolitik« oder »Klassenstandpunkt« fielen. Darüber, inwiefern Die Linke heute aber überhaupt noch in ihrer Klasse verwurzelt ist, herrscht in der Partei-Intelligenzija große Uneinigkeit. Es handelt sich dabei im Grunde um eine empirische Fragestellung, weshalb es verwundert, dass darauf so viele unterschiedliche Antworten kursieren. Schaut man genauer hin, zeigt sich, dass die Kontroverse darauf zurückzuführen ist, dass die Kontrahenten in dieser Debatte unterschiedliche Datensätze, aber auch sehr unterschiedliche Konzepte heranziehen.
Mario Candeias verneinte letztes Jahr lautstark, dass Die Linke »Die Arbeiter verloren hat«. Er stellte fest, dass der Großteil der Menschen im Wählerpotenzial der Linken – also unter denen, die sich grundsätzlich vorstellen könnten, ihre Stimme für Die Linke abzugeben – sich als Angestellte statt als Arbeiterinnen und Arbeiter identifizieren. Diese Identifikation spiegelt zunächst einmal keine objektiven Fakten wider. Dass Menschen sich als Angestellte sehen, ist eher ein Ausdruck davon, dass sie nicht in marxistischen Kategorien denken. Angestellte sind außerdem keine Klasse im Sinne einer Gruppe mit objektiven Interessen innerhalb eines Ausbeutungsverhältnisses. Es ist auch fraglich, inwiefern Aussagen über die Anteile verschiedener Gruppen innerhalb des Wählerpotenzials der Linken Aufschluss über die absoluten Stimmverluste in unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten geben sollen.
»Die größten Verluste machte die Linkspartei zwischen 2009 und 2021 im untersten Viertel der Einkommensverteilung.«
Braband geht in seiner Studie anders vor. Er untersucht zunächst nicht das Wählerpotenzial, sondern die Ergebnisse der Linken bei den Wahlen seit 2009. Er teilt die Wählerschaft dazu in eine Arbeiter- und eine Mittelklasse auf. Zusätzlich unterscheidet Braband innerhalb dieser Klassen zwischen verschiedenen Berufsgruppen: in der Arbeiterklasse zwischen Produktionsarbeitenden, Dienstleistungsarbeitenden und Bürokräften und in der Mittelklasse zwischen »Soziokulturellen Semiexpert*innen«, »Soziokulturellen Expert*innen«, »Technischen (Semi-)Expert*innen« sowie dem mittleren und oberen Management.
Die Ergebnisse fallen dramatisch aus. Wählten 2009 noch etwa 20 Prozent der Beschäftigten in der Produktion Die Linke, sind es 2021 nur noch etwa 4 Prozent. Auch unter den Dienstleistungsbeschäftigten ist ein großer Verlust von etwa 12 Prozentpunkten zu verzeichnen. In der Mittelklasse machte Die Linke dagegen 2017 trotz des stagnierenden Wahlergebnisses noch Zugewinne, bei den »Soziokulturellen Expert*innen« hält dieser Trend sogar bis ins Jahr 2021 an. Durch die Verluste in der arbeitenden Klasse, so Braband, ist das Elektorat der Linken heute mehr denn je akademisch geprägt. Auffällig ist außerdem, dass sich die schrumpfende Wählerschaft der Linkspartei immer mehr zugunsten mittlerer Einkommen verschiebt. Die größten Verluste machte sie zwischen 2009 und 2021 im untersten Viertel der Einkommensverteilung.
Diese Entwicklungen, die für eine sozialistische Partei ein absolutes Armutszeugnis darstellen, wurden lange Zeit heruntergespielt. Die Einsicht, dass man gravierende Fehler gemacht hat, scheint zu denen, die für die bisherige Strategie der Partei zum Teil bis heute verantwortlich sind, nicht vorgedrungen zu sein. Brabands Studie liefert jetzt empirische Belege dafür, dass auch bestimmte Positionierungen der Linken zu ihren Niederlagen beigetragen haben.
Er identifiziert in mehreren Politikfeldern Gewinn- und Verlustpositionen innerhalb des Wählerpotenzials der Linken sowie elektorale Trade-offs, also Positionen, die bestimmte Wählergruppen ansprechen, andere aber abstoßen. Im Bereich der Sozialpolitik lässt sich sowohl innerhalb des Linken-Potenzials als auch in der breiten Bevölkerung eine deutliche Zustimmung für eine Erhöhung des Mindestlohns, für Preiskontrollen bei Mieten, Energie und Grundnahrungsmitteln und für höhere Steuern für Reiche feststellen. Verlustpositionen lassen sich unter den sozialpolitischen Forderungen nicht erkennen, nur die pauschale Erhöhung des Bürgergelds stellt einen möglichen Trade-off dar.
Migrationsfreundliche Positionen treffen dagegen eher auf Ablehnung. Tatsächliche Wählerinnen und Wähler der Linken sind dabei merklich offener für erleichterte Zuwanderung als Menschen im Wählerpotenzial der Linken. Das deutet darauf hin, dass die migrationspolitischen Positionen der Linkspartei einige davon abhalten, sie zu wählen.
»In der Vergangenheit haben viele Menschen Die Linke gewählt, obwohl sie sich selbst migrationspolitisch konservativer eingeschätzt haben als die Partei.«
In der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine ist sowohl das Linke-Elektorat als auch ihr Wählerpotenzial gespalten. Deutlich sichtbar ist aber, dass Menschen, die beispielsweise die Grünen wählen, weitere Waffenlieferungen mehrheitlich befürworten. BSW-Wählende lehnen diese dagegen mehrheitlich ab, sodass sich auch hier ein Trade-off abzeichnet. Derzeitige Nichtwählerinnen und Nichtwähler sind in dieser Frage allerdings ebenfalls gespalten. Interessant ist auch, dass die Wählerschaft der Linken Aufrüstung mit Abstand am kritischsten sieht. Sie setzt sich dabei auch vom Potenzial deutlich ab, sodass sich auch hier eine Verlustposition für Die Linke vermuten lässt.
In der Debatte um die Studie wurde sich verständlicherweise vor allem auf die strategischen Implikationen ihrer Befunde konzentriert. Die Interpretationen sind mitunter aber etwas abwegig. So wird Braband im ND beispielsweise nachgesagt, er empfehle der Linken »teilweise Kompromisse nach rechts« einzugehen. Die Untersuchung liefert zunächst einmal empirische Informationen. Und allein aus Fakten (das heißt ohne Rückgriff auf Wertaussagen) lässt sich erst einmal kein Handlungsappell ableiten. Was die strategischen Implikationen der Studie sind, hängt also von den Zielen der Linkspartei ab.
Einer der zentralen Befunde des Buchs Triggerpunkte von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, auf das sich Braband in seiner Studie mehrmals bezieht, ist, dass es in vielen Fragen einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt. Lediglich einzelne »triggernde« Teilfragen sind starke Konfliktherde. Es wäre denkbar, gerade diese Fragen in der politischen Kommunikation der Linken weniger zu betonen, ohne inhaltliche Kompromisse einzugehen.
In den Augen vieler Linker kommt ein rhetorisches Zurückstellen der Migrationspolitik an sich schon einem Kompromiss gleich, weil sie den derzeitigen Rechtsruck und die Rückschritte beim Asylrecht primär als Diskursphänomene verstehen. Begreift man beide Phänomene stattdessen eher als eine Form des Nach-unten-Tretens, mit Ursachen, die stärker auf der materiellen Ebene zu verorten sind, könnte ein strategischer Fokus auf Klasseninteressen diesen Rechtsruck politisch entschärfen. In der Vergangenheit haben zum Beispiel viele Menschen Die Linke gewählt, obwohl sie sich selbst migrationspolitisch konservativer eingeschätzt haben als die Partei.
»Wenn Die Linke gezielt die materiellen Interessen anspricht, die die arbeitende Klasse einen, und die Triggerpunkte ausspart, die sie spalten, kann das ein Weg sein, den Absturz zu verhindern.«
Vor allem bedeutet die Existenz von elektoralen Trade-offs aber, dass Die Linke von ihrem bisherigen Ansatz abweichen muss, um wieder mehr Erfolge zu erzielen. Wenn ein potenzieller Überläufer von den Grünen zur Linken, den ein Plakat gegen Asylrechtsverschärfungen anspricht, an der nächsten Laterne von einem gegen Waffenlieferungen direkt wieder abgeschreckt wird und für eine BSW-Sympathisantin das Gegenteil gilt, kann das Endergebnis nur ein Wahldebakel sein. Spricht Die Linke dagegen gezielt die materiellen Interessen an, die die arbeitende Klasse einen, und spart die »Triggerpunkte« aus, die sie spalten, kann das ein Weg sein, den Absturz zu verhindern.
Den neuen Vorsitzenden der Linkspartei, Ines Schwerdtner und Jan van Aken, scheint das bewusst zu sein. Beide sprechen sich für eine stärkere Fokussierung aus, die eine Handvoll sozialer Forderungen in den Mittelpunkt stellen soll. Inhaltlicher Fokus könnte auch der oft beklagten Vielstimmigkeit der Partei Abhilfe verschaffen, denn was Arbeit, Mieten und den Sozialstaat angeht, ist man sich größtenteils einig. Das ist aber leichter gesagt als getan, denn solange Die Linke kaum in Nachbarschaften und Betrieben verwurzelt ist, kann sie nur über periodische Diskursinterventionen in das politische Geschehen eingreifen. Aufmerksamkeit bekommen die nur, wenn sie gerade die »Trigger« berühren, die man eigentlich vermeiden möchte.
Die Linke muss Politik also nicht nur für ihre Klasse, sondern auch mit ihrer Klasse machen. Das wird jahrelange Aufbauarbeit und einen grundsätzlich anderen Politikstil erfordern. Ob der Linken das gelingt, ist weiterhin ungewiss. Aber mit dem Parteitag in Halle sind zumindest die ersten Weichen in die richtige Richtung gestellt.