22. April 2022
Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe, eine der Ko-Vorsitzenden tritt kurz vor zwei Landtagswahlen ab. Für die LINKE geht es um alles – schon wieder.
Wird die Partei vorerst alleine weiterführen: Ko-Vorsitzende Janine Wissler.
Wann immer sich eine Organisation oder Partei mit sich selbst beschäftigt, steht es nicht sehr gut um sie. Bei der LINKEN ist das schon seit einiger Zeit der Fall. Nun kommt zu allen notwendigen Richtungsentscheidungen nach dem schlechten Bundestagswahl- und dem noch viel schlechteren Saarlandwahlergebnis ein Skandal hinzu, der sich nicht so leicht unter den Teppich kehren lässt. Laut eines Enthüllungsberichts im Spiegel wurde eine zu dem Zeitpunkt minderjährige Frau Opfer sexueller Übergriffe durch einen Fraktionsmitarbeiter des hessischen Landesverbands. Nach Bekanntwerden des Falls meldeten sich weitere Betroffene aus anderen Bundesländern. Innerhalb kürzester Zeit entstand im Internet der Hashtag #LinkeMeToo.
Dass die Vorwürfe zum Un-Zeitpunkt laut werden, mag für die Partei misslich sein, entschuldigt jedoch nicht die Stellungnahmen von Partei und Parteispitze, in denen in bürokratischem Tonfall Fehler zurückgewiesen wurden und kaum Betroffenheit gezeigt wurde. Die Vorfälle legen Strukturen und Abhängigkeiten offen, die im Prinzip in jeder Partei zu finden sind. Doch dass es in einer Partei mit feministischem Anspruch offenbar keine richtigen Meldestrukturen für den nicht unwahrscheinlichen Fall eines sexuellen Übergriffs gibt, ist nicht nur beschämend, sondern verantwortungslos.
Eine anonyme Vertrauensgruppe innerhalb des Parteivorstandes gibt es seit Oktober 2021 – was abermals das mangelnde Problembewusstsein der Partei in dieser Frage widerspiegelt. Wer sich mit der Perspektive von Betroffenen auseinandersetzt, wird wissen, dass es feste Ansprechpersonen braucht, denen Betroffene vertrauen – ansonsten werden sie die Übergriffe mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht melden. Die Dunkelziffer bei sexualisierter Gewalt ist unter anderem auch deswegen so hoch, weil das Vertrauen in institutionelle Strukturen und Behörden durch den Übergriff beschädigt ist. Oftmals kennen Betroffene ihren Täter und befürchten, keinen Schutz zu erhalten, wenn sie den Vorfall melden – so wie es im Fall der hessischen Linkspartei auch geschehen ist. Ein unabhängiges Beratungsangebot für Betroffene soll es erst jetzt nach dem öffentlichen Skandal geben.
Klar ist, dass die Taten von Adrian G. aus dem hessischen Landesverband, wie sie die Betroffene schildert, eine Grenze überschritten haben, die den normalen Parteiklüngel mit allen menschlichen Fehltritten übersteigen. Er soll ihr auf ihrem Balkon nachgegangen sein und sie zum Filmen beim Sex genötigt haben. Jenseits der strafrechtlichen Nachverfolgung, die offenbar vorerst eingestellt wurde, hätten die Verantwortlichen seit der Kenntnis über die Vorwürfe Konsequenzen ziehen und außerparteiliche Beratung suchen müssen. Die damalige Fraktionsvorsitzende Janine Wissler war nicht nur die Vorgesetzte des Fraktionsmitarbeiters Adrian G., der mit der damals minderjährigen Praktikantin ein Verhältnis begann, sie war zum Zeitpunkt des Vorfalls auch mit ihm liiert. Wisslers Entscheidung, die Angelegenheit aufgrund ihrer persönlichen Verbindung nicht in andere Hände zu geben, war in diesem Fall fahrlässig. Kurz nach Veröffentlichung des Beitrags im Spiegel regnete es Vorwürfe, man hätte den Vorfall parteiintern und nicht in der medialen Öffentlichkeit klären sollen. Doch dass sich die Betroffene überhaupt in den Medien Gehör verschafft, zeigt, dass die parteiinterne Bearbeitung nicht griff, nicht handlungsfähig war oder aber keine Konsequenzen nach sich zog.
Nachdem dieser und weitere Vorfälle öffentlich wurden, tagte der Parteivorstand in einer Sondersitzung. Der spätabends gefasste Beschluss spricht bereits sehr viel deutlicher von der Solidarität mit den Betroffenen und den Konsequenzen, die aus den Vorkommnissen gezogen werden sollen: Unter anderem sollen weitere Vertrauensgruppen eingerichtet sowie professionelle, externe Hilfe bei der Beratung von Fällen sexualisierter Gewalt eingeholt werden. Bei parteiinternen Verfahren setzt der Beschluss eine Bearbeitung mit Beschuldigten und Betroffenen sowie ein mehrstufiges Modell zur Handhabe bei Verstößen an.
Der Beschluss und die Konsequenzen kommen einerseits zu spät, andererseits auch gerade rechtzeitig für eine Partei, die nach weiteren Niederlagen – zuletzt bei der Landtagswahl im Saarland, als die Partei über 10 Prozent verlor und eines ihrer bekanntesten Gesichter, Oskar Lafontaine, die Partei verließ – ohnehin einen Umbau ihrer eigenen Organisation ins Visier nehmen muss.
Kurz vor der Sitzung des Parteivorstands gab es einen weiteren Paukenschlag: Die Ko-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow, die mit den Vorwürfen sexualisierter Gewalt erst einmal gar nichts zu tun hatte, trat überraschend zurück. Sie nennt die Vorfälle dennoch als einen der Gründe, die sie zu diesem Schritt bewogen haben. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, schwerwiegender ist jedoch, dass er abermals die Strategielosigkeit der Partei offenbart, die sich erhoffte, mit einem neuen weiblichen Führungsduo den Aufbruch zu vollziehen, den sie so sehr braucht.
Gerade in diesen Tagen, in denen sich SPD und Grüne in der Ampel endgültig von einer Friedenspolitik verabschiedet haben, zeigt sich einmal mehr die dringende Notwendigkeit einer starken linken Opposition. Die Linkspartei könnte ihr politisches Profil durch ihre Positionierung zur gegenwärtigen Aufrüstungspirale und der NATO in Abgrenzung zu SPD und Grünen schärfen – wenn sie denn nicht so zerstritten wäre. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, dass Hennig-Wellsow stattdessen eher Gegenteiliges versuchte und Anfang März dazu aufrief, die Haltung zur NATO zu überdenken. Dies ist sicherlich als Versuch der damaligen Ko-Vorsitzenden zu werten, den Kurs der Partei neu auszurichten und eine Erneuerung zu versuchen – schließlich rüttelt dies an einem der politischen Grundpfeiler der Partei. Jedoch bedeutete dieser Vorstoß abermals eine weitere Annäherung anstatt eine klare Alternative zum Status quo – und veranschaulicht in dieser Hinsicht einmal mehr ein tieferliegendes Problem der Partei. Es ist unklar, welches politische Projekt und welche Vision sie eigentlich verfolgt.
Die kürzlich erfolgten Rücktritte sowohl von Hennig-Wellsow als auch von Lafontaine wirken indes wie kopflose Alleingänge: Oskar Lafontaine verließ die Partei wenige Tage vor der Landtagswahl im Saarland, Hennig-Wellsow tritt zurück, während die Partei gerade im Wahlkampf und ihre Ko-Vorsitzende in einen Skandal verwickelt ist.
Schon in zwei Monaten wird die LINKE auf ihrem Parteitag also außerplanmäßig ihr Personaltableau neu aufstellen müssen. Die verbliebene Ko-Vorsitzende Janine Wissler hat zwar die Unterstützung des Parteivorstands, wird aber in den kommenden Wochen weiterhin einem enormen Druck ausgesetzt sein. Ob und inwiefern ein Befreiungsschlag aus dieser Lage gelingen kann, wird auch davon abhängen, wie sie bis zum Parteitag agiert und ob sie sich erneut zur Wahl stellen wird – vor allem auch mit wem.
Fraglich ist außerdem, ob zusätzlich zu einem neuen Parteivorstand auch ein neuer Fraktionsvorstand gewählt werden könnte. Eigentlich war dies erst frühestens für den Herbst geplant. Das wiederum würde die Karten komplett neu mischen und könnte die festgefahrene Machtarithmetik innerhalb der Partei durch neue Bündnisse und schließlich auch neue Gesichter verändern. Dabei tritt jedoch erneut ein altes Problem zutage: Die zweite Reihe der Partei ist mit relativ wenigen bekannten, erfahrenen und charismatischen Personen besetzt. Denkbar wäre, dass man krampfhaft versucht, geeignete Kandidatinnen und Kandidaten zu finden, auch Gegenkandidaturen (und anschließende Austritte) sind nach den einhelligen Wahlen der letzten Jahre nicht mehr ausgeschlossen. Sogar eine Urwahl wäre möglich und könnte für einige Überraschungen sorgen.
Möglich ist also, dass Susanne Hennig-Wellsow durch ihren unerwarteten Rücktritt unbeabsichtigt einen größeren Bruch mit dem Bisherigen herbeigeführt hat als durch ihre Reformanstrengungen. Darin liegt eine gewisse Tragik, die symptomatisch ist für die Partei, deren Kurs in den letzten Jahren stark von Einzelentscheidungen statt von planmäßiger Veränderung geprägt war. Es besteht allerdings auch die Chance, dass die Partei die kommenden Wochen bis zum Parteitag nutzt und aus der Dynamik das beste macht: eine Neuaufstellung hinsichtlich der Programmatik, des Organisationsaufbaus und des Personals. Diesen plötzlichen Kraftakt wird sie bewältigen müssen, wenn sie weiter existieren will.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.
Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.