17. Oktober 2024
Eine hitzige Debatte über Antisemitismus beim Landesparteitag der Berliner Linken sorgt erneut für Unruhe – und das kurz vor einem entscheidenden Bundesparteitag. Wird die Linkspartei an der Frage zerbrechen? Ferat Koçak meint: Keinesfalls.
Linke-Mitglieder marschieren mit auf der Friedensdemo am 3. Oktober 2024 in Berlin.
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden israelischen Gegenschlag, der mittlerweile zu einem verheerenden Rachefeldzug mutiert ist, wird die Debatte in der deutschen Öffentlichkeit überwiegend von der proisraelischen Seite bestimmt. Ein Stück weit ist dies auch in der Linken der Fall, wo vor allem in den ostdeutschen Teilen der Partei nach wie vor eine israelsolidarische Einstellung herrscht, die, so könnte man argumentieren, mehr mit Befindlichkeiten und Entwicklungen hierzulande zu tun hat als mit der realen Situation in Israel oder Palästina.
Doch nach einem Jahr Krieg kippt die Stimmung langsam. Umfragen zufolge sieht eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland die israelische Kriegsführung zunehmend kritisch, und in der Linken werden die Stimmen, die nach einer Kurskorrektur in der eigenen Partei rufen, zunehmend lauter. Dies war auch der Kontext für den sogenannten »Eklat« auf dem Berliner Landesparteitag vergangenes Wochenende, als eine Reihe prominenter Vertreter des proisraelischen Lagers in der Partei den Parteitag unter Protest verließ – mit dem Argument, die Mehrheit würde keine klare Haltung gegen Antisemitismus einnehmen. Nun rumort es, dass aus dem Lager Parteiaustritte anstehen.
Wird die Linke, die ohnehin vor immensen politischen Herausforderungen steht, an der Israelsolidarität zerbrechen? Ferat Koçak, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für die Linke Neukölln, verneint. Er sprach mit Patrick Lempges, selbst aktiv in der Linken Friedrichshain, über die Debatte auf dem Landesparteitag, die Diskussion über den Gaza-Krieg in seiner Partei, und welche Folgen sich daraus noch ergeben könnten.
Am vergangenen Freitag fand der Parteitag der Berliner Linken statt. Glaubt man der deutschen Medienlandschaft, muss sich Unerhörtes zugetragen haben. »Eklat beim Berliner Linke Parteitag – Hamas-Sympathisanten und Sektierer zerstören die Partei«, heißt es beim Tagesspiegel. Der rbb titelte: »Antisemitismus-Debatte sorgt für Eklat bei Linken-Parteitag«. Vom Spiegel, der ein Interview mit der Bundesgeschäftsführerin zum »Antisemitismus-Eklat« veröffentlichte, bis zur Tagesschau reichte der Sturm der Entrüstung, wo es hieß: »Eklat bei Parteitag der Berliner Linken«. Was ist geschehen?
Springer und Co. stürzen sich natürlich auf die Vorkommnisse beim Landesparteitag. Tatsächlich war es aber ein ganz normaler Vorgang. Es gab einen Antrag »Gegen jeden Antisemitismus« und entsprechende Änderungsanträge. Zu einem demokratischen Prozess gehört es dazu, dass diese abgestimmt werden und dazu diskutiert wird. Diesen Prozess hat eine Gruppe von Delegierten dann aber unterbrochen, indem sie den Antrag überraschend zurückgezogen hat, um dann den Parteitag zu verlassen.
Es überrascht mich nicht, dass vor allem der Neuköllner Bezirksverband ins Visier der Kritik geraten ist. Wir müssen uns schon seit Jahren mit diesen Vorwürfen auseinandersetzen. Die Wahrheit ist aber, dass die Änderungsanträge zwar von Neukölln unterstützt wurden, aber nicht von uns ausgingen. Das ist wichtig, weil es zeigt, dass gewisse Positionen in diesem Landesverband inzwischen mehrheitsfähig sind und nicht einfach einem vermeintlich radikalen Bezirksverband in die Schuhe geschoben werden können. Die Positionierung ist nach einem Jahr Krieg und Repression auf Berlins Straßen auch im Landesverband ein ganz natürlicher politischer Prozess.
Wenn man sich den bis zum Zurückziehen des Antrages erarbeiteten Kompromiss ansieht, erkennt man schnell, dass an diesem nichts Antisemitisches oder Verwässerndes dran ist. Als Beispiel, hier der erste Absatz:
»Fünf Jahre nach dem rechtsterroristischen Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 und ein Jahr nach dem grauenvollen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hält DIE LINKE Berlin fest: Wir stehen gemeinsam und entschieden gegen jede Form des Antisemitismus. Sämtliche alten und neuen Formen antisemitischer Rhetorik und Gewalt verurteilen wir – unabhängig davon, von welcher politischen und weltanschaulichen Richtung sie ausgehen. Für die Bekämpfung von Antisemitismus bedarf es einer gemeinsamen Grundlage zur Einschätzung, was Antisemitismus ist. Die Linke Berlin orientiert sich dabei an der ›Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus‹ vom Frühjahr 2021, die als Ergänzung und Konkretisierung der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance von einer Gruppe internationaler Wissenschaftler*innen aus Israel und weiteren Ländern, die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten, erarbeitet worden ist. Unser Eintreten für universelle Menschenrechte, für Freiheit, Gleichheit und Solidarität bedeutet, dass wir an der Seite derjenigen stehen, die sich gegen Hass und Ressentiments und für ein friedliches und gleichberechtigtes Miteinander aller Menschen einsetzen – hier in Berlin genauso wie im Nahen Osten.«
»Ich halte es für nötig und wichtig, eine analytische Trennschärfe in Bezug auf die Lage in Palästina und Israel und ihre Rezeption in Berlin zu ziehen.«
Warum habt Ihr diese Änderungsanträge unterstützt? Warum nicht einfach den Antrag unterstützen, so wie er war?
Unser Hauptanliegen war es, diesen Antrag mit einer palästinensischen Perspektive zu ergänzen. Um dies zu ermöglichen, schlugen wir die international in Fachkreisen weit anerkannte Antisemitismusdefinition der Jerusalemer Erklärung vor. Grund dafür ist die unverhältnismäßig einseitige Fixierung auf Kritik an Israel innerhalb der IHRA-Definition, die von staatlichen Akteuren als Rechtfertigung genutzt wird, autoritär gegen propalästinensische Bewegungen und Demonstrierende vorzugehen. Es ist schade, dass die Genossinnen und Genossen zu wenigen Kompromissen bereit waren. Wir müssen als demokratische sozialistische Partei in der Lage sein, Mehrheitsbeschlüsse anzuerkennen, auch wenn sie nicht unserer Meinung entsprechen. Dass die Überstimmten den Drang verspürten, ihren Unmut sofort in der Presse kundzutun, kann ich nicht nachvollziehen.
Wir alle stehen gegen Antisemitismus ein und wollen keine »Verwässerung« im Kampf gegen diesen! Wir wollen eine demokratische sozialistische Partei. Und in dieser Partei kann man sich auch auf Parteitagen bei Anträgen ganz nüchtern und mit der nötigen Ruhe über unterschiedliche Perspektiven innerhalb der Erlangung desselben Ziels streiten.
Wie hat sich denn die Stimmung bei dem Thema innerhalb des Landesverbandes im letzten Jahr verändert?
Die genozidalen Kriegsverbrechen Israels haben, glaube ich, einem großen Teil des Landesverbandes vor Augen geführt, dass wir die Debatten um Palästina und Israel endlich anders führen müssen. Es müsste eine Selbstverständlichkeit sein, dass eine gesellschaftliche Linke und die Partei sich mit aller Kraft für einen Waffenstillstand, gegen deutsche Waffenexporte und gegen die Besatzungspolitik Israels sowie gegen die Repression in Berlin einsetzen. Ich finde es gut, dass sowohl der Landesvorstand als auch viele Bezirksverbände Debatten organisiert haben – auch zum Thema Antisemitismus.
Ist die Linke blind gegenüber dem Terror der Hamas?
Es ist wichtig, dass wir die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktobers 2023, die ein tiefes Trauma in der israelischen Gesellschaft hinterlassen haben, verurteilen, einordnen und erklären. Es gibt Genossinnen und Genossen, die eine Erklärung mit einer Rechtfertigung oder gar Sympathie verwechseln. Die Hamas konnte auf Jahrzehnten der Vertreibung und der Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung gedeihen. Das macht den Angriff nicht weniger schlimm, aber wer ihn einfach unter »eliminatorischen Antisemitismus« einordnet, der will offenbar nicht über die Situation in Palästina sprechen.
»Ich bin fest davon überzeugt, dass die neu entstandenen Mehrheitsverhältnisse in diesem Themenfeld im Einklang mit unseren Grundüberzeugungen und einer Prise Gelassenheit für alle Beteiligten zu einer zufriedenstellenden und tragbaren Positionierung führen werden.«
Du stehst durch Deine klare Haltung bei dem Thema sowohl als Abgeordneter als auch als Privatperson stark unter Druck. Was macht das mit Dir? Und warum ist es Dir wichtig, an der Frage trotzdem weiterzukämpfen?
Ja, ich stehe unter Druck und bin ständig Angriffen ausgesetzt, aber viel krasser ist es doch, dass die riesige palästinensische Community in Berlin seit Jahren unter Generalverdacht steht. Es ist absoluter Wahnsinn, dass einer Gruppe von Menschen – auch lange vor dem 7. Oktober – Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit aberkannt werden. Schon das Gedenken an die Nakba wurde über Jahre hinweg kriminalisiert und teilweise verboten, immer wieder auch mit der rassistischen Begründung, dass sich insbesondere »emotionalisierte Jugendliche« nicht im Griff hätten. In Neukölln stehen wir seit vielen Jahren solidarisch an der Seite der Menschen, die für einen gerechten Frieden in Nahost kämpfen und in dieser Tradition sehe ich mich als Internationalist und antirassistischer Aktivist, der in der kurdischen Linken sozialisiert ist, weiterhin.
Zerreißt diese Frage nun den Berliner Landesverband? Wie geht es aus Deiner Sicht bei den Fragen Antisemitismus und Palästina-Solidarität weiter?
Ich will erstmal festhalten: Die Genossinnen und Genossen in der Linken Berlin kämpfen gegen Antisemitismus, Punkt. Und das ist in Anbetracht des krassen Rechtsrutsches, den wir gerade erleben, auch bitter nötig.
Ich halte es aber auch für nötig und wichtig, eine analytische Trennschärfe in Bezug auf die Lage in Palästina und Israel und ihre Rezeption in Berlin zu ziehen. Wenn wir den Protest gegen Krieg, Besatzung und Deutschlands Rolle in der Unterstützung des genozidalen Vorgehens Israels im Gazastreifen und dem Westjordanland pauschal als antisemitisch diffamieren, verliert der Begriff dadurch jeglichen Erklärungswert. Es geht ja darum, antisemitische Anschläge auf Synagogen, die Schändung jüdischer Grabstätten und brutale Angriffe auf Jüdinnen und Juden wegen ihres Jüdischseins klar als solche benennen und verurteilen zu können.
Aber ich halte es für gefährlich, auch jüdischen Genossinnen und Genossen gegenüber, nicht eine klare Trennschärfe zwischen dem Jüdischsein und dem Staat Israel zu ziehen. Denn im Umkehrschluss heißt das, Jüdinnen und Juden in Verantwortung zu ziehen für das Handeln dieses Staates in Form seiner rechten bis rechtsextremen Regierung. Das ist gefährlich. Meine Genossin und ehemalige Chefredakteurin von JACOBIN, Ines Schwerdtner, hat es sehr gut zusammengefasst: »Unser Kompass sind das Völkerrecht und die Menschenrechte. Sie gelten für alle Menschen!«
Und um abschließend Deine Frage zu beantworten: Nein. Die Linke Berlin wird nicht an diesem Thema zerreißen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die neu entstandenen Mehrheitsverhältnisse in diesem Themenfeld im Einklang mit unseren Grundüberzeugungen und einer Prise Gelassenheit für alle Beteiligten zu einer zufriedenstellenden und tragbaren Positionierung führen werden. Kein Crash, sondern Aufbruch.
Ferat Koçak ist Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für Die Linke.