15. September 2020
Die Klassengesellschaft und ihre Widersprüche kehren zurück in die deutsche Gegenwartsliteratur. Wir benötigen diese Romane, um unsere hochkomplexe und ungleiche Welt auch literarisch zu erschließen.
»Mehr Realismus bitte, aber mit dem ganzen Irrsinn, den unsere Realität derzeit zu bieten hat. Alles andere wäre Betrug«, forderte die große Lyrikerin Monika Rinck vor einigen Jahren und wurde erhört: Die Gegenwartsliteratur lässt sich wieder auf den Wahnsinn der sozialen Verhältnisse ein.
Aufsehen erregte Anfang des Jahres etwa das autobiographische Debüt des Freitag-Journalisten Christian Baron. In der Tradition französischer Autorinnen und Autoren wie Edouard Louis und Annie Ernaux erzählt Ein Mann seiner Klasse von der Kindheit des Autors in Kaiserslautern. Baron beschreibt die ambivalente Bindung zu seinem Vater, dem er die Gewalt gegen die Familie nicht verzeihen kann, den er zugleich aber auch als Opfer einer ihn abstoßenden Gesellschaft und seiner selbstzerstörerischen Männlichkeit erkennt.
Der Vater arbeitet im Roman als Möbelpacker, verdient nur einen geringen Lohn und besitzt kein Vermögen. Er ist ein proletarisierter Arbeiter, ein »Mann seiner Klasse«. In einem unsentimentalen Ton erzählt Baron, was das auch heute noch bedeuten kann. Denn die Familie kämpft ums Überleben, gefangen in dem brutalen körperlichen und psychologischen Dauerstress, den man Armut nennt. Barons Roman ist so wichtig, weil die Erfahrungen der unteren Klasse in der Literatur, aber auch in anderen Medien, selten so unverstellt vorkommen. Der Text spricht nicht über die, deren Leben aus Arbeit, Geldnot und Krankheit besteht, sondern von ihnen.
Während Ein Mann seiner Klasse den Blick vor allem auf die individuellen Verheerungen und den Klassenkampf um Würde richtet, öffnet ein 2019 erschienener Text den Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und deren politische Gestaltung. Sibylle Bergs Roman GRM-Brainfuck handelt von einem durch neoliberale Reformen zerrütteten Großbritannien der nahen Zukunft, das von marktradikalen und rechten Kräften dominiert wird. Der Text buchstabiert die dystopischen Potenziale unserer Gegenwart aus, erzählt aber auch von Grauen, die genau so bereits stattfinden, etwa der Zwangsprostitution junger Frauen.
» Die Gegenwartsliteratur lässt sich wieder auf den Wahnsinn der sozialen Verhältnisse ein.«
Der Ton in Bergs Text ist zynisch bis wütend und nähert sich bewusst dem titelgebenden britischen Vorstadtrap-Genre »Grime« an. Man kann den Roman auch als einen sechshundert Seiten langen Battlerap-Monolog lesen, der eine ganz eigene Poetik der Brutalität entfaltet. Berg entwirft dabei ein gigantisches Figurenpanorama, in deren Mittelpunkt die Jugendlichen Don, Hannah, Karen und Peter stehen. Der Roman interessiert sich weniger für deren innere Konflikte als für die gewaltvollen gesellschaftlichen Strukturen, die die Figuren zu dem machen, was sie sind: Kinder der Gewalt, manchmal Opfer und Täter zugleich.
Durch die Charakterisierung zahlreicher Figuren gelangen bei Berg auch größere sozioökonomische Veränderungen wie der drohende Abstieg der traditionellen Mittelklasse in den Blick: Handwerkerinnen, Versicherungsangestellte, selbst Assistenzärztinnen und Care-Arbeitende werden in Bergs Dystopie von den digitalen Maschinen und künstlichen Intelligenzen abgehängt, an den Rand der Städte und in die Perspektivlosigkeit gedrängt: Im neoliberalen Kapitalismus macht der technologische Fortschritt Menschen überflüssig und arm.
Auch die Oberklasse wird in GRM sehr eindrücklich beschrieben. Im Großbritannien des Romans ist der Staat weitgehend entmachtet, Polizei und Militär befinden sich nun in Privateigentum. Die englische Elite wird wieder zu dem, was sie traditionell über Jahrhunderte hinweg gewesen ist: zu aristokratischen Herrschenden, die lieber unter sich bleiben. Im Gegensatz zum alten Adel verfügt diese Oberklasse jedoch über eine Reihe digitaler Kontrollmechanismen, mit denen sie ihre Untertanen in Schach halten kann.
Klingt übertrieben? Ist es aber nur ein bisschen, wenn man bedenkt, dass einige Superreiche mittlerweile wirklich Inseln, Burgen und Bunker kaufen, um die nahende Apokalypse zu überstehen, sich vorwiegend in hochexklusiven Clubs treffen und systematisch ihr Vermögen vor jeglicher staatlicher Resozialisierung schützen. Auch in die technologische Ermöglichung der Unsterblichkeit wird nicht nur im Roman investiert.
Eine Klasse, über die in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahren viel spekuliert wurde, findet sich jedoch weder bei Baron noch bei Berg. Ausgerechnet eine »Lovestory« sezierte in diesem Jahr jene neue Mittelklasse, die vor allem der Soziologe Andreas Reckwitz ausführlich analysiert hat: Sie treibt sich in allen westlichen Metropolen herum, hält die riesige Kreativindustrie (Medien, Design, Tourismus, Kunst, Informationstechnik, höhere Dienstleistungen und so weiter) am Laufen und bastelt an einem »singulären«, ebenso echten und einzigartigen wie demonstrativ erfolgreichen Lebensstil. Der Roman Allegro Pastell erzählt genau davon. Schmerzhaft präzise beschreibt Leif Randt das oft innig verschränkte Intim- und Arbeitsleben der Schriftstellerin Tanja Arnheim und des Webdesigners Jerome Daimler zwischen Berlin-Neukölln und der hessischen Provinz nahe Frankfurt.
Tatsächlich hat der Roman dabei sehr viel über Klassengegensätze zu sagen – denn diese haben immer auch eine kulturelle und lebensweltliche Dimension. Während die untere Klasse und die alte Mittelklasse eher traditionelle Familien-, sowie Pflicht- und Akzeptanzwerte kultivieren, dominiert in der urbanen neuen Mittelklasse der Imperativ der kreativen Selbstgestaltung. Die Biennale in Venedig besuchen, ironisch koreanischen Pop hören oder israelisch kochen mit Ottolenghi. Bei dem Entwerfen ihrer selbst greifen die Individuen auf ein breites kulturelles Warenangebot zurück.
»All das schreit nach einem zeitgemäßen, gern auch experimentellem
Realismus.«
Tanja und Jerome verkörpern diese Lebensform der »kreativen Klasse«, die vielen Menschen tatsächlich neue Freiheiten – jenseits von Bürotristesse und bürgerlicher Spießigkeit – eröffnet, die aber auch ein neues Konfliktpotential schafft: Die einst erstrebenswerten Lebensentwürfe der alten Mittelklasse werden durch den neuen Lifestyle abgewertet. An Randts Figuren lässt sich außerdem die Ideologie eines Hyperindividualismus ablesen, für den die Mitglieder der neuen Mittelklasse besonders anfällig sind.
Denn immer wieder sind Tanja und Jerome auf der Suche nach einzigartigen Erlebnissen, alles wird daraufhin bewertet, ob es sich »gut anfühlt« oder »interessant« ist. Die guten Erlebnisse, die die beiden beruflich produzieren, konsumieren sie auch permanent in ihrer Freizeit. In ihrem durchkuratierten, superreflektierten Leben, in dem selbst Drogentrips genauestens geplant und mit Blick auf die optimale Wirkung durchgeführt werden, scheinen sie zugleich jeglichen Sinn für die umfassenden politischen und sozialen Konflikte ihrer Zeit verloren zu haben. Tanja und Jerome stecken so tief in ihrer Welt der Selbstgenussoptimierung fest, dass es beim Lesen manchmal weh tut.
Doch ist die neue Mittelklasse auch in der Realität so heillos entpolitisiert wie in Randts Roman? Tatsächlich scheint es in Wirklichkeit nicht ganz so schlecht um die »kreative Klasse« zu stehen, war sie doch unübersehbar in der Klimabewegung oder bei den MeToo-Protesten präsent. Damit wird eine Frage berührt, die immer mitschwingt, wenn von Klassenverhältnissen die Rede ist: Gibt es eine Klasse, die heute Trägerin des sozialen Fortschritts ist? Und wo genau verläuft die zentrale Konfliktlinie? Zwischen alter und neuer Mittelklasse, oder doch traditionell zwischen denen ganz oben und dem Rest?
Sicher ist, dass sich die Oberklasse nicht nur in Bergs Dystopie gefährlich verselbstständigt. Sie lebt davon, Betriebe und Vermögenswerte zu besitzen und andere für sich lohnarbeiten zu lassen. In dieser Hinsicht ist der »alte« Klassenkampf auch nicht passé, er kleidet sich nur in immer neue Gewänder: Die einkommensstärksten zehn Prozent der Weltbevölkerung sind heute für etwa 45 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, wie die Ökonomen Chancel und Piketty gezeigt haben – die ärmere Hälfte hingegen für gerade einmal 10 Prozent.
Die Verhältnisse und Figuren nachzuzeichnen, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, bleibt für die zeitgenössische Literatur eine reizvolle Aufgabe. Die Gegenwart bietet zurzeit wirklich alles, was es für große Romane braucht. Die Konflikte um die feinen Unterschiede in den Lebensstilen, der Auf- und Abstieg ganzer Milieus, die verwickelten politischen Machtkämpfe, das Damoklesschwert der Klimakatastrophe: All das schreit nach einem zeitgemäßen, gern auch experimentellem Realismus.
Matthias Ubl ist Contributing Editor bei Jacobin.