29. Dezember 2021
Der Verein Sanktionsfrei setzt sich für die Abschaffung von Hartz IV ein. Gründerin Helena Steinhaus erklärt im JACOBIN-Interview, warum es keine Politik für Arme gibt und weshalb das geplante Bürgergeld höhere Regelsätze braucht.
Sanktionen vom Amt sind nicht motivierend, sondern belastend. (Arbeitsamt, Bonn, 2005)
Sanktionsfrei ist ja Kampagne, Hilfsorganisation und Lobbyverband in einem. Wie kamt Ihr auf diesen Arbeitsansatz?
Wir haben immer gesagt unsere Vision ist das Grundeinkommen, aber die realpolitische Situation ist Hartz IV. Der erste Schritt hin zu einem Grundeinkommen wäre ein Hartz IV, das nicht sanktioniert werden kann. Aus dieser Grundidee heraus hat sich weiteres ergeben: Heute können wir die Sanktionen und andere Leistungskürzungen von vielen Menschen ausgleichen und obendrein noch juristische Unterstützung gegen diese Kürzungen anbieten.
Ich habe als Jugendlicher erlebt, dass die Angemessenheit der Wohnung oft ein großes Problem darstellt und Menschen in der Wahl ihres Wohnortes einschränkt. Das ist aber keine direkte finanzielle Sanktion. Wie geht ihr mit solchen Zwängen um?
Es gibt immer wieder Menschen, die sich dafür entscheiden, ihre Wohnung zu behalten, obwohl sie als unangemessen eingestuft wird. Dann gleichen sie die Miete mit dem Regelsatz aus. Solche Fälle können wir leider schwer kalkulieren und deswegen nicht auffangen. Aber unsere Anwälte in Leipzig haben sich intensiv mit diesen Bemessungen auseinandergesetzt und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Parameter für die Angemessenheit einer Wohnung totaler Schwachsinn sind.
Wie kann eine Organisation wie Eure auf die politischen Machtverhältnisse wirken, damit es nicht nur bei der Symptombekämpfung bleibt? Wie könnt Ihr beispielsweise das Parlament erreichen?
Ich habe das Gefühl, es hat sich in den letzten Jahren schon etwas verändert. Unsere Arbeit wird ernster genommen. Gerade machen auch eine Studie, um herauszufinden, welche Auswirkung eine Versicherung gegen Hartz-Sanktionen auf die Menschen hat. 250 Menschen erhalten von uns diese Absicherung, 250 weitere sind in einer Kontrollgruppe ohne »Versicherung«. Anhand dessen können wir nachvollziehen, ob Sanktionen wirklich einen motivierenden Charakter haben oder nicht. Außerdem machen wir verstärkt Lobbyarbeit. Ich denke 2022 wird zeigen, ob wir Gehör finden oder nicht.
Du hast in Deiner Jugend selbst zu spüren bekommen, was es heißt, wenn die Hartz-Leistungen gekürzt werden. Hat Dich das politisiert oder kam das später?
Ich glaube, dass hat erst mit meiner Arbeit angefangen. Dadurch hatte ich die Gelegenheit, mich intensiver damit zu beschäftigen. Früher habe ich gedacht: Es ist schon in Ordnung, dass das passiert. Dabei habe ich auch erlebt, dass die Angemessenheit der Wohnung gar nicht gegeben war, wir umziehen mussten und ich nicht wirklich arbeiten gehen konnte. Ich habe dann alles getan, um so schnell wie möglich aus diesem System rauszukommen und mich dann erstmal gar nicht mehr so richtig damit auseinandergesetzt. Ich glaube es geht vielen so.
Die Devise »Fördern und Fordern« scheint weiterhin zu wirken.
Total. Aber das war nicht immer so. 2005 sind über 500.000 Menschen gegen die Hartz-Reformen auf die Straße gegangen. Es gab diesen Aufschrei. Auch die Gewerkschaften waren zu 100 Prozent dagegen, was heute nicht mehr so ist. Und ich frage mich wieso.
Trotzdem scheint Hartz IV als Problem bei der Ampelkoalition bekannt zu sein. Jetzt hat es zumindest einen neuen Namen bekommen: Bürgergeld. Wie bewertest Du diesen Vorstoß?
Nach den letzten Jahren hatte ich sowieso relativ niedrige Erwartungen. Es hätte mich gewundert, wenn mehr dabei herausgekommen wäre. Und natürlich ist es trotzdem empörend, dass sich an dieser Drohkulisse, welche Hartz IV mit seinen Sanktionen und dem zu niedrigen Regelsatz darstellt, wahrscheinlich wenig ändert. Die Leute müssen sich immer noch jeden Scheißjob andrehen lassen, um ja nicht wieder ins Hartz und Existenznot abzurutschen.
Es soll ein Expertenrat zur Reform vom Bürgergeld einberufen werden. Du möchtest Teil dieses Rates werden. Was wären Deine Forderungen?
Mein größtes Ziel wäre auf jeden Fall, den Regelsatz deutlich zu erhöhen und die Sanktionen abzuschaffen. Das geht Hand in Hand. Einer meiner größten Kritikpunkte am Bürgergeld ist ja, dass es Menschen, die lange keine Arbeit mehr ausgeübt haben und wahrscheinlich auch keine Vollzeitstelle mehr ausüben werden, absolut nicht entlastet. Die haben rein gar nichts davon.
Die Statistiken besagen, dass in Wahlkreisen mit besonders hoher Arbeitslosenquote auch besonders viele Menschen nicht zur Bundestagswahl gegangen sind. Wie erlebt Ihr das Verhältnis Eurer Klienten und Klientinnen zur Politik?
Es ist schon so, dass sich viele nicht gehört oder vertreten fühlen. Und da kann man sich natürlich auch anschauen, wie der Bundestag besetzt ist. Die allermeisten von denen haben einfach mit der Lebensrealität von Menschen, die in Armut leben, überhaupt nichts zu tun. Ich glaube diese fehlende Repräsentanz ist ein großes Problem.
Aber da steckt natürlich auch ein gewisses Potenzial drin: Ich glaube schon, dass Politikerinnen, die dieses Thema explizit ansprechen, dort viel zu gewinnen haben. Vielleicht wächst da gerade eine Art neue Generation an Politikern und Politikerinnen ran, die sich dagegen aussprechen. Mir fallen da als jüngste Beispiele Sarah-Lee Heinrich oder Cansin Köktürk ein. Das war vor sechs Jahren, als wir Sanktionsfrei gegründet haben, noch anders. Da standen wir weitestgehend allein auf weiter Flur.
Du sagst, Ihr macht Lobbyarbeit gegen Hartz-Sanktionen. Wie groß ist um Euch herum die Lobby für Menschen ohne Einkommen? Du meintest ja schon, die Gewerkschaften sind da nicht mehr dabei. Gibt es irgendwo anders organisierte Unterstützung?
Die Lobby ist relativ schlecht vernetzt. Es gibt zwar Beratungsstellen, aber die scheitern oft auch an den Jobcentern. Und dabei lohnt sich der ganze Aufwand für den Staat noch nicht einmal. Der ganze Bewertungsprozess im Jobcenter, der Papierkram, die Sanktionen: Das kostet den Staat viel mehr, als es am Ende einbringt.
Für Euch ist das Grundeinkommen erklärtes Ziel. Wie kam es zu dieser Zielsetzung? Es kursieren ja auch andere Vorschläge wie beispielsweise eine Jobgarantie.
Eine Jobgarantie? Nein, das wäre nicht die Lösung. Meine Vorstellung ist ja, dass alle Menschen die gleichen Startbedingungen haben oder zumindest abgesichert sind. Außerdem könnte eine Menge unternehmerisches und kreatives Potenzial freigesetzt werden, wenn die Menschen sich nicht ständig Sorgen machen müssten, wo sie die nächste Mahlzeit herkriegen oder wann wieder ein Termin beim Jobcenter ansteht. Es gibt Studien, die beweisen, dass Hartz IV krank macht. Und genau deswegen haben wir die Vision, dass jedem Menschen ein Grundbetrag zur Verfügung stehen sollte.
Es wird oft vom Drehtür-Effekt gesprochen: Menschen entfliehen Hartz IV, um dann einige Monate unter sehr prekären Bedingungen im Niedriglohnsektor zu arbeiten. Unter den Arbeitsbedingungen knicken sie ein und landen wieder bei Hartz. Spiegelt sich diese Dynamik bei Euren Klientinnen und Klienten wieder?
Ich würde sagen, ja. Ich spreche natürlich nicht mit allen über ihren beruflichen Werdegang, aber oft erfahren wir trotzdem, dass die Menschen wegen der Arbeitsbedingungen wieder zurück ins Hartz rutschen. Da müssen Leute mit Bandscheibenvorfall im Lager schuften. Deswegen hängt eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen eben auch direkt mit der Arbeitslosigkeit zusammen.
Es klingt vielleicht kitschig, aber ich bin überzeugt, dass Vertrauen der Schlüssel zu einer gleicheren und gerechteren Gesellschaft ist. Wenn wir keine Angst mehr davor haben, dass unsere Steuergelder verprasst werden, dann können wir darauf vertrauen, dass das soziale Sicherungsnetz dazu beiträgt, dass so viele wie möglich ihr Potenzial entdecken und zum gemeinsamen Miteinander beitragen können und wollen. Damit würde sich auch das schreckliche Stigma erledigen, das auf Hartz-IV-Beziehenden lastet. Das wäre ein Paradigmenwechsel und den möchte ich auch in der Umsetzung des Bürgergelds sehen.