12. August 2020
In Erinnerung an die Berliner Theoretikerin, Künstlerin und Marxistin Lu Märten. Ihr Werk bleibt relevant.
Eine sozialistisch-bewußte Gesellschaft«, so schrieb Lu Märten 1918, »soll Kunst, wie Brot – aus einem volkswirtschaftlichen Überfluß erzeugen und verschenken können, und jedes Produkt vollkommen schön, d.h. vollkommen zweckmäßig und ehrlich entstehen lassen. Vom Verständnis für die Schönheit dieser einfachen Dinge bildet sich das Verständnis für alle Kunst überhaupt. Das Beste ist für alle und für die bisher Ärmsten gerade gut genug.«
Diese kurze Passage aus einem Aufsatz zum Thema »Sozialismus und Künstler« lässt – abgesehen von den Hoffnungen revolutionärer Zeiten – mehrere Grundideen der Kunsttheoretikerin anklingen, die am 12. August 1970 in ihrer Geburtsstadt Berlin starb. Das beginnt mit einem Schönheitsbegriff, der an durchaus praktischen Zwecken gemessen und mit »Scheinformen« kontrastiert wird, die, wie es in einem ihrer anderen Texte jener Zeit heißt, »der Kapitalismus unmerklich als Muster, als Norm, als Konvention, als Schablone (…) automatisch erwirkte«. Daran ist der Gedanke geknüpft, dass der Sinn für Schönheit und die Fähigkeit zu ihrem Genuss alltäglichen Umgang mit schönen Dingen voraussetzen. Und damit geht wiederum die Grundthese einher, dass Kunst ursprünglich, von der Prähistorie bis zum Mittelalter, ein qualitativer Anteil jeder menschlichen Arbeit gewesen sei – und dass sie das in Zukunft wieder sein werde.
Künftig werde das ganze Leben Kunst sein, deutete Märten in ihren schwärmerischsten Momenten an. In jedem Fall aber sah sie einen ideell wie materiell verstandenen kollektiven Reichtum als Quelle der Kunst, und da diese sich den Mechanismen von Preisbildung wie auch Wertgesetzen entziehe, sei sie letzten Endes als ein »Geschenk« aufzufassen.
Die Autorin wurde am 24. September 1879 in eine kleinbürgerliche Familie geboren, der nach dem frühen Tod des schwer an Rheuma erkrankten Vaters, eines ehemaligen Berufssoldaten und Eisenbahnbeamten, zunehmend die Verelendung drohte. Krankheitsbedingt starben zwischen 1891 und 1905 auch alle drei Geschwister sowie die Mutter. Lu Märten litt indes unter einer chronischen Nierenkrankheit, die einen regelmäßigen Schulbesuch verhinderte und erst 1905 operiert wurde.
Ihre journalistische Arbeit begann die Autodidaktin um die Jahrhundertwende im publizistischen Umfeld des national gesinnten, sozialliberalen Politikers und späteren Mitbegründers des Deutschen Werkbundes, Friedrich Naumann. Dessen Protegé Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, wurde 1906 vorübergehend ein enger Freund, als Märtens Ehrgeiz noch der Schriftstellerei galt. Im selben Jahr veröffentlichte sie einen Gedichtband, 1909 ein Buch mit autobiografisch inspirierter Prosa sowie ein Drama.
Politisch hatte sie sich derweil von Naumann gelöst und war Sozialdemokratin geworden. Allerdings war sie »nicht, wie sie später selbst angab, 1900 oder gar schon 1898 der SPD beigetreten«, sondern »etwa im Spätherbst 1903«, stellt Chryssoula Kambas in der einzigen Monographie über Märten fest. Dass sie in jedem Fall auch Feministin war, stellen ihre regelmäßigen Publikationen zu Geschlechterthemen klar. 1920 wurde sie Mitglied der Kommunistischen Partei (KPD), geriet innerhalb der Partei aber im Laufe des Jahrzehnts zunehmend ins Abseits.
Nachdem sie das Dritte Reich in ständiger finanzieller Not in Berlin überlebt hatte, wohnte sie bis zu ihrem Tod in Berlin-Steglitz, während sie fast ausschließlich für Publikationen und Verlage im Osten der Stadt arbeitete, vorwiegend als Lektorin.
Als Märtens Hauptwerk gilt Wesen und Veränderung der Formen/Künste, das 1924 erschien und 1949 wieder aufgelegt wurde. Anspruch dieses Buches war, eine Kunsttheorie und -geschichte auf marxistischer Grundlage zu liefern, wobei die Autorin Kunst nun grundsätzlich in Frage stellte. Sie setzte den Begriff in Anführungsstriche, um zu verdeutlichen, dass das Phänomen, das man gegenwärtig als »Kunst« verstand (und heute noch versteht) historisch vorübergehend sei.
Dagegen behandelte sie die Entstehung, Veränderung und Erschöpfung von Formen als eine geschichtliche Konstante: »Indem der primitive Mensch nach Mitteln sucht, die Arbeit zu ihrem Zweck zu erleichtern, produktiver zu machen, entsteht die primitive Form. (…) So entsteht alle Erfindung und damit alle Form (Kunst) aus der Arbeit, aus einer bestimmten Technik, die das primitive Werkzeug so gut diktiert wie das vollendetere und die in der Folge untrennbar verknüpft mit dem Wesen und Zweck einer Arbeit und einem Werkzeug erscheint.«
Erst industrielle Arbeitsteilung und der endgültige Untergang aller Handarbeit hätten zur Isolierung von Kunst als »Luxusarbeit« geführt und diese, praktisch bedeutungslos, zum Selbstzweck werden lassen. Zugleich seien der Allgemeinheit alle Ausdrucksmittel verloren gegangen: »Jenes mit der Maschine verdrängte geistig-persönliche Element der Arbeit erscheint heute spezialisiert in der Künstlerarbeit. Sie aber allgemein in Anspruch zu nehmen und damit sie steigerungsfähig zu machen, ist eine soziale und politische Frage. Eine Machtfrage.« Wenn diese Machtfrage zugunsten der Arbeiterklasse entschieden sei, würden die Maschinen, die inzwischen die »mächtigen Alliierten« der Künstler seien, »klassenlose Formen« herstellen.
Gerade vor dem Hintergrund damaliger marxistischer Debatten verblüfft, dass das Buch offenbar keinen Beitrag dazu leisten wollte, das behandelte Themengebiet der revolutionären Politik dienstbar zu machen. Märten erklärte stattdessen alle Bestrebungen, Künste politisch instrumentalisieren zu wollen, für fruchtlos. Der Sozialismus könne ebenso wenig wie andere Ideologien in seinem »Wesensinhalt durch Künste dargestellt werden – seine überlegenste Form ist zunächst die Theorie – der sprachgewordene Gedanke selbst.«
Allerdings hoffte Märten auf den »revolutionären Faktor der Form selbst« und sah in der »deformierenden Kraft« zeitgenössischer Kunstavantgarden, v.a. des Suprematismus, »die erste Ahnung neuer künftiger Synthesen«. »So ist es möglich, daß die zukünftigen Formen aus Technik und Wissenschaft (…) gewonnene Auseinandersetzungen sind, die den Begriff ›Künste‹ so wenig brauchen können, als die Epochen der frühhistorischen ersten Auseinandersetzungen und Formgewinnungen.«
»Märten erkannte klar, dass die Hindernisse, die Künstlerinnen im Wege stehen, letzten Endes gesellschaftlicher Lösungen bedürfen.«
Die Schärfe, mit der der KPD-Intellektuelle Karl August Wittfogel das Buch 1931 als »formalistische Barbarei« abkanzelte, lässt uns heute schaudern. Allerdings nahm die Geschichte der Formentwicklung in Märtens Darstellung tatsächlich zwischen den Zeilen eine Eigengesetzlichkeit an, die mit dem marxistischen Selbstverständnis der Autorin schwer vereinbar war. Hinzu kam, dass Märtens differenziertes Verständnis für Avantgarde-Positionen sowie ihr relativer Gleichmut gegenüber dem kulturellen Erbe vergangener Epochen sich der erbaulichen klassizistischen Kunstauffassung widersetzte, die sich damals als Parteilinie etablierte.
Also wurde das Buch von der kommunistischen Presse ignoriert, nachdem eine 1921 als Broschüre erschienene Vorstudie, Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste im KPD-Zentralorgan Die Rote Fahne (für das Märten gelegentlich selbst schrieb) sehr kritisch von Gertrud Alexander besprochen worden war. Eine der wenigen (noch dazu positiven) Rezensionen erschien 1925 in der unorthodox-linkskommunistischen Avantgarde-Zeitschrift Die Aktion – in der Märten ebenfalls mehrfach Beiträge verfasste, was symptomatisch für die öffentliche Präsenz der Autorin in den 1920er Jahren ist. Umso bezeichnender ist freilich, dass Die Aktion später eine weitere, diesmal sehr kritische Besprechung des Buches durch den Maler Franz Wilhelm Seiwert hinterherschob.
»Ich glaube nicht,« so lautet der erste Satz von Seiwerts Text, »daß sich ein Nicht-›fachmann‹, ein Arbeiter, durch die manchmal recht gewundene und unnötig komplizierte Darstellung des Buches hindurchfinden kann.« Damit ist diplomatisch umschrieben, welchen stilistischen Eigensinn sich Märten ausgerechnet in ihrem Hauptwerk gegenüber allen Regeln von Grammatik und Interpunktion erlaubt. Dabei entspricht die eigenwillige Terminologie nicht etwa marxistischem Jargon, sondern steht, wie zum Beispiel die Betonung der Begriffe »Vitalität« oder »Qualitätsarbeit« erahnen lässt, im Bann der Lebensphilosophie beziehungsweise der auf das Kunstgewerbe zielenden Reformbewegung der Jahrhundertwende.
Dass Wesen und Veränderung der Formen/Künste wenig rezipiert wurde, dürfte freilich auch an dem banalen Umstand liegen, dass sowohl die Auslieferung der Erstauflage als auch der Nachkriegsausgabe durch Verlagspleiten behindert wurden. Mit etwas Fantasie mag man Märtens Gedanken dennoch als Kontrastfolie an manchen Stellen von Ernst Fischers Buch Von der Notwendigkeit der Kunst durchschimmern sehen, das vor allem im englischen Sprachraum populär wurde. Ebenso mag man Analogien zwischen Märtens Verknüpfung von Ästhetik und gesellschaftlicher Umwälzung sowie der utopisch antizipierenden Aufgabe ziehen, die der Kunst stellenweise innerhalb der Kritischen Theorie zugeschrieben wurde, nicht zuletzt von Herbert Marcuse. In den 1970ern und 1980ern ist die Autorin dann zaghaft wiederentdeckt – und das heißt: historisiert worden.
Im Rückblick erscheint besonders originell, welche Bausteine zu einer Filmästhetik Märten in einigen Aufsätzen und Vorträgen entwickelte. Ihre anfängliche Bevorzugung des Realismus korreliert erwartungsgemäß mit Siegfried Kracauer: Auch sie sieht »die Überlegenheit des Films gerade dadurch bestimmt (...), daß er Elementares, (…) die Wucht des Wirklichen selbst – vor allem erfassen kann.« Daher eigne sich der Film auch als Darstellungsmittel für »Stoffe, die Dasein und Kampf der Arbeiterklasse (...) widerspiegeln«, zumal es sich dabei »immer entschiedener um Massengeschehen-Massenschicksal (...) handelt« und dieses nach »Gestaltung und Wirkung (…) im monumentalen Ausmaß« verlange.
Der entscheidende soziologische Vorzug des Kinos sei wiederum, dass es für breite Bevölkerungsschichten leichter erreichbar und zugänglicher sei als alle »anderen älteren Kulturstätten«. Unter diesen Vorzeichen biete der Film »eines der wunderbarsten Werkzeuge«, um endlich die Ziele der vorangegangenen Bestrebungen der Arbeiterbildung zu verwirklichen. Entsprechende Hoffnungen setzte Märten auf den lehrreichen Dokumentarfilm in abendfüllender Länge. Dabei war sie einerseits überzeugt, dass das bewegte Bild – zumal, da Zeitlupe und -raffer, Mikro- und Makrofotografie das Feld des Sichtbaren erweiterten – »an Stelle des Wortes treten kann«.
Andererseits zog sie aus dem Sieg der Tonfilmtechnik den Schluss, dass die Sprache nun im Spielfilm dieselben »Qualitätsansprüche« erfüllen müsse wie in jedem anderen »Dichtwerk«. 1931 wiederholt sie die Position aus Wesen und Veränderung der Formen/Künste, dass allein sprachgebundene Theorie »eine gewaltige Idee – nehmen wir die von Marx« ausdrücken könne. Aber in dieser Antwort an Wittfogel deutete sie umso überraschender an, dass der Film ihr als »die einzige Möglichkeit« erscheint, falls man tatsächlich versuchen wollte, Marx' Werk »in eine Kunstform zu gießen«.
Bezüge zu unserer Gegenwart lassen sich indes vor allem aus dem kunstsoziologischen Büchlein Die Künstlerin ziehen, das schon 1914 verfasst, aber erst 1919 veröffentlicht wurde. Relevant für heutige Debatten sind wohl nicht zuletzt die Widersprüche, in die sich diese dezidiert feministische Auseinandersetzung mit weiblichem Kunstschaffen trotz ihrer sonstigen Klarsichtigkeit manchmal verwickelt: Zum einen widersetzte sich die Autorin allen Essentialismen – um schließlich doch an entscheidender Stelle »sozialen Muttergeist« als Quelle weiblichen Kunstschaffens auszumachen. Zum anderen erkannte Märten klar, dass die Hindernisse, die Künstlerinnen (wie anderen berufstätigen Frauen) im Wege stehen, letzten Endes gesellschaftlicher Lösungen bedürfen, worunter die Autorin vor allem Institutionen zur Entlastung von privater Sorgearbeit verstand.
Dennoch wird der nuancierte Argumentationsgang an manchen Stellen auf liberalen Idealismus zurückgeworfen, auf Appelle zur Selbstdisziplin innerhalb von Künstlerehen, auf die Forderung nach »Anerkennung« und auf die verdruckste Legitimierung individueller Behelfslösungen, bei denen, abhängig von »Verantwortung und Einkommen (…), die Arbeit andrer« in Anspruch genommen werde.
Nicht zuletzt, weil solche Passagen sich mitunter lesen, als wären sie auf unsere Gegenwart gemünzt, lohnt sich die Lektüre von Die Künstlerin. Umso erfreulicher ist, dass immerhin diese Publikation Lu Märtens – als einzige – in einer neuen (faksimilierten) Ausgabe verfügbar ist. Noch schöner wäre es freilich, wenn sich fünf Jahrzehnte nach ihrem Tod auch ein Verlag fände, um eine breiter angelegte Sammlung von Texten dieser interessanten Autorin herauszugeben.