29. Dezember 2020
Luise Kautskys Wirken wird meistens von der Bekanntheit ihres Mannes Karl Kautsky und ihrer Vertrauten Rosa Luxemburg überschattet. Doch ohne sie wäre die frühe sozialistische Bewegung undenkbar gewesen.
Luise Kautsky war Publizistin, Kommunalpolitikerin und engagierte Sozialistin.
Im September 1944 brachte ein Deportationszug nach tagelanger Fahrt die damals 80-jährige Luise Kautsky in das Vernichtungslager Auschwitz II Birkenau. Mithäftlinge erkannten die völlig entkräftete Frau und schmuggelten sie in den Krankenblock des Lagers, um sie vor der Vernichtung zu bewahren.
Dieser Akt der Solidarität unter Lebensgefahr in der menschengemachten Hölle verdeutlicht, wie bekannt und bedeutend diese heute weitgehend vergessene Frau damals war.
Geboren als Luise Ronsperger am 11. August 1864 in Wien, wuchs sie als Tochter einer vollständig assimilierten jüdischen Familie auf, die im Wiener Zentrum eine Konditorei betrieb. Die Ronspergers wollten Luise eine fundierte Bildung angedeihen lassen und schickten sie nach der damals üblichen, achtjährigen Volksschulzeit auf die Höhere Bildungsschule des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins. Diese Schule gehörte zu den ersten weiterführenden Bildungseinrichtungen für Mädchen in Österreich.
Jungen Österreicherinnen wurde noch bis zur Jahrhundertwende der Zugang zum Universitätsstudium verwehrt, doch der Wiener Frauen-Erwerb-Verein ermöglichte ihnen eine breit angelegte und moderne Schulbildung. Der Fächerkanon sah mindestens eine moderne Fremdsprache vor sowie Unterricht in Mathematik, naturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. Die junge Luise wählte zum verpflichtenden französischen freiwillig auch den englischen Sprachunterricht. Nach ihrem Schulabschluss im Sommer 1880 belegte sie zudem einen mehrstufigen Italienisch-Kurs, den der Verein im Abendunterricht anbot.
In den Folgejahren arbeitete Luise in der Konditorei ihrer Familie, wo sie ihre zukünftige Schwiegermutter kennenlernte. Minna Kautsky war eine damals renommierte Autorin sozialkritischer Romane und Theaterstücke und hatte einen entscheidenden Einfluss auf die bürgerliche Luise, wie diese 1929 schrieb: »Sie nahm mich nicht nur zu künstlerischen Veranstaltungen aller Art mit, sondern sie war es auch, die mich zuerst in die Versammlungen unserer [sozialdemokratischen] Partei führte und mir dadurch den Sinn für das politische Leben erschloss.«
So war Luise bereits Sozialistin noch bevor ihr Minna Kautsky ihren ältesten Sohn, den marxistischen Theoretiker Karl Kautsky, vorstellte. Die beiden heirateten 1890 und noch im selben Jahr zog das Paar nach Deutschland, zuerst nach Stuttgart, sieben Jahre später dann weiter nach Berlin.
Ab 1899 wohnte auch Rosa Luxemburg in der direkten Nachbarschaft der Kautskys. Zwischen den beiden Frauen entwickelte sich eine innige und langwährende Freundschaft. Rosa Luxemburg passte oft auf die drei Söhne der Kautskys auf, feierte Weihnachten mit der Familie und fuhr mit Luise und anderen Familienmitgliedern in den Urlaub. Auch der politische und persönliche Bruch zwischen Rosa Luxemburg und Karl Kautsky, der sich in den Jahren 1909 und 1910 vollzog, konnte der Freundschaft nichts anhaben.
Rosa Luxemburg ermunterte Luise, eine eigene Parteikarriere in der SPD anzustreben, obwohl das in der SPD der Kaiserzeit für die Ehefrau eines berühmten Genossen verpönt war. So begründete August Bebel im November 1908 in einem Brief an Luise Kautsky, sie dürfe nicht an einer Parteischulung teilnehmen, da der SPD sonst »Günstlingswirtschaft« und »Parteilichkeit« vorgeworfen werden könne. Luises Fähigkeiten stellte Bebel in keiner Weise in Frage, im Gegenteil.
Die Umbrüche der Novemberrevolution in Deutschland eröffneten Luise Kautsky neue Möglichkeiten. Da sie drei Fremdsprachen beherrschte, wurde sie von der Revolutionsregierung – dem Rat der Volksbeauftragten – angeordnet, im Berliner Haupttelegrafenamt den Verkehr der Auslandstelegramme zu überwachen. Lediglich zehn Tage lang arbeitete sie dort. Anschließend wechselte sie für einige Zeit ins Außenministerium. Der Rat der Volksbeauftragten hatte Karl Kautsky zum Unterstaatssekretär ernannt. Dort sollte er die diplomatischen Akten zu den Ursachen des Kriegsausbruchs im August 1914 sichern, sichten und veröffentlichen.
Luise Kautsky fungierte als – wie so oft – unbezahlte persönliche Sekretärin ihres Mannes. Karls Ernennung zum deutschen Staatsbeamten bedeutete gleichzeitig die Einbürgerung des Österreichers. Aufgrund des paternalistischen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes wurde Luise als Ehefrau ebenfalls Deutsche.
Das ermöglichte ihr die Kandidatur auf ein politisches Amt in Deutschland und so engagierte sich Luise Kautsky in der Kommunalpolitik. Zwischen Dezember 1919 und März 1921 bekleidete sie in Charlottenburg beziehungsweise Groß-Berlin das Amt einer Stadtverordneten, jeweils gewählt auf einer Liste der Unabhängigen Sozialdemokraten. Im August 1920 nahm sie letztmalig an einer Sitzung des Stadtparlaments teil, um kurz danach eine Reise in die Demokratische Republik Georgien anzutreten.
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Georgiens hatte Vertreter der Zweiten Internationale eingeladen, um das sozialistisches Experiment zu begutachten, das sie seit der Unabhängigkeit des Landes im Mai 1918 betrieben, und für das sie in der Februarwahl 1919 mit einem Wahlsieg von über 80 Prozent der Stimmen legitimiert worden waren. Luise Kautsky begleitete ihren Mann, der dort, obwohl er das Land zuvor nie betreten hatte, ein hohes Ansehen genoß.
Während Karl mit den sozialdemokratischen Parlamentsvertretern über Verfassungs- und Sozialisierungsfragen diskutierte, besuchte Luise Schulen und Kultureinrichtungen und sprach mit den Frauen des sozialistischen Frauenkomitees in Tiflis. Die Eindrücke ihres dreimonatigen Aufenthalts beschrieb sie in einer Artikelserie mit dem Titel Eine Fahrt nach Georgien, die im April 1921 in der Wiener Arbeiter-Zeitung und im Juli 1921 in einer erweiterten Fassung in Die Freie Welt, der Wochenbeilage der unabhängigen sozialdemokratischen Presse, abgedruckt wurde.
Bald nach ihrer Rückkehr aus Georgien zogen die Kautskys zurück in Luises Geburtsstadt Wien, was neben Karls zunehmender politischer Isolierung in Deutschland wohl auch familiäre Gründe gehabt haben dürfte. Anders als ihre Eltern hatten die Kautsky-Söhne 1918 nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, lebten nun alle wieder in Österreich und hatten inzwischen selbst Familienzuwachs bekommen.
Für Luise Kautsky begann in Wien die produktivste Zeit ihres Lebens. Noch immer arbeitete sie unbezahlt als persönliche Sekretärin ihres Mannes, organisierte und lektorierte dessen Publikationen. Gleichzeitig aber war sie ein bekanntes und geachtetes Parteimitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) Österreichs und mehrerer ihrer Vorfeldorganisationen. Sie hielt Vorträge und besuchte internationale Konferenzen als offizielle Delegierte. Unter ihrem Namen übersetzte und publizierte sie Zeitungsartikel und Bücher. Das wohl bekannteste darunter ist der Briefband Rosa Luxemburg: Briefe an Karl und Luise Kautsky (1896-1918), der im Jahr 1923 auf Deutsch und später auch auf Französisch und Englisch erschien.
Im Jahr 1929 fragte die britische Labour-Zeitschrift Social-Democrat Luise Kautsky an, über die Kommunalpolitik der seit 1918 sozialdemokratisch regierten Stadt Wien zu berichten. In ihrem Artikel »Vienna under the Red Flag« stellte Luise die Kernpunkte der sozialistischen Veränderungen in Wien dar. Sie analysierte in ihrem Text die Maßnahmen der sozialdemokratischen Stadtregierung in den Bereichen Wohnungsbau, Sozialfürsorge und Schulreform. Der Artikel erschien nie in einer deutschsprachigen Zeitschrift, wurde jedoch wenig später in übersetzter Fassung in zwei skandinavischen Zeitungen veröffentlicht, in der finnischen Suomen Sosialidemokraatti und in der schwedischen Tiden.
In diesem Beitrag schrieb sie, diese umfangreichen Maßnahmen seien nur durch eine grundlegende Steuerreform möglich gewesen, wie sie von den Wiener Sozialdemokraten umgesetzt worden war. Der damalige Wiener Finanzstadtrat Breitner hatte dafür diverse direkte Steuern und Abgaben auf Luxuskonsum durchgesetzt, die zeitweise ein Drittel der gesamten städtischen Steuereinnahmen ausmachten. Dafür zog er den andauernden Hass der wohlhabenden bürgerlichen Klasse Wiens auf sich.
Nach Luise Kautskys Einschätzung zeichnete sich der bourgeoise Österreicher in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als unwilliger und schlechter Steuerzahler aus, ohne jede Moral, was seine Verpflichtungen angehe. Zur Finanzierung eines großangelegten Wohnungsneubauprogramms – durch das bis 1932 mehr als 60.000 Gemeindewohnungen errichtet werden sollten – belastete Breitners Wohnbausteuer alle Wiener Mietshäuser, wobei die Kleinwohnungen nur gering, die Luxuswohnungen aber stark besteuert wurden.
Die von Luise Kautsky angesprochene Finanzierung staatlicher (oder kommunaler) Maßnahmen über Steuern hat auch heute nichts von ihrer politischen Brisanz verloren, im Gegenteil. Noch immer führt jeder noch so zaghafte Versuch, hohe Einkommen oder Vermögen durch Steuerabgaben stärker zu belasten als bisher, zu einem kollektiven Aufschrei. Gleichzeitig werden sozialstaatliche Ausgaben als Hort des Sozialmissbrauchs diffamiert und ihre Notwendigkeit negiert.
Bereits 1908 stellte Luise Kautsky in einer Abhandlung über den Zustand und die Finanzierung der Schulverpflegung in Europa fest: »Wohl presst die Staatsgewalt dem Arbeiter von seiner frühesten Jugend an den sauer erworbenen Verdienst in Gestalt von direkten und indirekten Steuern ab, … wenn aber derselbe Arbeiter, der alle Werte produziert, von dieser Staatsgewalt verlangt, sie solle ihm sein Kind mit den ihm abgenommenen Steuergroschen ernähren helfen, so schreit die bürgerliche Gesellschaft Zeter und Mordio.« Manche Dinge ändern sich auch in hundert Jahren nicht.
Luises Sprachkenntnisse und ihre Fähigkeit, soziale Netzwerke zu knüpfen, sicherten ihr – von ihrem Ehemann unabhängig – Respekt und Anerkennung in der Arbeiterbewegung. Ihre private Briefkorrespondenz mit mehr als 500 Adressaten aus aller Welt liest sich wie das Who’s who der damaligen sozialistischen Bewegung. Nur Stalin schrieb sie nie.
Ihr internationales Netzwerk half Luise Kautsky auch, als sie und Karl 1938 Österreich verlassen mussten. Über Prag flohen sie nach Amsterdam, wo Karl aber bereits nach sieben Monaten verstarb. In der Folgezeit brachte Luise Kautsky den Nachlass ihres Mannes ins Internationale Archiv für Sozialgeschichte (IISG) und half dort auch bei der Einarbeitung.
Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, fühlte sie sich in den neutralen Niederlanden sicher. Ihre Freunde in der britischen Labour-Party, boten an, für Luise ein Einreisevisum nach England zu besorgen, was diese jedoch ausschlug, da sie befürchtete, aus einem Gegnerland den Briefkontakt zu ihrem jüngsten Sohn nicht mehr aufrecht erhalten zu können. Benedikt Kautsky wurde schon seit Mai 1938 in deutschen Konzentrationslagern gefangen gehalten, erst vier Monate lang im KZ Dachau und anschließend im KZ Buchenwald.
Im August 1944, kurz nach ihrem 80. Geburtstag, wurde Luise Kautsky bei einer Razzia verhaftet und als Jüdin in das Durchgangslager Westerbork gebracht. Alle Bemühungen von Freunden, ihre Entlassung zu bewirken, scheiterten. Selbst eine Intervention des Amsterdamer Bürgermeisters beim Oberbefehlshaber der deutschen Sicherheitspolizei in Amsterdam blieb erfolglos. Am 3. September 1944 wurde Luise Kautsky von Westerbork nach Theresienstadt deportiert und von dort weiter ins Vernichtungslager Auschwitz II Birkenau.
Benedikt Kautsky, wegen dem sie die Niederlande nicht hatte verlassen wollen, befand sich zu diesem Zeitpunkt, nur wenige Kilometer entfernt, im IG-Farben-KZ Auschwitz III Monowitz. Ein Treffen der beiden kam nicht zustande, doch mithilfe einer inhaftierten Ärztin, die Frauen in den Krankenblöcken beider KZs versorgte, gelang es den beiden, sich kurze Nachrichten hin- und herzuschicken.
Trotz aller Bemühungen ihrer Mitgefangenen starb Luise Kautsky Anfang Dezember 1944. Acht Wochen später, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee die Konzentrationslager in Auschwitz. Benedikt Kautsky wurde bis zum 18. Januar 1945 in Auschwitz III Monowitz gefangen gehalten, und war danach bis zu seiner Befreiung am 11. April 1945 im KZ Buchenwald inhaftiert.
Luise Kautskys enge Freundschaft zu der am 15. Januar 1919 von Rechtsterroristen ermordeten Rosa Luxemburg war allgemein bekannt. Fünf Tage nach dem Mord erschien Luise Kautskys Nachruf auf sie in der Freiheit, der Tageszeitung der Unabhängigen Sozialdemokraten. Diesem folgten bis 1934 diverse weitere Zeitungsartikel, nicht nur in deutschsprachigen Zeitschriften, sondern auch in England, Frankreich, den Niederlanden, Dänemark, Lettland und Ungarn, sowie der bereits erwähnte Briefband.
1929 veröffentlichte Luise Kautsky Rosa Luxemburg – Ein Gedenkbuch. Sie wollte ursprünglich einen zweiten Band mit Rosas Briefen herausgeben, doch ein jahrelanger Urheberrechtsstreit mit der KPD verhinderte das Erscheinen, weshalb sie ersatzweise das Gedenkbuch publizierte. 1950 gab Benedikt Kautsky das bereits fertige Manuskript seiner Mutter unter dem Titel Rosa Luxemburg: Briefe an Freunde heraus.
Durch ihre zwei Briefbände und das Gedenkbuch – de facto die erste in Buchform erschienene Luxemburg-Biografie – trug Luise Kautsky viel dazu bei, die Erinnerung an Rosa Luxemburg auch außerhalb der sozialistischen Bewegung wach zu halten. Bereits zu ihren Lebzeiten war bekannt, dass der gesundheitlich labile Karl Kautsky ohne seine energische Partnerin nur einen Bruchteil seiner Publikationen hätte realisieren können. Dennoch verschwindet Luise Kautsky, im Schatten ihres Ehemannes, des »großen Theoretikers« Karl Kautsky, und dem ihrer Freundin, der »revolutionären Lichtgestalt« Rosa Luxemburg.
Günter Regneri ist Historiker und Autor mehrerer Biographien, unter anderem auch der einzig verfügbaren Biographie von Luise Kautsky, die 2013 unter dem Titel »Luise Kautsky. Seele des internationalen Marxismus – Freundin von Rosa Luxemburg« (Hentrich&Hentrich) erschienen ist, und Herausgeber der Reihe »Luise Kautsky: Gesammelte Schriften« (heptagon).
Günter Regneri verdient derzeit seinen Lebensunterhalt als Lokführer einer Werkbahn. Für diese fährt er Güterzüge durch die Lausitz. Der studierte Historiker hat ein neunzig Jahre altes Manuskript von Max Beer redigiert und im Brumaire Verlag als Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten 1932 herausgegeben. Er ist Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.