21. Juni 2022
Machiavelli gilt vielen als zynischer Machttheoretiker. In Wirklichkeit wollte er die Souveränität des Volkes stärken und die Macht von Oligarchen beschränken.
Machiavelli wird oftmals als Vordenker skrupelloser Machtpolitik rezipiert – ein Missverständnis, wie der Politologe John P. McCormick erklärt.
Fast fünf Jahrhunderte nach seinem Tod ist der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli noch immer einer der einflussreichsten Denker der politischen Ideengeschichte. Doch der Autor von Der Fürst wäre wahrscheinlich erstaunt darüber, dass er heute in Ratgeberliteratur über Führungskompetenzen zitiert wird oder von Paulie Walnuts in Die Sopranos als »Fürst Matchabelli« betitelt wurde. Der Irrglaube, Machiavelli sei der Begründer des politischen Zynismus – wenn nicht gar des politisch Bösen – ist fast so alt wie er selbst. Der Politologe John P. McCormick argumentiert in seinem Buch Machiavellian Democracy hingegen, dass der florentinische Denker eher als Vorreiter des heutigen Linkspopulismus zu verstehen ist. Machiavellis Argumente sind alles andere als veraltet – einige von ihnen sind selbst noch unserer Zeit voraus. Ein wirklich »machiavellistischer« Zugang zu Politik könnte Volkssouveränität und Demokratie stärken.
Machiavellis Werk – oder zumindest der Fürst – ist an wohl jeder US-amerikanischen Universität Teil des Lehrplans. Du hast Dich jedoch außergewöhnlich intensiv mit ihm beschäftigt. Du hast bereits zwei Bücher über Machiavelli veröffentlicht, und soweit ich weiß, ist ein drittes in Arbeit. Warum Machiavelli? Wie hast Du ihn für Dich entdeckt?
Der Fürst war mir natürlich schon im College begegnet. Im Jahr 1992, während meines Studiums an der University of Chicago hatte ich aber das Glück, zwei Seminare zu belegen, die sich ausschließlich mit Machiavellis Discorsi befassten. Diese Kurse haben meine lebenslange Faszination für Machiavelli geweckt. Ich habe dann zwar zu Beginn meiner wissenschaftlichen Karriere zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule gearbeitet, jedoch kehrte ich in den 2000er Jahren wieder zu Machiavelli zurück.
Was war der Auslöser für diese Neuorientierung?
Ich schätze, es waren die zunehmende soziale Ungleichheit und die militärischen Einsätze der USA unter der Regierung von George W. Bush und Dick Cheney. Denn von Machiavelli wusste ich, dass die Bürger der antiken Republiken ihre Eliten viel härter für Korruption und Verrat bestraften, als wir es in unseren heutigen liberalen Demokratien tun. Wer Machiavelli ernsthaft liest, wird feststellen, dass die modernen Demokratien die Eliten mit demselben Verhalten davonkommen lassen, das seiner Meinung nach streng bestraft werden muss.
Du bist nicht nur Machiavelli-Spezialist, sondern hast auch zur Weimarer Republik gearbeitet. Man kann schon sagen, dass akute politische Krisen eine besondere Anziehungskraft auf Dich ausüben.
Das war ganz bestimmt nicht mein Plan, aber es hat sich so ergeben, dass »demokratische Republiken in der Krise« zum übergreifenden Thema meiner wissenschaftlichen Karriere wurde. Ich untersuche jetzt schon seit mehr als zwei Jahrzehnten die anhaltende Anfälligkeit der Demokratie gegenüber plutokratischer und oligarchischer Korruption, die zudem oft in autoritäre Putsche mündet. Ich habe den äußerst prekären Status der staatsbürgerlichen Freiheit und der Volksherrschaft in so unterschiedlichen historischen Kontexten wie dem Florenz der Renaissance, dem Deutschland der Weimarer Republik, den USA der Gegenwart und den Mitgliedstaaten der EU erforscht.
Bis heute glauben viele Menschen, Machiavelli sei ein Lehrmeister des Bösen gewesen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben diese falsche Vorstellung zu korrigieren versucht, indem sie die Discorsi in den Fokus rückten und Machiavellis Verbundenheit zur Tradition der Römischen Republik. Deine Lesart ist jedoch eine andere. Dein Machiavelli ist mehr als nur ein republikanischer Denker: Er ist ein Republikaner, der auf der Seite des Volkes steht und die Oligarchie als Bedrohung freiheitlicher Staaten erachtet.
Obwohl Machiavelli das Wort »Demokratie« nie verwendet und sogar ernsthafte (aber nicht unqualifizierte) Vorbehalte gegenüber der athenischen Demokratie geäußert hat, habe ich die These vorgebracht, dass Machiavelli tatsächlich der erste »Demokratietheoretiker« in der Geschichte des westlichen politischen Denkens ist. Er unterscheidet nicht zwischen Aristokraten und Oligarchen und argumentiert, dass sozioökonomische Eliten in jedem Fall das einfache Volk unterdrücken.
Im traditionellen politischen Denken gibt es nur wenige Autoren, die zähneknirschend zugeben haben, dass das einfache Volk gelegentlich ein gutes politisches Urteilsvermögen hat. Machiavelli erweitert diesen Gedanken und baut auf dieser Grundlage eine neue demokratische Theorie auf. Noch heute fixieren sich berühmte Forscherinnen und Forscher auf die wenigen Fälle, in denen Machiavelli dem Volk schlechte Entscheidungen attestiert, und ignorieren zugleich die weitaus verhängnisvolleren Fehlentscheidungen, die er den Eliten (insbesondere den aristokratischen Senaten) der spartanischen, römischen, venezianischen und karthagischen Republiken zuschreibt.
In Italien taucht Machiavelli merkwürdigerweise oft im Zusammenhang mit Klagen über die glorreiche Vergangenheit des Landes auf. Du hingegen zeigst, dass er Denkanstöße liefert, mit denen wir den oligarchische Tendenz westlicher Demokratien korrigieren können.
Machiavelli war ein hoffnungsvoller Visionär für die Zukunft Italiens. Er war nicht von tragischer Nostalgie befangen, sondern ließ sich von der dynamischen Geschichte des Mittelmeerraums inspirieren – etwa davon, wie die antiken Toskaner, Syrakusaner, Spartaner und Achäer so lange und so tapfer der Herrschaft imperialer Hegemonen wie Makedonien, Karthago und Rom widerstanden. Machiavelli war fest überzeugt, dass eine Rückkehr zur zivilen und militärischen Ordnung der Antike das moderne Italien in die Lage versetzen würde, zeitgenössische Hegemonen wie Frankreich, Spanien und den deutschen Kaiser zurückzuschlagen.
Diese modernen Hegemonen waren in seinen Augen nur Papiertiger im Vergleich zu ihren antiken Gegenstücken. Wenn die italienischen Städte ihre einfache Bevölkerung nur wieder bewaffnen würden – sowohl militärisch als auch zivil –, dann könnten sie sowohl diese Fremdherrschaft überwinden als auch die einheimische Unterdrückung durch Kleriker und Ottimati (Anhänger oligarchischer Herrschaft).
Vielleicht war er zu optimistisch, was die Zukunft anging. Machiavelli hat möglicherweise unterschätzt, wie hartnäckig sich die Eliten seiner Zeit den von ihm befürworteten Reformen widersetzen würden: der Wiederbelebung der Volkstribunen, der großen Volksversammlungen und der beträchtlichen Bürgermilizen, die nach seiner Auffassung die Freiheiten der antiken Völker und Republiken garantiert hatten.
Dir wurde vorgeworfen, ein Populist zu sein. Was ist der Unterschied zwischen einem populistischen Politologen und einem, der auf der Seite des Volkes steht – heute und zu Zeiten Machiavellis?
Ich bin in der Tat ein Befürworter des Populismus – nämlich des Linkspopulismus. Der Unterschied zwischen Links- und Rechtspopulismus liegt auf der Hand: Der progressive Populismus ist eine chauvinistische Bewegung einer Mehrheit, die die ungerechten Vorteile einer wohlhabenden und mächtigen Minderheit angreift. Der Rechtspopulismus hingegen ist eine chauvinistische Bewegung einer Mehrheit, die die imaginierten Privilegien schutzloser Migrantinnen und Migranten oder religiöser und ethnischer Minderheiten angreift. Ich bin der Meinung, dass Machiavellis Schriften den Linkspopulismus vorwegnehmen – denn er ermutigt die Plebejer, die Eliten herauszufordern und einen immer größeren Anteil an der wirtschaftlichen und politischen Macht einzufordern.
Machiavelli zeigt ziemlich überzeugend, dass populäre Regierungen permanent durch rechte Verschwörungen bedroht sind – in jedem Moment, in jedem Zeitalter und an jedem Ort. In dieser Hinsicht stellt die von Plutokraten eingerichtete systematische Korruption eine ständige, existenzielle Bedrohung für jedes politische Gemeinwesen dar, das nicht selbst schon eine blanke Oligarchie ist. Und es gibt nur eine Möglichkeit, dieser Korruption Einhalt zu gebieten oder sie zurückzudrängen: Das gemeine Volk muss sich mobilisieren und sämtliche Druckmittel einsetzen, die ihm zur Verfügung stehen – sei es ihr Militärdienst oder ihre Arbeitskraft –, um den Eliten Zugeständnisse abzuringen, die ihre ohnehin schon unverhältnismäßige Autorität lieber noch mehr ausweiten als einschränken würden.
Die antiken Republiken, die Machiavelli analysierte, hatten es natürlich nie mit Rechtspopulismus zu tun. Die sozioökonomischen Eliten in solchen Republiken konnten sich auf Patriotismus oder Anti-Tyrannei berufen, um reformistische Forderungen des Demos oder der Plebe zu vereiteln; sie konnten also entweder behaupten, man müsse das Land durch einen Krieg gegen äußere Feinde verteidigen oder das Drohszenario eines populistischen Führers heraufbeschwören, der sich für die Belange der unteren Klassen einsetzen und die kaiserliche Autorität an sich reißen würde.
Der römische Senat war meisterhaft darin, diese beiden Strategien anzuwenden. Er lenkte regelmäßig plebejische Tumulti im eigenen Land in Kriege im Ausland um, brandmarkte populäre Anführer – von Marcus Manlius Capitolinus bis zu den Gracchus-Brüdern – als »aufstrebende Tyrannen« und ließ sie ungestraft umbringen. Die Oligarchen von damals vermochten es jedoch nicht, große Teile des einfachen Volkes in einer anhaltenden Bewegung gegen populäre Reformen und Reformer zu mobilisieren. Im Ernstfall mussten sie diese gewaltsam unterdrücken, wie das Beispiel der Tyrannei von Sulla zeigt.
Die heutigen Rechtspopulisten hingegen verfügen über eine mächtige Waffe, die sie sowohl gegen Parteien der linken Mitte als auch gegen populäre linke Bewegungen einsetzen können: den Vorwurf der Illoyalität oder des Landesverrats. Da heutige Demokratinnen und Sozialisten durch die universalistischen Prinzipien der Aufklärung motiviert sind, sehen sie sich ständig dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden sich nicht wirklich für das Wohlergehen »der Menschen« in ihren Heimatländern einsetzen und sich stattdessen zu sehr um die »Menschheit« (also alle Menschen weltweit) oder die subalternen Minderheiten im eigenen Land bemühen. Daher fällt es Rechtspopulistinnen auch so leicht, Mitte-links-Politiker und Linkspopulistinnen gleichermaßen als verräterische »Globalisten« oder als Anhängerinnen einer mehrheitsfeindlichen »Identitätspolitik« zu verleumden.
Was ist Deine Haltung zum Marxismus? Dein Zugang zu Machiavelli unterscheidet sich offensichtlich von dem vieler marxistischer Theoretiker.
Zugegeben, ich gehe in meinem neuen Vorwort zu Machiavellian Democracy sehr hart mit den europäischen Postmarxisten ins Gericht. Ich bin ziemlich unzufrieden damit, wie zum Beispiel Louis Althusser, Claude Lefort, Étienne Balibar und jüngere italienische Autoren, die von ihnen beeinflusst sind, die Rolle der Institutionen in Machiavellis politischem Denken ignorieren, herunterspielen oder abwerten. Gemäß ihrer Interpretation habe das Volk in Machiavellis Schriften lediglich das Funktionieren der Institutionen, das heißt die Mechanismen eines monolithisch konzipierten »Staates«, infrage zu stellen.
Dabei zielt Machiavellis Konzept des Governo popolare gerade auf die Beteiligung des Volkes an der Regierung durch Institutionen wie die römischen Volkstribunen, an Versammlungen, in denen das Volk Gesetze vorschlägt und diskutiert, bestätigt oder ablehnt und an öffentlichen Prozessen, in denen das Volk als oberster Richter über Bürger urteilt, die politischer Verbrechen beschuldigt werden. Die Postmarxisten fürchten, dass sich das Volk die Hände schmutzig machen könnte, wenn es an der »Herrschaft« beteiligt ist, oder dass es von»dem Staat« vereinnahmt wird. Machiavelli hingegen besteht darauf, dass die vom Volk durch die Tumulti aufgestellten Forderungen in »Gesetze« umgesetzt werden müssen, deren Befolgung ebenfalls das Volk – und nicht irgendeine privilegierte Gruppe – überwachen und sogar erzwingen sollte.
Machiavelli wollte nicht einfach, dass das Volk durch öffentliche Demonstrationen gegen die in »dem Staat« manifestierte Macht der Oligarchie protestiert. Er wollte darüber hinaus, dass das Volk die Macht der Oligarchen im Staat permanent anficht – also vom Inneren des Staates aus. Denn nur wenn sich die Menschen durch politische Praxis außerhalb und innerhalb der Institutionen die Hände schmutzig machten, könnten sie die Oligarchie wirksam bekämpfen und selbst regieren. Die postmarxistischen Interpreten waren von den Beispielen des stalinistischen Russlands und des kommunistischen Chinas so entsetzt, dass sie die Demokratie in vorauseilendem Eifer auf Anti-Herrschaft, also auf Anarchismus reduzieren.
Wie ist Deine Einstellung zu Karl Marx selbst? Welcher Teil seines Denkens ist Deiner Meinung nach für uns am wichtigsten?
Ich bewundere die Schriften von Marx enorm. Als ich im Studium seine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie gelesen habe, hat das mein Leben verändert. Ich habe das emanzipatorische Ideal zwar inzwischen aufgegeben, jedoch hat mich die Weise, in der Marx britische Ökonomie, französische Politik und deutsche Philosophie kombinierte, jahrzehntelang inspiriert. Aber Marx fehlt eine konstruktive politische Vision und das hat mich stark frustriert: Marx hat sich in Werken wie Der Bürgerkrieg in Frankreich und Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte als meisterhafter Kritiker reaktionärer Politik erwiesen – aber er konkretisiert sozialistische Politik kaum und das war für mich enttäuschend.
Stattdessen wandte ich mich zunächst dem damals jungen, mehr hegelianischen Jürgen Habermas zu. Sein Versuch, die politische Lücke bei Marx zu füllen, war mir aber letztendlich zu liberal – daher ging ich über zu Machiavelli. Heute wird jedenfalls einiges an guter Arbeit geleistet, um die politischen Ressourcen von Marx zu erschließen: So arbeitet zum Beispiel Bruno Leipold zum Marx’schen Republikanismus, Steven Klein zu den marxistischen Traditionslinien der Sozialdemokratie, Will Levine zum marxistischen Kantianismus und Camila Vergara zur Tradition des radikalen Institutionalismus, die auf Rosa Luxemburg zurückgeht.
Der andere Autor, über den Du ausführlich publiziert hast, ist ebenfalls ein antiliberaler Denker, dieses Mal aber von der rechten Seite des politischen Spektrums: Carl Schmitt. Was können wir von ihm lernen?
Schmitt war natürlich der Meister darin, den Universalismus der politischen Linken anzuprangern, um für eine angeblich authentischere, »demokratische« politische Rechte in der Weimarer Republik zu werben. Seine Karriere veranschaulicht, welche Rolle die rechte Mitte fast durchgängig bei der versuchten oder erfolgreichen Vereinnahmung liberaler Demokratien gespielt hat. Schmitt war nämlich zunächst ein Befürworter der Weimarer Republik – doch nichtmal ein Jahrzehnt später rechtfertigte und beteiligte er sich an ihrem Umsturz.
Viele moderne Demokratien folgen genau dieser Entwicklung: Sie gründen sich mit durchaus enthusiastischer Unterstützung seitens Mitte-rechts-Parteien – aber sobald diese Parteien an der Macht sind, tendieren sie dazu, weiter nach rechts zu rücken und sich mit Rechtsaußen-Parteien zu verbünden, um ihre Macht außerkonstitutionell zu erhalten, anstatt durch Koalitionenen mit Mitte-links-Parteien, in denen sie Kompromisse eingehen müssten. Politikerinnen und Politiker von Mitte-rechts-Parteien denken immer, dass sie die extreme Rechte kontrollieren können, stellen aber bald fest, dass sie einen Tiger am Schwanz gepackt haben. So war das in der Weimarer Republik, und so ist das auch heute in den USA. Moderne Demokratien werden in aller Regel von rechts gestürzt und nicht von links.
Es gibt zwei Herangehensweisen, die italienische Politik aus dem Ausland zu beurteilen. Einige Kommentatoren stellen Italien als ein fremdartiges und geheimnisvolles Land dar, in dem die Politik rätselhaften Gesetzen folgt. Klügere und besser informierte Kolumnistinnen haben festgestellt, dass die italienische Politik dazu neigt, den westlichen Trend vorwegzunehmen – meistens in den unheilvollsten Hinsichten. Demnach war Benito Mussolini ein Vorläufer für Adolf Hitler, so wie Silvio Berlusconi für Donald Trump. Wie stehst Du dazu?
Ich bin ein überzeugter Anhänger der letzteren Denkweise. Die italienische Politik ist stets der »Kanarienvogel im Bergwerk« der westlichen Politik. Als ich Mitte der 1990er Jahre in Italien lebte, waren die Parallelen zwischen Berlusconis Aufstieg und dem, was Newt Gingrich und Pat Buchanan in den USA trieben, für mich überdeutlich. Aber in den USA wollte sie kaum jemand als Protofaschisten betrachten. Im US-amerikanischen politischen Vokabular ist das Wort »Faschist« überhaupt nicht klar umrissen: Man darf Barack Obama öffentlich als Faschisten bezeichnen, aber nicht Donald Trump! In Italien hingegen wurde in jenen Jahren bei jedem Mittag- und Abendessen diskutiert, wo Berlusconi auf dem faschistischen Spektrum zu verorten sei und wie viel weiter er noch in eine faschistische Richtung gehen könnte.
Der gegenwärtige politische Stillstand hat in unbestreitbarer Weise viel mit der Krise der sozialistischen Bewegung zu tun. Die Oligarchen befinden sich in einer für sie sehr bequemen Lage, da die neoliberale Linke ihre Interessen nicht weniger vertritt als die Rechte. Für die Reichen ist es eine Win-Win-Situation: Sie können auf eine ihnen freundlich gesinnte Regierung setzen, egal, wie die Wahlen ausgehen. Wie können wir das ändern?
Genau so versuche ich immer, meiner Mutter die US-Politik zu erklären: Wenn die Republikaner gewinnen, werden die Reichen noch reicher; wenn die Demokraten gewinnen, bleiben die Reichen reich. Aufgrund des Zweiparteiensystems waren wirtschaftliche Umverteilung und Regulierung in den USA schon immer schwer zu erreichende politische Ziele – wobei die USA der Nachkriegszeit selbst unter Republikanern wie Dwight Eisenhower und Richard Nixon verglichen mit heute ein sozialdemokratisches Shangri-La waren.
In Europa sind die Dinge schwerer zu erklären. Da es in Westeuorpa während des Kalten Kriegs glaubwürdige kommunistische Parteien gab, vermute ich, dass dies die Mitte-rechts-Parteien dazu veranlasste, Kompromisse mit Mitte-links-Parteien zu schließen, was eine relative wirtschaftliche Gleichheit zur Folge hatte. Heute hingegen können konservative Parteien, wenn sie nicht mehr an der Macht sind, alles blockieren.
Du hast natürlich Recht, dass die sozialdemokratischen Parteien dafür mitverantwortlich sind. Durch ihre neoliberale Politik haben sie an der »Aushöhlung« – um es mit einem Wort des Politologen Peter Mair zu sagen – der gesellschaftlichen Grundlagen progressiver Politik mitgewirkt.
Was denkst Du über die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich?
Sie sind eine willkommene Ausnahme von der Regel! Es war wirklich erfrischend zu sehen, wie in einem großen demokratischen Land eine mehr oder weniger basisdemokratische und progressive soziale Bewegung entstand, die gegen die Austerität protestierte. Und es war eine große Erleichterung, dass diese Bewegung nicht die pathologische Form angenommen hat, die mit dem Rechtspopulismus assoziiert wird – ich hoffe, dass es sich bei den Vorwürfen des Antisemitismus nur um Verleumdungen konservativer Feinde handelt. Der impulsive und verständliche Widerstand der Gelbwesten sind genau die Opposition gegen die Austeritätspolitik, die zentristische Politiker wie Emmanuel Macron verdient haben. Sie erteilten einer Finanz- und Wirtschaftspolitik, die die Last der Aufrechterhaltung einer gesunden modernen Gesellschaft von den Reichen auf die Durchschnittsbürgerinnen und -bürger abwälzt, eine harte Absage.
Ich habe es satt, dass Zentristen wie Macron oder Angela Merkel sich verbeugen und Blumensträuße dafür entgegennehmen, dass sie die Aufklärung, die Zivilisation und den Anstand gerettet haben, indem sie die fremdenfeindliche Rechte bei Wahlen besiegt haben. Dann drehen sie sich um und befriedigen die politischen Präferenzen des Finanzsektors, der direkt oder indirekt ihre Kampagnen unterstützt – und nicht die der Bürgerinnen und Bürger aus der Arbeiterklasse und Mittelschicht, die sie eigentlich gewählt haben. Sie beglückwünschen sich selbst dazu, dass sie den rechtspopulistischen Drachen geschlagen haben, nur um dann eine Politik zu betreiben, die ihn weiter stärkt.
Merkels Austeritätspolitik hat sichergestellt, dass es im Süden Europas eine Wählerschaft für die extreme Rechte gibt, und Macrons neoliberale Politik sorgt dafür, dass Marine Le Pen in Frankreich eine Versuchung bleibt. Die Gelbwesten aber zeigen, dass es eine Alternative zu neoliberaler Austeritätspolitik und Rechtspopulismus gibt.
Welches europäische Land ist neben Polen, Ungarn und der Türkei am meisten gefährdet, dem Rechtspopulismus zu verfallen?
Ich würde nicht sagen, dass Deutschland »als nächstes dran« ist. Aber die AfD muss genau beobachtet werden, und es müssen sämtliche Anstrengungen unternommen werden – national, europäisch und international –, um sie klein zu halten. Die Kosten für Deutschland, die EU-Mitgliedsstaaten, Europa als Ganzes und die Demokratie an sich wären verheerend, sollte eine rechtsextreme Bewegung ausgerechnet in Deutschland erstarken.
Wer Machiavelli kennt, musste in Barack Obama einen modernen Wiedergänger von Piero Soderini sehen – einem Florentiner Magistraten, mit dem Machiavelli zehn Jahre lang zusammenarbeitete. Soderini wurde besiegt, weil er entgegen Machiavellis Rat stets vor Konflikten mit der Elite zurückschreckte und Kompromisse zu schließen versuchte, auch wenn klar war, dass seine Gegner zu keinen Zugeständnissen bereit waren – bis sie ihn schließlich durch einen Staatsstreich von der Macht entfernten. Joe Biden schien zunächst eher gewillt zu sein, ein ehrgeiziges Reformprogramm voranzutreiben, und weniger zaghaft in der Konfrontation mit seinen Gegnern. Wie interpretierst Du die Lage?
Was Du über Obama sagst, ist zugleich amüsant und deprimierend. Wenn ich mein Seminar über politische Führung gebe, widme ich immer eine Sitzung dem Thema »Barack Obama: Tyrann oder Bittsteller« und verweise auf Passagen von Machiavelli über Soderini. Ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass Obama im Umgang mit den Republikanern viel zu umsichtig war. Biden hat an Obamas Seite miterlebt, wie die Republikaner acht Jahre lang Reformen verschleppten und kompromisslos blieben. Nun hat Biden aber bereits gezeigt, dass er den Republikanern die Hand ausstrecken und sie an der Politikgestaltung teilhaben lassen will. Aber ich hoffe, dass er nicht ewig um ihre Zusammenarbeit betteln oder darauf warten wird, dass sie sich erkenntlich zeigen.
Wie könnte Biden das Problem lösen, dass die extremen Rechten den Supreme Court in der Hand haben?
Leider hat Biden im Kongress nicht genug Sitze, um die notwendigen Reformen durchzusetzen, um die rechte Schlagseite des Supreme Court zu korrigieren. Letzten Endes wird ein demokratischer Präsident mit breiter Unterstützung durch den Kongress den Supreme Court vergrößern und ein weiteres halbes Dutzend Richterinnen und Richter ernennen müssen. Da der US-amerikanische Föderalismus, das Electoral College und der Senat die politische Minderheit bevorteilen, entspricht die konservative Mehrheit am Supreme Court nicht den politischen Präferenzen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
Wenn es den Demokraten eines Tages gelänge, die Verschleppungsmethode des Filibuster im Senat abzuschaffen, könnte der Kongress ein Gesetz verabschieden, das dem Supreme Court die Autorität der richterlichen Oberhoheit entzieht. Der Supreme Court hat die Befugnis, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen zu entscheiden, nämlich nur durch richterliche Präzedenzfälle erhalten. In der US-amerikanischen Verfassung selbst ist eine solche Vorrangstellung nicht vorgesehen.
Siehst Du als Kenner der Weimarer Republik irgendwelche Parallelen zu den heutigen USA?
Viele Leute haben den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 mit dem Reichstagsbrand verglichen, den die Nazis zur Konsolidierung ihrer Macht ausnutzten. Ich rücke ihn eher in die Nähe der Morde an den Weimarer Ministern Walther Rathenau und Matthias Erzberger durch Rechte in den frühen 1920er Jahren. Diese Morde veranlassten den Zentrumspolitiker Joseph Wirth dazu, auszurufen: »Darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!«
Diese Attentate von damals und der Sturm auf das Kapitol heute hätten alle Bürgerinnen und Bürger, die sich der konstitutionellen Demokratie verpflichtet fühlen, dazu veranlassen müssen, den Rechtsextremismus abzulehnen und zu bekämpfen. In der Weimarer Republik wurde die Warnung aber nicht beherzigt – und ich habe meine Zweifel, ob sie in den USA ernst genommen wird. Das feige Verhalten der großen Mehrheit der republikanischen Politikerinnen und Politiker während und nach Trumps zweitem Amtsenthebungsverfahren ist in dieser Hinsicht kein gutes Zeichen.
John P. McCormick ist Professor für Politikwissenschaft an der University of Chicago. Zu seinen Werken zählen Machiavellian Democracy (2011), Weber, Habermas and the Transformations of the European State (2006) und Carl Schmitt’s Critique of Liberalism (1997).