08. Dezember 2022
Das Bild einer nach rechts driftenden Arbeiterklasse ist falsch. Entscheidender ist, dass die alltägliche Kritik der Arbeitenden nicht repräsentiert wird. Wohin sich dieses Gefühl politisch entwickelt, ist offen.
Lisa kommt im Blaumann in den McDonald’s an der Ausfahrtstraße am Rande der Stadt. Draußen donnern Lastwagen auf die Autobahn, Lisa holt sich einen Kaffee und hockt sich müde in die Sitzecke. Sie kommt von der Frühschicht und war seit 3 Uhr morgens in der Autofabrik, in der sie als Leiharbeiterin beschäftigt ist. Sie will eigentlich nur heim, nimmt sich aber dennoch Zeit für ein Interview. Lisa ist einer der Menschen, mit denen wir für eine Studie sprechen, in der es um das politische Bewusstsein einer Klasse geht, die im öffentlichen Diskurs fast schon vergessen ist: der »alten Arbeiterklasse« von manuellen Arbeiterinnen und Arbeitern in Industrie, Handwerk und Bau.
»Gibt es Arbeiter überhaupt noch?«, fragen uns Uniabsolventen, während von fern ein Presslufthammer dröhnt. »Ah, das neue AfD-Milieu«, sagen andere. Uns reichen diese Klischees nicht. Nachdem seit Jahren fast nur noch dann über die Arbeiterklasse gesprochen wird, wenn Rechtsradikale Wahlerfolge feiern, wollen wir uns ein genaueres Bild des Arbeiterbewusstseins jenseits der Schlagzeilen verschaffen. Wir treffen Arbeiterinnen und Arbeiter zu Hause oder in der Mittagspause, auf der Baustelle oder im Café.
»Wie würdest Du Dich selbst beschreiben?« Mit dieser Frage beginnen viele der langen Gespräche. »Ich hab kein Problem damit, einen Hammer oder eine Axt anzuheben«, ist Lisas Antwort. »Ich muss mich auch nicht total aufbrezeln, wenn ich in die Fabrik gehe. Es ist kein Laufsteg, ich geh da zum Arbeiten hin. Insofern bin ich vielleicht eine ungewöhnliche Frau.« Unsere Gespräche drehen sich um Selbstverständnisse und Beschwerden, Belastungen und Identitätsstiftung durch Arbeit, fast immer auch um die Politik, die die meisten mit einem Abwinken auf Distanz halten. In unseren Gesprächen kommt eine Arbeiterklasse zu Wort, die vielseitiger, klüger und widersprüchlicher ist, als die Karikaturen im Nachmittagsfernsehen und in Brennpunkten zu Wahlen es nahelegen.
»Gewinn, Gewinn, Gewinn. Löhne immer niedriger, Gewinne immer höher. Der Gewinn geht vor dem Mitarbeiter.«
Dies deckt sich auch damit, was uns bestehende Daten sagen: Die Erzählung eines Rechtsrucks unter deutschen Arbeiterinnen und Arbeitern in den letzten Jahren ist falsch. Der Anteil an Menschen, die sich als rechts verorten, ist in dieser Klasse heute genauso groß wie vor dreißig Jahren (etwa 20 Prozent); etwas darunter liegt der Anteil jener, die auch rechtsradikal wählen – im Osten sind es mehr. Auch wenn jeder einzelne Rechte unter ihnen einer zuviel ist, wird hier schon klar: Die große Mehrheit der arbeitenden Menschen gehört nicht zum rechten Lager.
Was aber denken Arbeiterinnen und Arbeiter wirklich über Politik und Gesellschaft? Wo stehen sie politisch? Um dies zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Ungerechtigkeitsgefühle, Wut und Kritik, die in unseren Gesprächen allgegenwärtig sind. Viel mehr als eine klare Ideologie äußert sich ein intuitives Unbehagen mit dem Status quo. »Die höheren Leute, die lassen es am unteren Ende raus«, sagt Lisa etwa, sichtlich wütend. »Verdienen Unmengen an Geld, gehen mit einer Rente nach Hause, davon träumt jeder normale Mensch. Und die Rentner kriegen gar nichts. Das versteh’ ich nicht. Das geht einfach nicht rein in meinen Kopf.«
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