29. August 2024
Emmanuel Macron hat deutlich gemacht, dass er keine Regierung ernennt, wenn diese von der Neuen Volksfront geführt wird. Seine Weigerung bestärkt eine alte linke Forderung: Die quasi-monarchischen Befugnisse des französischen Präsidenten müssen abgeschafft werden.
Emmanuel Macron bei der Eröffnungszeremonie der Paralympischen Spiele in Paris, 28. August 2024.
Es ist inzwischen über zweieinhalb Monate her, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgezogene Neuwahlen zur Nationalversammlung ausgerufen hatte. Damit wollte er damals für »politische Klarheit« nach den Europawahlen sorgen. Stattdessen brachten die Wahlergebnisse vom 7. Juli Stillstand. Macrons Lager verlor 86 Sitze; keine Partei und kein Bündnis erreichten eine Mehrheit im Parlament. Seitdem hat sich Macron geweigert, eine neue Regierung zu ernennen. Das wirft Fragen zur bisherigen französischen Verfassungsordnung auf. Wie es nun weitergehen soll, ist unklar.
Schon kurz nach der Stichwahl Anfang Juli hatte Macron den »olympischen Frieden«, einen politischen Waffenstillstand während der Olympischen Spiele in Paris, ausgerufen. Das ließ bereits Zweifel aufkommen, ob er seine Niederlage wirklich eingestehen wird. Am Montag dieser Woche ließ der Präsident nun offiziell wissen, er werde keine Premierministerin ernennen, die aus dem bei den Wahlen erstplatzierten Bündnis, der linken Nouveau Front Populaire (NFP), stammt. Die NFP-Parteien reagierten erwartungsgemäß verärgert und betonten, ihre gemeinsame Kandidatin Lucie Castets verdiene angesichts des Wahlsieges ihre Chance als Premierministerin.
Macron begründete seine Ablehnung von Castets mit der angeblich bedrohten »Stabilität der Institutionen«. Schließlich würde es im Oktober, wenn das Parlament wieder zusammentritt, umgehend Misstrauensvoten gegen die linke Kandidatin geben und sie nicht zu halten sein. Mit ihren 193 Abgeordneten hat die NFP tatsächlich keine ausreichende Mehrheit (289 der insgesamt 577 Sitze) in der Nationalversammlung und sie wäre auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen, um Gesetze zu verabschieden. Allerdings sind die anderen Blöcke in einer noch schwächeren Position: Macrons Fraktion hat 166 Sitze, die Rechten von Marine Le Pen 142.
Die linke Partei La France Insoumise spricht nun von einem »Coup« der Macronisten gegen das Wahlergebnis und kritisiert dieses Vorgehen scharf. Ihr Vorsitzender Jean-Luc Mélenchon hatte zuvor angeboten, eine Regierung Castets zu unterstützen, selbst wenn diese keinen einzigen Minister von La France Insoumise beinhalten würde. Damit legte er Macrons Bluff offen; schließlich hatte der Präsident zuvor betont, er werde nicht zulassen, dass La France Insoumise an der Macht beteiligt wird. Die Partei kann nun ihrerseits darauf hinweisen, dass Macron überhaupt keine auch nur annähernd linke Kraft regieren lassen will.
»La France Insoumise zeigt sich nun als Verfechterin einer gerechten Sozialpolitik, aber auch als Verteidigerin einer mit Füßen getretenen Demokratie.«
La France Insoumise fordert darüber hinaus, das Parlament solle Macron mit Verweis auf Verfassungsartikel 68 (»Pflichtverletzung«) absetzen. Bislang hat dieser Ansatz allerdings auch bei den grünen, sozialdemokratischen und kommunistischen Verbündeten in der NFP wenig Anklang gefunden, wenngleich sich einige Abgeordnete den Aufrufen zu einer Demonstration am 7. September angeschlossen haben, um gegen Macrons Mauern zu protestieren. La France Insoumise gibt sich ihrerseits kompromisslos und unterstreicht: Die NFP hat angesichts des Wahlsieges das Recht, zu versuchen, ihr Programm umzusetzen.
Die aktuelle Situation und der generelle Stillstand in Frankreichs Politik lässt erneut Forderungen nach einer Verfassungsänderung laut werden, insbesondere nach einem Ende der quasi-monarchischen Befugnisse des Präsidenten. Der Verweis auf einen antidemokratischen »Coup« mag übertrieben sein, insbesondere, da die regierungswillige NFP bei den Wahlen nicht mal ein Drittel der Stimmen bekommen hat. Das Eintreten für demokratischere Vorgehensweisen in den Institution könnte dennoch ein wichtiger Beitrag sein, um die festgefahrene Situation zu überwinden.
Ganz realistisch betrachtet wäre es für eine Minderheitsregierung unter Führung der NFP natürlich schwierig, größere Reformen durchzusetzen. Schließlich wäre sie auf die Unterstützung mehrerer anderer Abgeordneter angewiesen. Mit Aufrufen zur Mobilisierung auf der Straße, um linke Politik außerparlamentarisch zu unterstützen, dürfte diese Problematik ebenfalls nicht einfach überwinden werden können.
Dennoch wäre eine solche Regierung durchaus interessant und gewinnbringend (gewesen): Sie könnte endlich eine ordentliche Abstimmung über Macrons Erhöhung des Renteneintrittsalters zulassen sowie austesten, ob Le Pens Partei Maßnahmen wie eine Erhöhung des Mindestlohns oder Preisobergrenzen für Gas und Strom blockieren würde.
La France Insoumise zeigt sich nun als Verfechterin einer gerechten Sozialpolitik, aber auch als Verteidigerin einer mit Füßen getretenen Demokratie. Die Wut ist verständlich: Während die linke Wählerschaft bei der Stichwahl am 7. Juli massenhaft für die Kandidaten von Macron und damit gegen Le Pen stimmte (und damit erneut für eine »republikanische Front« gegen die radikale Rechte in die Bresche sprang), revanchiert sich der Präsident jetzt, indem er die größte linke Partei als Bedrohung der französischen Institutionen darstellt.
»Zeigt die taktische Wahl von Macron-Kandidaten, um gegen die Rechte zu siegen, eine gewisse Leichtgläubigkeit und Blauäugigkeit von La France Insoumise? Ich denke nein.«
Die Kritik von La France Insoumise an Macron findet derzeit viel Gehör, was sicherlich auch auf eine weit verbreitete Abneigung gegen die wahrgenommene Arroganz des Präsidenten zurückzuführen ist. Einige Kommentatoren und Beobachterinnen mögen die Konfrontation als persönlichen Schlagabtausch ansehen, dabei zeigt der aktuelle Streit aber auch die Problematik der übergroßen Befugnisse des französischen Präsidenten (und Macrons Gebrauch davon) auf.
Diese Problematik konnte schon im Zuge der heftigen Auseinandersetzungen um die Anhebung des Renteneintrittsalters im Jahr 2023 beobachtet werden. Die Maßnahme wurde in Meinungsumfragen von über 80 Prozent der Befragten abgelehnt; es kam zu massiven Mobilisierungen auf der Straße. Letztlich nutzte Macron Verfassungsartikel 49.3, um die einschneidende Reform ohne eine gesonderte Abstimmung im Parlament zu verabschieden – und zwar von einer Regierung, die schon damals über keine Mehrheit der Sitze verfügte. Zugegebenermaßen war es damals keine rein verfassungstechnische Problematik, sondern auch eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse: Denn die Entscheidung nach Artikel 49.3 hätten durch ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin (damals Élisabeth Borne) noch abgewendet werden können. Zu einer solchen Abstimmung kam es im März 2023; es fehlten jedoch neun Stimmen für ein erfolgreiches Misstrauensvotum.
Bei den Neuwahlen Anfang Juli erhielt Macrons Lager nur noch 21 Prozent der Stimmen und verschlechterte seine Position in der Nationalversammlung damit weiter. Macron lehnt einen Kurswechsel dennoch ab und versucht nun, einen Pakt mit den konservativen Republikanern sowie kleinen zentristischen und regionalistischen Kräften zu schließen. Die Führungsriege der Republikaner hat eine solche Koalition bereits ausgeschlossen – und selbst wenn es dazu käme, würden dieser Gruppe immer noch mindestens 60 Sitze für eine Mehrheit fehlen.
Die aktuelle Lage verdeutlicht, dass Frankreichs Verfassung eine stark auf den Staatschef ausgerichtete Ordnung ist, die es dem Präsidenten ermöglicht, auf Zeit zu spielen. Die vorherige Macron-hörige Regierung unter Gabriel Attal ist offiziell bereits zurückgetreten, bleibt jedoch im Amt, um das »Tagesgeschäft« zu verwalten. Das ist verständlich, macht es der bei den Wahlen siegreichen Opposition aber auch unmöglich, diese »Zwischenregierung« durch ein Misstrauensvotum abzusetzen. Solange der Präsident keine neue Regierung einsetzt, bleibt es bei der Pattsituation. Diese dauert nun schon sechs Wochen an und ein Ende ist nicht in Sicht.
Da erneute Neuwahlen erst wieder im Juni 2025 angesetzt werden können, dürfte man in Frankreich wohl eine technokratische Lösung finden, wahrscheinlich eine Minderheitsregierung aus Macron-Anhängern, die von einer nominell »unabhängigen« Persönlichkeit geführt wird. Es wäre eine wackelige Angelegenheit: Schon um den Haushalt für das kommende Jahr in diesem Herbst durchzubringen, müsste sich eine solche Regierung auf andere Parteien stützen und sich darauf verlassen, dass diese kein Misstrauensvotum einleiten.
Stichwort Haushalt: Der scheidende Premier Attal hat einen sogenannten Basisplan vorgeschlagen, mit dem die Ausgabenpläne für 2025 einfach aus der Budgetplanung für 2024 übernommen werden. Doch selbst eine solche pragmatische Lösung birgt Gefahren: Frankreich hat das zweithöchste Haushaltsdefizit unter den Ländern der Eurozone (5,5 Prozent) und riskiert ein EU-Disziplinarverfahren, wenn es keine Ausgabenkürzung gibt.
»In der Vergangenheit brauchte es in Frankreich meist eine militärische Niederlage oder einen Coup, um die Verfassung zu ändern. Heute scheint das wichtigste Instrument zur Schaffung einer ›Sechsten Republik‹ paradoxerweise die Präsidentschaftswahl zu sein.«
Solche Strafmaßnahmen aus Brüssel sind natürlich politische Entscheidungen. Zwar hat EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni betont, es werde »kein Zurück zur Austerität« geben, aber es ist sehr gut vorstellbar, dass an einer linken französischen Regierung ein Exempel statuiert und deutlich mehr Druck von den EU-Behörden ausgeübt werden würde, als dies bei einer mit Macron abgestimmten Technokraten-Regierung der Fall wäre.
Die Grenzen für eine (inzwischen fast rein hypothetische) NFP-Regierung sind deutlich. Das gilt auch intern: Die rechten Flügel der Sozialistischen und der Grünen Partei stehen Macrons Vorstellungen näher als denen der radikalen Linken. Außerdem wehren sie sich gegen die (vermeintliche) Vorherrschaft Mélenchons innerhalb der NFP. Eine linke Minderheitsregierung wäre überaus anfällig und müsste potenzielle Abweichler stets im Auge behalten, wenn diese Druck aus dem Macron-Lager oder aus Brüssel bekommen und diesen weitergeben.
Es ist gut möglich, dass sich selbst der rechte Flügel der Parti Socialiste nicht mehr an Macron binden will, zumal dieser sich in der Endphase seiner Präsidentschaft befindet. Sozialdemokratische Figuren wie Ex-Präsident François Hollande und sein damaliger Premier Bernard Cazeneuve sind aber nach wie vor entschlossen, die Macht der Linken und insbesondere den Einfluss von La France Insoumise innerhalb der NFP zu brechen.
Die Positionierung und das Geschacher der Parteien legt nahe, dass diese bereits ihren Blick auf künftige Wahlen richten, also auf die Präsidentschaftswahl 2027, aber gegebenenfalls auch auf nochmalige Neuwahlen zur Nationalversammlung im Sommer 2025. La France Insoumise präsentiert sich dabei als Retterin der Einheit innerhalb der NFP – auch weil sie weiß, dass viele in der Koalition lieber mit ihr brechen würden, als das Bündnis fortzusetzen.
Bei den EU-Wahlen im Juni, bei denen die linken Parteien noch getrennt antraten, war La France Insoumise (zehn Prozent) nicht die stärkste Kraft im linken bis linksliberalen Spektrum; sie lag hinter der Liste der Parti Socialiste unter dem Vorsitz des Liberalen Raphaël Glucksmann (14 Prozent). Bei Europawahlen mit ihrer traditionell niedrigeren Wahlbeteiligung und einer eher bürgerlichen Wählerschaft kann eine gemäßigte Linke meist besser abschneiden. Die diesjährigen Wahlen schienen dem Glucksmann-Lager auch Auftrieb für künftige nationale Abstimmungen zu geben. Das änderte sich schnell mit den überraschend ausgerufenen Neuwahlen und der raschen Gründung der NFP.
Zweifellos würden diverse zentristischere Personen, die als Teil der NFP gewählt wurden, lieber eine Macron-freundliche Regierung unterstützen als eine stark linksgerichtete. Dennoch hat die Strategie von La France Insoumise in den vergangenen drei Jahren – eine Kombination aus Aufrufen zur Einheit der Linken und einer vehementen Verteidigung der eigenen Positionen – die oft intensiven Bemühungen vereitelt, sie zu marginalisieren und Mélenchon zu »corbynisieren« und auszustoßen. Für La France Insoumise waren die Ergebnisse der Stichwahl vom 7. Juli nicht nur ein Wahlsieg für die NFP, sondern auch ein Beleg, dass die Ausgrenzung der radikalen Linken nicht funktioniert hat.
Zeigt die taktische Wahl von Macron-Kandidaten, um gegen die Rechte zu siegen, eine gewisse Leichtgläubigkeit und Blauäugigkeit von La France Insoumise? Ich denke nein: Macron betont seit Jahren, die Linke sei genauso gefährlich wie die radikale Rechte. Eine gut funktionierende Zusammenarbeit mit ihm war von vornherein ausgeschlossen. Daher ist es auch nicht überraschend, dass er sich nun mit Händen und Füßen gegen eine Regierung unter NFP-Führung wehrt – und es fehlt auch an Druckmitteln, ihn doch noch dazu zu bringen. Für La France Insoumise geht es daher aktuell darum, immer wieder das mit der Wahl erkämpfte Recht auf die Regierungsbildung zu betonen, Macrons undemokratisches Vorgehen offenzulegen und zu zeigen, dass man regierungsfähig statt lediglich am Protest interessiert ist.
Es bleibt viel zu tun. La France Insoumise kann sicherlich als eine der größten »linkspopulistischen« Kräfte in Europa angesehen werden. Darüber hinaus ist Frankreich kein Land wie so viele andere, in denen der politische Kampf nur noch zwischen (Neo-) Liberalen und Nationalisten ausgefochten wird. Es gibt nach wie vor ein großes Potenzial für arbeiterorientierte Mobilisierungen, insbesondere bei sozialpolitischen Themen wie Ruhestand und Lebenshaltungskosten. Neben Forderungen wie der Rente mit 60 kann sich La France Insoumise nun aber auch als Verteidigerin republikanischer Werte und echter Demokratie darstellen und auf eine »neue Vision einer französischen Identität« drängen.
»Es ist richtig und wichtig, dass La France Insoumise auf das Recht der NFP zur Regierungsbildung pocht und Macrons technokratische Spielchen kritisiert.«
Das beinhaltet Änderungen in der Funktionsweise der französischen Demokratie. Die aktuelle Pattsituation und eine drohende »Zwischenregierung«, die für Technokratie und womöglich auch Austerität steht, zeigen deutlich, dass es ein anderes Verfassungsmodell braucht, das auf mehr Kontrolle von unten sowie einer wirklich proportionalen Repräsentation der Wählerschaft und ihrer Entscheidungen beruht. Denn jahrzehntelang wurden neoliberale Reformen unabhängig und ungeachtet von Wahlergebnissen durchgesetzt.
La France Insoumise thematisiert dieses demokratische Defizit auch, um Nichtwähler wieder an die Urnen zu bringen. Die Partei scheint sich erfolgreich als die politische Kraft zu präsentieren, die den Frust dieser Menschen aufnimmt und in echten politischen Wandel ummünzen will.
In der Vergangenheit brauchte es in Frankreich meist eine militärische Niederlage (wie in Algerien) oder einen Coup, um die Verfassung zu ändern. Heute scheint das wichtigste Instrument zur Schaffung einer »Sechsten Republik« paradoxerweise die Präsidentschaftswahl beziehungsweise das Präsidentenamt selbst zu sein: Wenn eine reformwillige Kraft die extrem zentralisierte Macht übernehmen sollte, könnte tatsächlich der Prozess für Verfassungsveränderungen angestoßen werden.
Fürs Erste ist es richtig und wichtig, dass La France Insoumise auf das Recht der NFP zur Regierungsbildung pocht und Macrons technokratische Spielchen kritisiert. Die große Forderung für ein Ende der präsidentenzentrierten Ordnung ist keine Garantie für wahlpolitischen Erfolg, doch es geht hier um mehr als eine Denkübung für Verfassungsrechtler. Es geht um die wichtige Aufgabe, den Wählerwillen zu hören und entsprechend zu handeln – und Frankreichs Demokratie vor dem Zynismus und der Arroganz Macrons zu retten.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).