24. Januar 2023
Macrons Rentenreform wird dazu führen, dass mehr Franzosen sterben, bevor sie überhaupt eine Rente bekommen. Die französischen Gewerkschaften setzen alles daran, um das zu verhindern.
Macron behauptet, die Reform sei notwendig, damit das Rentensystem nicht kollabiere. Die Opposition spricht von einem Angriff auf den Sozialstaat und hat damit die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.
IMAGO / StarfaceAm 10. Januar stellte die französische Premierministerin Élisabeth Borne der Nationalversammlung die lang erwartete »Rentenreform« von Präsident Emmanuel Macron vor. Die umstrittene Maßnahme sieht vor, das Renteneintrittsalter in Frankreich bis 2030 von 62 auf 64 Jahre anzuheben und gleichzeitig 43 Beitragsjahre für eine vollständige Rente vorzuschreiben.
Am 23. Januar wurde der Gesetzesentwurf beschlossen, im Februar soll er vor dem Parlament diskutiert werden. Macron verfügt zwar über keine Mehrheit, kann aber mit der nahezu uneingeschränkten Unterstützung von Les Républicains rechnen, der Mitte-Rechts-Partei, mit der er in stillschweigendem Einvernehmen regiert. Der Rest der parlamentarischen Opposition hat sich in unterschiedlichem Maße gegen das Vorhaben ausgesprochen.
Auch die großen Gewerkschaften agieren ungewöhnlich koordiniert und haben zu einer gemeinsamen Mobilisierung gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters aufgerufen. Es ist die erste Kooperation dieser Art seit zwölf Jahren.
Macrons langjähriger Verbündeter François Bayrou, Vorsitzender der zentristischen Mouvement démocrate (MoDem) und hoher Kommissar für Planung, erklärte die vorgelegte Reform für verbesserungswürdig. Vermutlich stehe, so Bayrou, eine »mühsame« Debatte im Parlament bevor, die von einem Dialog mit der französischen Bevölkerung und Protesten begleitet werden würde.
Aber das Verfahren, mit dem die Regierung das Gesetz durchbringen will, hat mit Bayrous Beteuerungen demokratischer Debatte wenig zu tun. Nachdem Borne die Pläne vorgestellt hatte, warf der Vorsitzende der kommunistischen Fraktion in der Nationalversammlung, André Chassaigne, ihr vor, ein »schmutziges Spiel« zu spielen, wie es nur eine »Feindin der Demokratie« tun könnte. Chassaigne bezog sich dabei auf ein Gerücht, wonach die Regierung vorhabe, die Reform im Rahmen eines Gesetzes zur Finanzierung der Sozialversicherung (bekannt als PLFRSS) zu verabschieden, was die Diskussionszeit der Abgeordneten erheblich einschränken würde. Damit würde der Opposition zudem die Möglichkeit genommen, eigene Gegenvorschläge zu unterbreiten. »Ihre Rentenreform, die Sie mit Les Républicains ausgehandelt haben«, sagte Chassaigne unter dem Gejohle rechter Abgeordneter, »ist eine brutale Reform, eine Reform der Rechten«.
Laurent Berger, der Vorsitzende der reformistischen Gewerkschaft Confédération française démocratique du travail (CFDT) kommentierte, es gebe »keine Rechtfertigung für eine solch brutale Reform«, das Rentensystem in seiner jetzigen Form sei »nicht in Gefahr« zusammenzubrechen. Berger, dessen Gewerkschaft in der Vergangenheit eng mit der Regierung zusammengearbeitet hat, versprach eine »starke, langanhaltende Mobilisierung« gegen die Rentenreform.
Die Confédération générale du travail (CGT), nach der CFDT die zweitgrößte Gewerkschaft Frankreichs, fährt wie üblich einen konfrontativeren Kurs gegen diesen Angriff der Regierung auf das Sozialsystem. Eric Sellini, der nationale Koordinator der CGT für die Standorte des Ölkonzerns Total Energies, sprach davon , »wenn nötig« die Raffinerien stillzulegen – ein Schritt, der die Benzinversorgung im Land unterbrechen könnte.
In der Tat steht der Rentenreform ein steiniger Weg bevor. Innenminister Gérald Darmanin warnte die Mitglieder der Regierung vor einer »Zeit der Spannungen«, in der sie ihre Reisezeit einschränken sollten, berichtete die satirische, aber auch für ihren investigativen Journalismus bekannte Wochenzeitung Le Canard enchaîné. Demnach gab er zu bedenken, dass die Ressourcen der Sicherheitsbehörden in dieser Zeit beschränkt sein würden, da man sie wahrscheinlich gegen Demonstrationen werde einsetzen müssen. Es könne sogar sein, dass für Ministerinnen und Minister ein höheres Risiko bestehe, in dieser Zeit angegriffen zu werden.
Klar ist, dass die Reform großen Widerstand hervorrufen wird, zumal sich Gewerkschaften und linke Parteien gegen diese zutiefst unpopuläre Offensive gegen den französischen Sozialstaat zusammenschließen.
Darmanin spricht solche Warnungen aus, weil er weiß, dass die Bevölkerung die Reform mehrheitlich nicht unterstützt. Eine kürzlich vom Beratungs- und Meinungsforschungsunternehmen Elabe für den Fernsehsender BFMTV durchgeführte Umfrage ergab, dass nur 27 Prozent der Französinnen und Franzosen eine Anhebung des Renteneintrittsalters befürworten. Fast genauso viele, nämlich 25 Prozent, meinen, dass es im Gegenteil gesenkt werden sollte. Und 47 Prozent finden, dass das Renteneintrittsalter bei 62 Jahren bleiben sollte.
Das französische Rentensystem ist ein Kind des Jahres 1945 und des Nachkriegskonsenses, der sich aus dem Programm des Conseil national de la Résistance herauskristallisierte. Nach Ende der Besetzung des Landes durch Nazi-Deutschland bündelte er die Kräfte des Widerstands und brachte den Wunsch der Bevölkerung nach staatlicher Planung und sozialer Wohlfahrt zum Ausdruck. Zugleich integrierte die herrschende Klasse Frankreichs durch diesen Kompromiss die Kommunistische Partei in das System. Diese hätte ihr potenziell gefährlich werden können, da sie damals auf dem Höhepunkt ihres Einflusses innerhalb der französischen Arbeiterklasse stand und bei den ersten Nachkriegswahlen als stärkste Partei hervorgegangen war.
Bis Anfang der 1990er Jahre dienten Rentenreformen vor allem der Ausweitung des Zugangs zu dem Umlagesystem, das ein aktives Band der Solidarität zwischen älteren und jüngeren Bürgerinnen und Bürgern schafft, da die Erwerbstätigen für die bereits im Ruhestand befindlichen Personen einzahlen. Doch seither versuchen neoliberale Regierungen, das Bild eines Rentensystems zu zeichnen, das am Rande des Abgrunds steht, durch ein riesiges Defizit finanziert wird und ohne Kürzungen unmittelbar vom Zusammenbruch bedroht ist.
Aber es gibt auch Gegendarstellungen. Linke wie Jean-Luc Mélenchon, der bei der Präsidentschaftswahl 2022 den dritten Platz belegte, sehen in diesen Plänen einen Versuch, das derzeitige System abzuwickeln und die Renten den Kräften und der Logik des Marktes auszuliefern. Das Ziel von Privatisierern wie Macron und seiner politischen Strömung sei es, ein System der gesellschaftlichen Solidarität in ein System umzuwandeln, in dem die Menschen individuell sparen und in ihre eigenen Rentenfonds einzahlen. Nachdem die Liberalen bereits das Bildungssystem und die öffentliche Gesundheitsinfrastruktur ausgehöhlt haben, gerate nach Mélenchons Analyse nun das Rentensystem ins Visier.
Es stimmt, dass das derzeitige System Probleme hat. Zwei der zentralen Programmpunkte in Mélenchons Kampagne zur Präsidentschaftswahl 2022 waren die Anhebung der Mindestrente auf 1.500 Euro im Monat und die Senkung des Renteneintrittsalters auf sechzig Jahre. Macrons Regierung versucht nun, größere Unterstützung für ihre aktuelle Reform zu gewinnen, indem sie verspricht, gleichzeitig den Mindestbetrag um 100 Euro auf 1.200 Euro anzuheben. Dieser erhöhte Satz würde jedoch erst nach 43 Jahren Vollzeitbeschäftigung greifen. Das heißt, dass zum Beispiel eine Mindestlohnempfängerin, die gegen Ende ihres Berufslebens in Teilzeit geht, ihren Ruhestand noch weiter über das 64. Lebensjahr hinausschieben müsste, um die volle, aber noch immer unzureichende Renten zu erhalten.
Obwohl Macron weder die Zustimmung der Bevölkerung noch eine parlamentarische Mehrheit für seine Reform hat, verfügt er über verfassungsrechtliche Instrumente, die er nutzen kann, um das Gesetzespaket durchzudrücken.
Eines dieser Instrumente, bekannt als 49.3 (nach dem Verfassungsartikel, der dem Präsidenten diese Befugnis einräumt), erlaubt es ihm im Wesentlichen, die Nationalversammlung zu umgehen. Die Verfassung der derzeitigen Fünften Republik erteilt dem Präsidenten diese autoritäre Kompetenz, damit er sich gegen Stimmungen in der Bevölkerung absichern kann, die ihren Weg ins Unterhaus finden könnten. Die Anwendung von 49.3 würde die Debatte in der Nationalversammlung aussetzen und den Gesetzentwurf direkt an das Oberhaus, den Senat, weiterleiten, der von Les Républicains kontrolliert wird.
Der französische Senat ist ein weiteres antidemokratisches Gebilde. Anstatt durch allgemeine Wahlen werden seine Mitglieder von Delegierten gewählt, die wiederum von den rund 150.000 Gemeinderäten Frankreichs ernannt werden. Das Ergebnis ist ein Gremium, das nicht die politische Zusammensetzung des Landes widerspiegelt, sondern das ländliche Frankreich und die Rechte überrepräsentiert. Es ist bezeichnend, dass trotz des Niedergangs der großen Volksparteien des 20. Jahrhunderts, die bei der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr einstellige Ergebnisse erzielten, Les Républicains den Senat unter ihrer Kontrolle behalten konnten. Der Präsident des Senats, Gérard Larcher von Les Républicains, nannte die Rentenreform »unverzichtbar«. Und die Aussicht, dass die Gewerkschaften aus Protest gegen das Gesetz »das Land blockieren« könnten, bezeichnete er als »verantwortungslos«.
Seit Macron infolge der Parlamentswahlen im letzten Sommer seine Mehrheit verloren hat, wurde Artikel 49.3 bereits zehn Mal angewendet – of genug, um in seiner Partei zu einer Art Running Gag zu werden. Ende 2022 griff die Premierministerin zum wiederholten Male darauf zurück, um den Haushalt zu verabschieden. Einem Bericht der Tageszeitung Le Monde zufolge schenkten ihr daraufhin Mitglieder ihrer Partei ein Trikot der französischen Fußballnationalmannschaft mit der Nummer 49,3 auf dem Rücken. Einige Wochen zuvor hatten Freunde der von Macron unterstützten Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, ihr eine Flasche Wein mit der Aufschrift »Jahrgang 49.3« geschenkt.
Für das Team Macron in der Nationalversammlung ist Demokratie offenbar ein Witz. Es ist kein Geheimnis, dass der Präsident die Rentenreform als sein wichtigstes Projekt in dieser Amtszeit betrachtet. Schon während seiner ersten Amtszeit stand sie kurz davor, von der Nationalversammlung verabschiedet zu werden, doch dann legte die Pandemie das Land lahm.
Das einzige Manöver, das die Inkraftsetzung von 49.3 stoppen kann, ist ein Misstrauensvotum in der Nationalversammlung. Melenchons Partei La France Insoumise hat bisher jedes Mal, wenn Borne von diesem Instrument Gebrauch gemacht hat, einen Misstrauensantrag gestellt, der ein solches Votum auslöst. Stimmt die Mehrheit der Versammlung dem Votum zu, muss die Premierministerin zurücktreten und die Regierung wird aufgelöst. La France Insoumise verfügt über genügend Stimmen, um eine Abstimmung zu erzwingen, doch eine Mehrheit für das Misstrauensvotum zu finden, ist deutlich schwieriger, selbst mit der (nicht immer zuverlässigen) Unterstützung der anderen Parteien des Linksbündnisses NUPES. Außerdem hat sich die andere große Oppositionspartei, das Rassemblement National von Marine Le Pen, zwar gegen Macrons Reform ausgesprochen, bei den bisherigen Misstrauensanträgen von France Insoumise aber nicht abgestimmt. Angesichts des unausgesprochenen Bündnisses zwischen Les Républicains und der Anhängerschaft von Macron kommt diese Enthaltung de facto einer Zustimmung zum Regierungsprogramm gleich.
In der Zwischenzeit hat La France Insoumise Zehntausende von Änderungsanträgen vorbereitet, die darauf abzielen, die Verabschiedung des Gesetzes zu verlangsamen und Teil einer Oppositionsstrategie sind, die von der Premierministerin als »systematisch« bezeichnet wurde.
Auf dem Spiel steht nicht nur ein würdiges Leben, sondern überhaupt ein Leben. Während seiner Präsidentschaftskampagne 2022 forderte Mélenchon die »Verstaatlichung der Zeit«. Er rief damit dazu auf, die Rhythmen der Arbeit mit den Rhythmen des Lebens in Einklang zu bringen. Dazu gehört, dass ein erschöpfter Mensch mit sechzig Jahren aufhören kann zu arbeiten, wenn er will.
Mélenchons sprachgewaltige Formulierung steht dafür, dass die Arbeiterklasse ihren Ruhestand genießen können muss. In Frankreich beträgt die »gesunde Lebenserwartung«, ein Index für die Lebenserwartung ohne gesundheitliche Einschränkungen, nur 64 Jahre für Männer und 65 Jahre für Frauen – und die Armen sterben viel früher als die Reichen. Macrons Rentenreform mag als ein technokratischer Akt daherkommen. Doch sie verspricht der französischen Arbeiterklasse nur eines: arbeiten, bis man erschöpft und krank ist, und dann sterben.
Marlon Ettinger ist der Autor des Buches »Zemmour & Gaullism«.