09. Mai 2024
Als »Magdeburger Himmelfahrtskrawalle« ging die rassistische Hetzjagd in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts vor dreißig Jahren in die Geschichtsbücher ein. Das Pogrom, in dessen Folge der Algerier Farid Boukhit verstarb, ist bis heute nicht aufgearbeitet.
Ausschnitte aus verschiedenen Magdeburger Zeitungen in den Tagen nach dem Pogrom.
Sonne und Alkohol, das waren die Erklärungen der verantwortlichen Polizeiführer und Politiker, nachdem am Vatertag des Jahres 1994 zahlreiche Migrantinnen und Migranten durch die Magdeburger Innenstadt gejagt wurden. Rechtsextreme Gruppen hatten sich verabredet, um alle diejenigen zu überfallen, die nicht in ihr faschistisches Weltbild passten. Zeitweise bis zu zweihundert Neonazis hatten sich zusammengefunden, um im Stadtzentrum Jagd auf Ausländer zu machen.
Über Stunden hatten die Nazis freie Hand in der Innenstadt, verletzten etliche Menschen schwer und überfielen einen Dönerimbiss. Stühle und Tische flogen, die Schaufenster zersplitterten – ein Bild der Zerstörung. Vor laufenden TV-Kameras rannten Menschen um ihr Leben, zwischen fahrenden Autos und Straßenbahnen in der Magdeburger Innenstadt dominierte das Chaos. Passantinnen und Passanten schauen zu oder klatschen, als grölende Nazis »Ausländer raus« brüllten und den Hitlergruß zeigten.
Das Himmelfahrtspogrom in Magdeburg steht beispielhaft für die heute als »Baseballschläger-Jahre« bezeichnete Zeit der 1990er, als rechte Gruppierungen im Osten vor allem unter Jugendlichen enormen Zulauf hatten und massiv Gewalt ausübten. Während Pogrome wie in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Mölln heute halbwegs präsent sind und sich eine Erinnerungskultur an diese rassistischen Übergriffe etabliert hat, ist die Erinnerung an das Pogrom von Magdeburg vollkommen verblasst.
Es scheint fast so, als wäre nichts gewesen. Als hätte es die Todesopfer rechter Gewalt in Magdeburg nicht gegeben. Als wäre die Überforderung – oder gar das bewusste Wegschauen – der Polizei bei der Hetzjagd vom 12. Mai 1994 nicht für alle offensichtlich gewesen.
Magdeburg ist in den 1990er Jahren eine ostdeutsche Durchschnittsstadt. Die ehemaligen DDR-Großbetriebe aus der einstigen Stadt des Schwermaschinenbaus wurden größtenteils abgewickelt und somit Tausende arbeitslos. Die Heranwachsenden, die gerade noch stolz als Jungpioniere in die größte Jugendorganisation der DDR, die Freie Deutsche Jugend, eintraten und denen ein gut geplantes Heranwachsen im Staatssozialismus versprochen wurde, stehen vom einen auf den anderen Tag ohne Perspektive da.
Der Verlust von Identität, sozialer Sicherheit und Zukunftsperspektiven wird von rechtsextremen Zusammenhängen und Parteien ausgenutzt. Rechte Kader aus dem Westen suchen bewusst den Kontakt in den Osten, um den Frust der Wende für ihre Propaganda produktiv zu machen. Sie knüpfen an rassistische Stereotype aus der DDR-Zeit an, die sich dort entwickelten, aber kein Thema sein durften.
Denn die DDR hatte eine antifaschistische Staatsdoktrin, in der Rassismus nicht passieren durfte, weshalb auch Hetzjagden auf Migrantinnen und Migranten unter den Teppich gekehrt wurden. Nach der Wende radikalisieren sich viele Jugendliche. Sie werden Nazis und jagen Menschen aus dem Ausland, Punks, Linke, Hippies und alle, die sich ihnen in den Weg stellen.
Paulino Miguel ist ein wichtiger Zeitzeuge des vergessenen Pogroms in Magdeburg. Viele der damals Betroffenen sind nicht mehr auffindbar oder wollen nicht über den Rassismus der 1990er Jahre reden. Der gebürtige Mosambikaner kam mit elf Jahren in die DDR, um in Staßfurt einen Schulabschluss und in Wernigerode eine Ausbildung in den Metallgusswerken zu machen. Als Vertragsarbeiter war er Teil eines Staatsvertrags zwischen der DDR und Mosambik. Der Deal: Die DDR bekam kostengünstige Arbeitskräfte, die im Gegenzug ausgebildet wurden. Paulino Miguel versuchte, nicht aufzufallen, doch er erlebte in Magdeburg nicht die erste Hetzjagd.
Schon während seiner Zeit an der »Schule der Freundschaft« in Staßfurt erlebte er Übergriffe. Auf die Schule, ein DDR-Prestigeprojekt der Völkerverständigung, gingen hunderte Schülerinnen und Schüler aus Mosambik und Namibia, um zusammen mit Kindern aus der DDR zu lernen. Die ausländischen Kinder lebten abgeschottet von der Mehrheitsgesellschaft in Wohnheimen. Trotz oder genau wegen dieser Isolierung wurde der Alltagsrassismus in der DDR für sie immer mehr spürbar.
»Auf die verbale Gewalt folgten bald körperliche Angriffe.«
»Obwohl wir abgeschottet waren, spürten wir bei Ausgängen und gelegentlichen Treffen, auf Spielplätzen oder beim Einkaufen Widerstände, die immer größer wurden. Teilweise weigerte man sich, uns etwas zu verkaufen, vor allem wenn die Ware begehrenswert war. Auf die verbale Gewalt folgten bald körperliche Angriffe. Vor allem in den Diskotheken, Bars und auf dem Rummel«, erzählt Paulino Miguel.
Das erste rassistische Pogrom erlebte er auch schon in Staßfurt: »Ich habe meinen mosambikanischen Kollegen verloren, als er fünfzehn Jahre alt war. Er wurde von einer Brücke geworfen und ist ertrunken. Es wurde nicht darüber gesprochen.« Die Rede ist von Carlos Conceição. Der Mosambikaner wurde in der Nacht vom 19. auf den 20. September 1987 ermordet, als er nach einem Besuch einer Diskothek von deutschen Jugendlichen überfallen und in das strömende Wasser der Bode geworfen wurde.
Die Täter wurden gefasst und zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Bereits nach zwei Jahren wurden sie wieder entlassen. In der »Schule der Freundschaft« wurde angewiesen, über den Todesfall zu schweigen. Es durfte nicht geschehen, was nicht zur antifaschistischen Staatsdoktrin passte. Auch die rassistischen Morde an den Kubanern Raúl García Paret und Delfin Guerra 1979 in Merseburg wurden nicht öffentlich.
Auch nach der Wende zeigen sich beim Magdeburger Pogrom von 1994 ähnliche Muster. Der rassistische Charakter der sogenannten Himmelfahrtskrawalle wird schon am ersten Tag danach von Staatsanwalt und Polizei geleugnet. Die 49 Festgenommenen werden am Folgetag gehen gelassen. Schnell werden Vorwürfe laut, die Staatsanwaltschaft habe die Täter zu früh laufen lassen.
Sachsen-Anhalts CDU-Ministerpräsident Christoph Bergner betont, die Polizei solle nicht zum Sündenbock gemacht werden. Polizeipräsident Andreas Stockmann verharmlost den politischen Hintergrund des Pogroms: »Eine größere Rolle als rechtsextremistisches Gedankengut haben Sonnenschein und Alkohol gespielt.« Wie es dazu kommen konnte, dass am helllichten Tag in der Landeshauptstadt stundenlang die blanke Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten regierte, beantworten weder Polizei noch Justiz.
»Das Magdeburger Pogrom wird bis heute nicht als solches bezeichnet.«
Dem mutmaßlichen Rädelsführer des Pogroms, einem neunzehnjährigen Magdeburger, wird Landfriedensbruch in besonders schwerem Fall vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft stellt später fünfzehn Ermittlungen gegen Polizeikräfte wegen Fehlverhaltens ein. 86 mutmaßliche Täter der Pogrome werden ermittelt. 1995 werden davon acht Personen zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Deutschlandweit bekannt wird die Anzeige eines Irakers, der an Himmelfahrt 1994 in Magdeburg von Skinheads überfallen und anschließend von der Polizei misshandelt wurde. Yusef Barzan war auf der Flucht von den Nazis, als er von Polizisten zu Boden geworfen und verprügelt wurde. Die Beamten warfen ihn ins Polizeiauto und schlugen ihn abermals. Er wurde zur Wache mitgenommen, musste sich nackt ausziehen. Erst morgens wurde er entlassen. Die Folgen des verfehlten Polizeieinsatzes bleiben unaufgeklärt und haben keinerlei Konsequenzen für die Beamten.
Am 12. Mai 1994, Vatertag, sind in Magdeburg viele Menschen in der Innenstadt auf den Beinen. Vor allen Dingen Männergruppen zieht es in Scharen in den zentral gelegenen Stadtpark, wo ausgelassen gefeiert wird. Am Nachmittag liegt ein Knistern in der Luft, vor allen Dingen am zentralen Straßenbahnumstieg Alter Markt in der Magdeburger Innenstadt. Grölende, betrunkene Gruppen ziehen durch die Straßen, nicht wenige zeigen sich offen als Neonazis, machen den Hitlergruß oder hetzen gegen Migranten.
Eine verabredete Jagd auf Ausländer beginnt, die durch etliche Schaulustige beklatscht wird und viele Menschen spontan mitreißt. Migranten werden getreten, geschlagen. Die Übergriffe verbreiten sich durch Radioberichte schnell weiter, Kamerateams rücken an, um die Hetzjagd auf Ausländer zu dokumentieren. Dazwischen die Polizei – völlig unterbesetzt und unbeholfen. Es gibt Augenzeugenberichte, wonach sich einige Polizeikräfte selbst ausländerfeindlich äußerten.
Die Migranten wehren sich, suchen Zuflucht in einem Dönerimbiss in der ehemaligen Marietta-Bar am Alten Markt. Der Laden wird gestürmt, die Menschen in dem Laden setzen sich zur Wehr, auch mit Messern. Die Polizeikräfte, hilflos dazwischen, greifen sich vor allen Dingen die Migranten und nehmen nur einen Bruchteil der randalierenden Nazis fest.
Die Bilder, die nur wenig zeitversetzt deutschlandweit über die Fernsehkanäle laufen, sprechen eine eindeutige Sprache: Unter den Augen von Polizei und Feiertagsgesellschaften rennen alle, die keine weiße Haut haben, im Zentrum der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt um ihr Leben.
Polizei und Staatsanwalt leugneten die verabredete, organisierte rechte Gewalt an Himmelfahrt 1994 und bezeichneten einen Großteil der Täter als unpolitisch. Politik und Polizei hatten vollends versagt. Bundesweit kam Magdeburg nach den rassistischen Übergriffen mit zahlreichen Verletzten in die Schlagzeilen.
Dass der dreißigjährige Algerier Farid Boukhit an dem Tag schwer verletzt wurde und wenige Monate später, am 27. September 1994, offensichtlich an den Folgen des Pogroms verstarb, ist sowohl unmittelbar nach seinem Tod als auch heute überhaupt nicht präsent. Auch bleibt der Tod ungesühnt. Es wurden zwar einige der damaligen Täter verurteilt, aber Farid Boukhit ist bis heute nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Die Erinnerung an ihn verschwimmt. Seine Geschichte wird durch die Verantwortungsträger in der Politik nicht genannt, lediglich einige Engagierte in Magdeburg rufen alljährlich zu einem kleinen Gedenken auf.
Paulino Miguel kannte ihn gut. Auch er wurde am 12. Mai 1994 Opfer des Pogroms: »Die Nazis hatten die Jagd damals geplant. Tage zuvor haben sie diesen Angriff angekündigt. Sie kamen zeitgleich aus allen Himmelsrichtungen zur damaligen Marietta-Bar gegenüber vom Karstadt in der Magdeburger Innenstadt. Sie bespuckten und traten uns. Sie jagten uns bis in die Nacht. Einige der Passanten haben den Nazis applaudiert. Von dem Tod von Farid haben wir erst viel später erfahren. An dem Tag sind so viele Ausländer ins Krankenhaus gegangen, über die nie berichtet wurde. Viele Dinge sind nicht erzählt worden.«
»Farid Boukhit ist bis heute nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Die Erinnerung an ihn verschwimmt.«
Überliefert ist lediglich ein Fernsehinterview, das Boukhit wenige Tage nach dem Pogrom an seinem Krankenhausbett gab. Darin beschreibt er, wie er von Nazis mit Holzknüppeln zusammengeschlagen wurde.
Nach seinem Tod sollte seine Leiche eigentlich obduziert werden. Die Staatsanwaltschaft leugnete jedoch einen Zusammenhang mit dem Himmelfahrtspogrom. Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt wollte die Todesfolgen überprüfen lassen, doch der Leichnam wurde ohne Obduktion nach Algerien überführt und beerdigt.
Die Erinnerung an Farid Boukhit und die rassistischen Übergriffe von 1994 sind heute innerhalb der Magdeburger Stadtgesellschaft kaum präsent. Als Reaktion auf das Pogrom hat die Stadtverwaltung das sogenannte »Fest der Begegnung« mit Polizei, Technischem Hilfswerk, Kirche und Zivilgesellschaft initiiert, das jährlich rund um Himmelfahrt stattfindet.
An dem Familienfest sind migrantische Vereine beteiligt, doch das Format spricht Bände: Die Hauptorganisatoren aus dem Rathaus und von der Polizei halten Reden und sprechen mit der Lokalpresse. Migrantinnen und Migranten sorgen für arabische Speisen, Rikschafahrten und Haareflechten. Boukhits Leidensweg und die Stimmen der damaligen Betroffenen werden auch in diesem Jahr ausgespart.
Noch heute wird die Stadtverwaltung nicht müde zu betonen, dass die Himmelfahrtskrawalle von 1994 angeblich einen Wendepunkt im Umgang mit Ausländern in Magdeburg markiert hätte. Das Pogrom sei Ausgangspunkt für die Gründung zahlreicher Organisationen gewesen, die sich gegen Diskriminierung einsetzen. Die Stadt sei heute weltoffen, Wohn- und Lebensmittelpunkt von Tausenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, habe sich gewandelt und großartig entwickelt, heißt es aus dem Magdeburger Rathaus.
»Die damaligen Täter sind teilweise bis heute in der Stadt präsent.«
Tatsächlich sind die Zahlen rechter Gewalt und die Anzahl rassistischer Übergriffe aktuell auf dem höchsten Wert seit 2016. Die Mobile Opferberatung hat in Sachsen-Anhalt 168 Fälle rassistischer Gewalt im vergangenen Jahr dokumentiert, die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher liegen. Im Vergleich zu der rechten Gewalt der 1990er Jahre fallen diese Zahlen gering aus. Allerdings sind rassistisch motivierte Übergriffe nach wie vor Alltag in Magdeburg und das zeigt, wie dramatisch das Rassismus-Problem bis heute ist.
Das Magdeburger Pogrom wird bis heute nicht als solches bezeichnet – schon hier muss die Aufarbeitung einsetzen. Der politische Auftrag, die Stimmen der Betroffenen in den Mittelpunkt des Diskurses zu stellen, statt Rassismus weiterhin kleinzureden, steht noch immer aus. »Den braunen Terror beenden« – unter diesem Motto demonstrierten im Mai 1994 nach dem Pogrom knapp 1.000 Menschen. Das waren Geflüchtete, Punker, Autonome und auch Kirchenvertreter. Sie unterstrichen, dass es mehr braucht, als nur plakative Aktionen des Miteinanders und Lippenbekenntnisse der politischen Verantwortungsträger.
Die damaligen Täter sind teilweise bis heute in der Stadt präsent. Es ist deshalb wichtig, dass es – neben dem von Stadtverwaltung und Polizei orchestrierten Gedenken – alternative Formen der Erinnerung gibt. In diesem Jahr gibt es eine antifaschistische »Aktionswoche gegen das Vergessen« und am 12. Mai eine Demonstration durch die Stadt.
Oliver Wiebe lebt in Magdeburg und ist in unterschiedlichen Zusammenhängen politisch aktiv. Er arbeitet für die linke Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt.