12. November 2024
M. N. Roy war Internationalist, Revolutionär und ein Gegner des eurozentrischen Marxismus. Seine Ideen über den postkolonialen Staat sind bis heute hochaktuell geblieben.
M. N. Roy (3. v.r.) mit Wladimir Lenin, Grigorij Sinowjew und anderen führenden Bolschewiki auf dem Zweiten Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Juli 1920.
Das Ergebnis der diesjährigen Wahlen in Indien hat die Hoffnung geweckt, dass Indiens Abdriften in einen Faschismus des 21. Jahrhunderts ausgebremst werden kann. Dennoch bleibt die Prognose unsicher. Das Licht einer echten indischen Volksdemokratie flackert weiterhin, trotz eines Premierministers, der immer noch versucht, den Status eines unnahbaren Gottmenschen und erhabenen Anführers zu erreichen.
Das Regime von Narendra Modi hat in den vergangenen zehn Jahren seiner Amtszeit den postkolonialen indischen Staat erfolgreich umgestaltet, so dass er nun offenkundig kolonialistisch ist. Jetzt, in Modis dritter Amtszeit, in der sein Mandat durch eine Wählerschaft, die sich weigert, ihm zu Füßen zu liegen, erheblich geschwächt ist, werden wir erfahren, ob der koloniale Drang des indischen Staates durch die Vielfalt und die Unermesslichkeit der Bedürfnisse seiner Bevölkerung gebremst werden kann.
Das Problem des postkolonialen Kolonialismus in Indien wurde erstmals von dem in Vergessenheit geratenen kritischen Theoretiker, Revolutionär und politischen Anführer Manabendra Nath Roy erkannt. Bereits in den 1940er Jahren beschäftigte sich M. N. Roy, der das vorwegnahm, was wir heute als »postkoloniale Theorie« bezeichnen würden, mit der Analyse der Faktoren, die zum Verfall der Demokratie in Südasien führen würden (etwa kapitalistische Herrschaft durch missbräuchliche Geschäftsinteressen, Familiendynastien, Kastenhierarchien und die Vergötterung von Führungsfiguren).
Er war der erste Vertreter dessen, was wir als eine eigenständige kritische Theorie Südasiens bezeichnen könnten, die in der marxistischen Analyse verwurzelt ist, aber den orthodoxen Determinismus ablehnt und auf die weltgestaltende Rolle der Kultur eingeht. Für Roy gab es kein Telos des Nationalstaates oder der Partei, sondern nur das des Volkes. Der postkoloniale Staat war nicht Teil einer großen Familienromanze, wie es bei Jawaharlal Nehru der Fall war.
Anders als Mahatma K. Gandhi bestand Roy darauf, dass die indische Nation keine ausgeprägte spirituelle Kraft besaß. Für ihn hatten der britische Kolonialstaat, der entstehende postkoloniale Staat Indien und die faschistischen Staaten der 1930er und 40er Jahre in ganz Eurasien alle einen gemeinsamen Nomos, eine zugrunde liegende Form und Logik. Und diese Logik, betonte Roy, war imperialistisch.
Mitte des 20. Jahrhunderts war Roy eine antikoloniale Ikone. Seinen Anfang machte er, als Aufständischer im Kalkutta der 1910er Jahre, später wurde er einer der Gründer der Kommunistischen Partei Mexikos. In den 1920ern wurde er ein hochrangiger Führer der Komintern in Moskau. Roy steht beispielhaft für die internationalistische Linke in diesen stürmischen Zeiten.
Zu Roys abtrünnigen intellektuellen Durchbrüchen gehörte seine Widerlegung von Wladimir Lenins Behauptung in seinem »Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage« von 1920, dass Arbeiterrevolutionen in der kolonialen Welt wie Nachbeben die seismische Kraft übertragen würden, die zuerst von der Revolution im Westen ausgeht. Roy, der seine eigenen »Ergänzenden Thesen« (1920) verfasste, sah stattdessen eine »wechselseitige Beziehung« zwischen den Werktätigen in den Kolonien und im Westen vor und wies auf den tektonische Charakter des antiimperialen Kampfes bei der Verschiebung des Gleichgewichts in der ganzen Welt hin. Einige Jahre später widerlegte Roy in seiner innovativen und kühnen Geschichte des revolutionären Prozesses in China (Revolution and Konterrevolution in China), die 1930 veröffentlicht wurde, die eurozentrischen orthodoxen marxistischen Behauptungen über eine angeblich despotische »asiatische Produktionsweise«.
»Auch wenn er bei der politischen Mobilisierung gescheitert sein mag, war er ein exzellenter Kritiker.«
Der Beginn der mörderischen stalinistischen Säuberungen Ende der 1920er Jahre brachte Roy jedoch fast um und zwang ihn 1930 zur Rückkehr nach Indien, wo er vom britischen Imperialregime zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Er wurde bekannt für das, was der Gelehrte Sudipta Kaviraj als seine »bemerkenswerten Misserfolge« bezeichnete, und dafür, dass er auf der indischen Bühne letztlich keine politische Bedeutung mehr spielte. Roy selbst thematisierte sein Scheitern in seiner Biografie. In seinem 1946 erschienenen Werk New Orientation schrieb er: »Wenn es einen Misserfolg oder zwei Niederlagen gibt, kann man sagen, dass sie auf Fehler zurückzuführen sind. Aber wenn man eine ganze Reihe von Misserfolgen hat, kann man einfach nicht die Augen davor verschließen.«
Auch wenn er bei der politischen Mobilisierung gescheitert sein mag, war er ein exzellenter Kritiker. Roys Analysen von Kultur, Gesellschaft und Politik der 1930er und 40er Jahre bieten Einblicke in die internationalen Formationen des Faschismus und ihre Ausprägungen im globalen Süden. Er entwickelte ein kritisches Denken über die Zukunft des Faschismus, nicht als Epigone westlicher Denkstile, sondern als deren Wegbereiter.
Roy sah die verschiedenen Spielarten des Faschismus (nicht nur den deutschen, italienischen oder sogar russischen, sondern auch den indischen) als lokal differenzierte Stile, die sich eine globale Form teilen. Lange vor der blutigen Teilung Indiens im Jahr 1947 warnte er davor, dass die postkoloniale Unabhängigkeit, die ihre Kraft aus der vorangegangenen Ära der imperialen Herrschaft bezog, aufgrund von Hindu-Nationalismus, Pöbelherrschaft und der Vereinnahmung des Staates durch Dynasten und Superkapitalisten faschistisch werden würde. Der Faschismus würde in der Postkolonie weiterleben.
In seinen umfangreichen Schriften über den indischen Faschismus in den 1940er Jahren vertrat Roy die Ansicht, die Welt befinde sich mitten in einem Bürgerkrieg zwischen den Kräften der Autarkie auf der einen und denen der Föderalisierung auf der anderen Seite, zwischen elitären kolonialistischen Interessen, die versuchen, Trennmauern zu errichten, und demokratischen antikolonialen Volksbewegungen, die danach streben, diese Mauern niederzureißen.
Der wichtigste Beitrag von Roys kritischer Analyse – und die Einsicht, die ihn zu seiner Zeit so unbeliebt und politisch irrelevant machte – war sein Beharren darauf, dass der Keim des Faschismus in Indien auf dem Boden des Gandhismus und der Politik des Indischen Nationalkongresses gewachsen war und im Mainstream des indischen postkolonialen Nationalismus weiterwachsen würde.
»Die Kriege des britischen Imperialismus in Südasien nach 1857 markierten eine neue Entschlossenheit, die Linien der imperialen Herrschaft zu ziehen und neue militärische und juristische Technologien einzusetzen.«
Aus heutiger Sicht schöpft, der von Narendra Modis Regime verkündete, Faschismus seine Kraft nicht nur aus einem Ableger der paramilitärischen Hindutva Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), sondern auch aus den tieferen Wurzeln des indischen politischen Mainstreams, die bis zum Kult des Mahatma, dem Appell an Ideen des kulturellen und spirituellen Exzeptionalismus der Hindus und den Praktiken der instrumentalisierten Massenmobilisierung durch Eliten zurückreichen.
Roy war konsequent der Ansicht, dass Gandhis paternalistische Massenbewegung und das Kongressdynastentum das unabhängige Indien zu wiederholten Konfrontationen mit einer einheimischen indischen Form des Faschismus und mit den kolonialistischen Impulsen des postkolonialen Staates verdammen würden.
Der in den 1940er Jahren herrschende Nomos der Erde ging aus mehr als einem Jahrhundert imperialer Kriegsführung hervor, die die Voraussetzung für die Globalisierung der modernen nationalstaatlichen Form war. Die Kriege des britischen Imperialismus in Südasien nach 1857 beispielsweise markierten eine neue Entschlossenheit, die Linien der imperialen Herrschaft zu ziehen und neue militärische und juristische Technologien einzusetzen, um sich den von ihr umschlossenen Raum anzueignen.
Diese Ereignisse, die in Südasien mit dem Krieg von 1857 begannen, lösten zwischen 1865 und 1910 einen globalen Rausch aus. In der Karibik und in Afrika wandten die europäischen Imperialmächte alle möglichen alten und neuen Techniken an. Linien aller Art – Freundschaftslinien, Koloniallinien, Katasterlinien, zivile Linien, Vertragslinien, kartografische Linien, Teilungslinien, ganz zu schweigen von KZ-Linien – wurden in Asien, Afrika und der gesamten kolonialen Welt gezogen, neu gezogen und immer wieder übereinandergelegt.
Wie sowohl Roy als auch Aimé Cesaire damals feststellten, war das, was dann zwischen 1914 und 1945 geschah – der Aufstieg des Faschismus und des Totalitarismus – die Fortsetzung dessen, was europäische Imperien in Südasien, der Karibik und Afrika sowie in der indigenen Welt bereits taten.
Die Grenzen, die in der Ära der Entkolonialisierung in den 1950er Jahren gezogen wurden, wurden – wie in der vorangegangenen Periode des Faschismus – auch im Inneren des Staates gezogen, ebenso wie an seinen äußeren, umstrittenen Grenzen. Die postkoloniale Staatskunst Südasiens entstand aus der gewaltsamen Aneignung von untergeordneten Kasten, indigenen Völkern, rassifizierten Gruppen und minorisierten ethnischen Gemeinschaften. In diesem Sinne, so Roys Analyse, konstituierte sich das postkoloniale Südasien, vielleicht in stärkerem Maße als in jedem anderen Teil der Welt, durch das Ziehen und Neuziehen solcher Aneignungslinien. Und das machte es äußerst anfällig für den postkolonialen Faschismus.
»Das Bekenntnis zum Spiritualismus verpflichtet die Gandhianer zu den vulgärsten und brutalsten Praktiken des Materialismus. Spiritualistische Dogmen verbergen antidemokratische, konterrevolutionäre Tendenzen des orthodoxen Nationalismus.«
Roy, der selbst aus einer bengalischen Familie der oberen Kasten stammte, schrieb über die Art und Weise, wie das hinduistische Kastenpatriarchat Frauen und sexuelle Minderheiten »außerhalb der Linie« positioniert und sie der Aneignung, Beherrschung und Ablehnung aussetzte. Unter den Bedingungen der britischen Herrschaft, verdoppelte das indische Patriarchat seine Manipulationen und Abgrenzungen der Sexualität.
Für Roy diente die Mehrheitskultur nicht als eine Art innerer Raum, in dem ein gewisses Maß an antikolonialer Freiheit aufrechterhalten wurde. Stattdessen sei die nationalistische Kulturpolitik in Indien kaum mehr als ein intimer Mikrokosmos für den damaligen Nomos.
Roy betrachtete Gandhis Kulturpolitik als die Quintessenz davon. In einer seiner gnadenlosen Verunglimpfungen des gandhianischen Patriarchalismus schrieb er: »Das Bekenntnis zum Spiritualismus verpflichtet die Gandhianer zu den vulgärsten und brutalsten Praktiken des Materialismus. Spiritualistische Dogmen verbergen antidemokratische, konterrevolutionäre Tendenzen des orthodoxen Nationalismus.« Er fuhr fort: »Der indische Faschismus kann sogar gewaltlos sein.«
Für Roy stützte sich der vulgäre Materialismus der »spiritistischen« Ideologien auf ahistorische Kategorien von Identität und Authentizität sowie auf die Abgrenzung sozialer Hierarchien (etwa die Rolle der Frau, die Rolle des »Haridschan«, die Rolle des ethnisch oder kommunitär Anderen, die Rolle des Patriarchen der oberen Kaste). Diese rigide durchgesetzten Identitätslinien versuchten, die historische Dialektik der menschlichen Erfahrung zu beherrschen und Systeme sozialer Herrschaft zu stabilisieren.
Roys zwölfjährige Haftzeit unter britischer Herrschaft wurde auf sieben Jahre verkürzt, und dauerte von 1931 bis 1936. Anschließend arbeitete er an der Gründung eines Instituts für Neues Denken in der indischen Stadt Dehradun. In diesen späteren Jahren konzentrierte sich seine Analyse weniger auf bestimmte politische Ereignisse und Strategien als vielmehr auf die Kritik der politischen Formen. Wahrscheinlich wurde sie auch hyperbolischer.
Doch was in den 1940er Jahren, als Roy vor dem Aufstieg des indischen Faschismus in und durch die postkoloniale Mainstream-Politik warnte, übertrieben erscheinen mochte, klingt heute mit dem Fortbestehen des Modi-Indiens zunehmend vorausschauend. In faschistischen Regimen versuchen die Eliten, das Volk zu kooptieren, zu unterdrücken und zu verängstigen. Zu diesem Zweck nutzen sie die Mechanismen der Demokratie selbst und verwandeln Teile des Volkes in Massen und die Massen schließlich in einen Mob.
Das Volk kann jedoch in der Vielfalt seiner sozialen Bedürfnisse, Identitäten und Wünsche die Macht des Pöbels übertreffen und ihn schließlich vertreiben. Darauf hoffte Roy 1946, noch bevor die südasiatischen Demokratien geboren wurden.
»Roy zufolge war das größte Bollwerk gegen die Herrschaft des Pöbels in Indien nicht ein aufgeklärter Anführer, eine Avantgarde oder eine politische Partei, sondern das ungebändigte Leben der Menschen selbst.«
Zur Zeit der indischen Verfassungsgebenden Versammlung, jener großen Konklave im Dezember 1946, als ein volksdemokratisches System, das die Teilung Indiens und Pakistans verhindern konnte, noch möglich war, setzte er sich für die Bildung von »Volkskomitees« ein, in denen »die Macht nicht von einer Partei, sondern von den Komitees, die die Grundlage eines demokratischen Staates bilden werden, übernommen wird«.
In seinen letzten Lebensjahren entwickelte er eine Theorie des Volkes, die man als anti-aristotelisch und anti-kommunistisch bezeichnen kann: nicht als ein Volk, das einer Führung bedarf, nicht als ein Volk, das erzogen werden muss, um in demokratischer Freiheit aufzuwachsen, sondern als eine von Natur aus kritische und politische Masse, die aus der Dringlichkeit grundlegender Bedürfnisse und angeborener Wünsche heraus in unterschiedlicher Weise handelt. Roy zufolge war das größte Bollwerk gegen die Herrschaft des Pöbels in Indien nicht ein aufgeklärter Anführer, eine Avantgarde oder eine politische Partei, sondern das ungebändigte Leben der Menschen selbst.
Nach der Unabhängigkeit gründete er in den 1950er Jahren in Dehradun eine philosophische Bewegung, die als Radikaler Humanismus bekannt wurde und kulturübergreifende Erkenntnisse aus den Schriften von Anaxagoras, Pythagoras, Gautam, den Sufis und anderen aufgriff. Diese Einsichten ordneten den Menschen in ein größeres kosmisches Kräftegleichgewicht ein, in dem er sich als Emanation des Planeten, als Zeuge und Teilnehmer erkennen kann, anstatt als Archon, der die Grenzen der Herrschaft und Aneignung zieht.
Mit dem Beginn von Modis dritter Amtszeit stellt sich ein weiterer Moment der Kontingenz ein. Wie in anderen Nationalstaaten weltweit sind Alternativen zu einer faschistischen Zukunft dringend erforderlich. In Indien weisen diese Alternativen zur Pöbel-Demokratie alle in die Richtung des noch nicht verwirklichten Versprechens einer Volksdemokratie. Die Münze von Roys kritischen Perspektiven in den 1940er und 50er Jahren löst ihren Wert heute ein, wenn wir beobachten, was als Nächstes passiert, wo kolonialistische und faschistische Linien auf das treffen, was Roy als »den menschlichen Drang zur Revolte gegen die unerträglichen Bedingungen des Lebens« bezeichnete.
Kris Manjapra ist Professor für Geschichte und Globale Studien an der Northeastern University und Autor von M. N. Roy: Marxism and Colonial Cosmopolitanism.