26. März 2021
Das »Manifest der offenen Gesellschaft« beschwört die Kraft des Dialogs. Das ist nicht nur ziemlich naiv, sondern mündet in technokratischen Herrschaftsphantasien.
Ulrike Guérot gehört neben Hedwig Richter, René Schlott, Jürgen Overhoff und Markus Gabriel zu den Initiatorinnen des Manifests für eine offene Gesellschaft.
Welches konkrete Anliegen mag die diversen »Intellektuellen« aus Kunst, Kultur und Wissenschaft dazu bewogen haben, ein Manifest zu schreiben? Wollen sie den Umsturz aller Verhältnisse, die die Menschen knechten? Leider nein.
Überhaupt ist nicht klar, wer Adressat dieses in Welt und Freitag veröffentlichten Manifests sein soll. Es ist nicht die Bundesregierung, denn um gezielte Kritik an Verordnungen oder der Impfstoffproduktion geht es nicht. Es ist eher »der Diskurs« im Allgemeinen, dem hier – wie schon so oft – vorgeworfen wird, ungemein verroht zu sein. Die Unterzeichnenden geben an, für einen sachlichen und offenen Austausch zu stehen. Wo und wie genau, darüber gibt das Dokument keinen Aufschluss.
Gegen offenen Austausch und die Zwischentöne in der Debatte kann man nun wirklich überhaupt nichts haben. Auch in den einzelnen Statements gibt es neben Plattitüden (Caroline Link etwa gibt zu Protokoll, die Welt sei kompliziert) durchaus auch bedenkenswerte Argumente. Kabarettist Helmut Schleich etwa mahnt, dass die Menschen ohne Kultur vereinzeln würden, während Maximilian Steinbeiß vom Verfassungsblog als einziger das Manifest in seiner Analyse kritisiert und »einen Konflikt zwischen divergierenden Interessen, geführt um Lebenschancen, Ressourcen und Macht« feststellt. Die meisten Beiträge aber bleiben auf vage Kalendersprüche beschränkt (Géraldine Schwarz schreibt etwa: »Verwechsle nicht Meinung mit Wissen«) – die Kritik verläuft weitgehend im Nichts.
Das Manifest samt allen Beiträgen durchzieht ohnehin auch etwas Selbstmitleidiges. Philosophin Svenja Flaßpöhler zum Beispiel sorgt sich, weil man sich schnell den Ruf ruinieren und in die rechte Ecke gedrängt werden könne. Im Manifest steht dann, man wolle »weg von Konformitätsdruck und einseitiger Lagerbildung in der Gesellschaft und weg von einem unguten Schwarz-Weiß-Denken«. Die Unterzeichnenden bemängeln »vorschnelle Schuldzuweisungen« – offenbar weil sie sich selbst zu oft Kritik und Druck ausgesetzt sahen. Woher genau dieser rohe Diskurswind stammt, der ihnen entgegen weht, benennen sie jedoch nicht.
Die Publizistin Ulrike Guérot etwa spricht in ihrem Beitrag zwei Morddrohungen an, die sie nach einer Kritik an der Corona-Politik erhalten habe. Auch Beschimpfungen auf Twitter. Dass die Plattform Twitter ein toxischer Ort ist und Morddrohungen durch nichts zu entschuldigen sind, dürfte inzwischen allen klar sein. Doch was setzen die »Intellektuellen« gegen dieses mittlerweile allgemein bekannte Problem mit dem Diskursklima als einen weiteren hilflosen Ruf in eben diesem Diskurs?
Was das angeht, bleiben die einzelnen Beiträge gelinde gesagt widersprüchlich. Sie changieren zwischen dem Appell an demokratische Rede (Hedwig Richter) und Warnungen vor dem Totalitarismus der »Total-Guten« (Rebecca Niazi-Shahabi), bleiben aber insgesamt im vagen. René Schlott, der dank eines Stipendiums der Konrad-Adenauer-Stiftung an der Universität Potsdam habilitiert, ist einer der Initiatoren der Manifests und wird konkreter. Im Deutschlandfunk sprach er davon, dass »sprachlich abgerüstet« werden müsse. Stattdessen beschwört er die Sachdebatte und die »Kraft des Dialogs«.
Auf die Frage des Moderators nach Ross und Reiter seiner Kritik führt dieser ausgerechnet den Virologen Hendrik Streeck an, der zu Unrecht in Ungnade gefallen sei – Irrtum gehöre nunmal zur Wissenschaft dazu. Nun, spätestens seit der Heinsberg-Studie wissen wir um die Verstrickungen des Herrn Streeck und die politische PR gegen Lockdowns, die auf Grundlage der Studie lanciert wurde. Wenn also jemand für einen vergifteten Diskurs in Bezug auf die Pandemie mitverantwortlich ist, dann sicher Streeck, Armin Laschet und die Verantwortlichen dieser vermutlich strategisch eingesetzten Studie, die die Öffentlichkeit verwirrte, wenn nicht sogar manipulierte.
Doch Schlott geht in dem Interview noch weiter und schlägt für die Zeit bis zur Bundestagswahl eine Expertenregierung vor. Das sei demokratisch auch völlig unproblematisch, wenn sich CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP einfach dazu entschließen würden. Vorbild ist die derzeitige Übergangsregierung von Ex-EZB-Chef Mario Draghi in Italien. Ein Verfassungsrichter könnte an der Spitze einer solchen Expertenregierung stehen, so Schlott.
Das ist nicht nur politisch naiv, sondern unterliegt auch dem Irrtum, diese Krise sei rein technischer Natur und daher durch Experten zu lösen. In Wahrheit gehört dieser so neu daher kommende Vorschlag einer Expertokratie schon längst zum alten Eisen. Eine technokratische Herrschaft, wie sie Schlott vorschwebt, wäre vermutlich noch gefährlicher als die jetzige Bundesregierung – und das will etwas heißen.
Denn sie wäre nicht von der Bevölkerung, sondern allein durch die Abgeordneten legitimiert, anhand angeblicher Expertise ausgewählt und mit unglaublicher Durchsetzungsmacht ausgestattet. So könnte sie sich noch mehr als die jetzige Bundesregierung der demokratischen Kontrolle entziehen. Während sie im einen Moment noch Maßnahmen für den Gesundheitsschutz durchsetzt, kann sie im nächsten schon den Sozialabbau vorantreiben. Möchte der Habermasianer Schlott ernsthaft ein Kabinett entsprechend der Troika-Regierung in Griechenland einsetzen, die doch so verheerende Folgen für die Bevölkerung hatte?
Der Vorschlag zeigt in seiner Naivität und zugleich seiner Gefährlichkeit, dass sich die Initiatoren bewusst oder unbewusst abseits jeglicher politischer Realitäten bewegen. Die meisten von ihnen können inmitten ihrer nebulösen Kritik am Diskurs nicht mehr erkennen, dass hinter den Corona-Maßnahmen ein vielschichtiges Geflecht aus politischen und ökonomischen Machtinteressen wirkt. Das reicht von den Fehlentscheidungen bei der Impfstoffproduktion auf europäischer Ebene über die Entschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz mit ihren widerstreitenden Länderinteressen und gipfelt in Korruptionsskandalen um die Maskenbeschaffung. Zudem sind auf allen Ebenen Unternehmensinteressen am Werk, die nicht dem Schutz der Kultur oder arbeitenden Menschen gelten, sondern dem Erhalt und Ausbau ihrer Profite.
Es wäre der Öffentlichkeit weitaus besser geholfen, wenn sich die genannten »Intellektuellen« an der Aufklärung dieser Machtinteressen sowie konkreter Alternativen beteiligen würden, anstatt ihre halbgare Kritik als waghalsiges Dissidententum gegen »die Politik« oder »den Diskurs« zu inszenieren (dazu noch bei der Springer-Presse der Welt, die ja selbst genug zur Verrohung beiträgt).
Es mag zwar einige liberale Herzen brechen, doch eine offene Gesellschaft und wirklicher Gemeinsinn werden sich im Kapitalismus auch nach dem zigsten Appell nicht einstellen. Es sind die rohen Verhältnisse, die diesen Diskurs hervorbringen, nicht umgekehrt. Deswegen sind es auch diese Verhältnisse, welche den Profit über Menschenleben stellen, die – so heißt es in einem anderen, vermutlich bedeutenderen Manifest – umgeworfen werden müssen.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.