30. März 2023
Früher war sie antifaschistische Lokaljournalistin in Zehdenick, heute ist sie preisgekrönte Schriftstellerin in Berlin. Doch Manja Präkels gibt Brandenburg nicht auf.
»Ich konnte wirklich etwas erreichen. Den Eindruck hatten die rechten Kameraden offenbar auch.«
Fotos: Björn KuhligkManja Präkels musste 1998 aus ihrer Heimatstadt, dem brandenburgischen Zehdenick, wegziehen. Zu groß und zu zahlreich wurden der Druck, die Drohungen und die Angriffe von Rechts auf ihre Freundinnen und Freunde. Heute schreibt sie über ihre Erfahrungen als Antifaschistin und Lokaljournalistin in Brandenburg in den 1990er Jahren, etwa in dem 2022 erschienenen Buch Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?. Im JACOBIN-Interview spricht sie darüber, wie Brandenburg an die Rechten verloren ging – und was sie dennoch hoffen lässt.
Laut der herkömmlichen Erzählung gibt es rechte Übergriffe, rechten Terror und seine Strukturen erst seit dem Mauerfall. Würdest Du dem widersprechen?
Es gibt in jedem Fall längere Kontinuitäten. Unweit meines Heimatorts liegen zwei Mahn- und Gedenkstätten. Das heißt, es gab dort vor 1945 zwei Konzentrationslager, von denen die Landwirte profitiert haben müssen, beispielsweise durch Zwangsarbeit. Thematisiert wurde das allerdings nie. Dass solche Dinge verschwiegen wurden, ist sicherlich ein Grund dafür, dass rechte Einstellungen fortleben. Hinzu kommt der latente strukturelle Rassismus der DDR: Der Staat kasernierte Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter ein, bezahlte sie schlecht und schob beispielsweise schwangere Frauen unter ihnen ab.
Die soziale Katastrophe, die dann mit dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung eintrat, befeuerte das Wut- und Gewaltpotential – Hand in Hand mit der Propaganda westdeutscher rechter Gruppen. Das entlud sich dann in Rostock-Lichtenhagen, aber auch in Mölln und Solingen. Die erste Wahlwerbung, die ich bei der ersten und letzten freien Wahl der DDR 1990 zu Gesicht bekam, war die der rechten Freiheitlichen Arbeiter Partei (FAP).
Kannst Du Dich an rechte Strukturen und Neonazis vor 1989/90 erinnern?
Ich erinnere mich daran, dass die Bahnhöfe rund um Berlin immer schon problematisch waren. Wenn man von Zehdenick nach Berlin fuhr, kam man in Lichtenberg an, damals eine berüchtigte Gegend. Auch Bahnhöfe entlang der Strecke wie Hohen Neuendorf oder Oranienburg waren bereits rechte Pflaster. Das haben ältere Gruftis, Freunde von mir, erzählt.
An rechte Strukturen in Zehdenick erinnere ich mich weniger. Um so etwas wahrzunehmen, war ich noch zu jung. Aber die rassistische Grundstimmung, die beispielsweise gegenüber den angolanischen Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern herrschte, war so offensichtlich, dass ich mich mit Schaudern an die Wortwahl erinnere, mit der über schwarze Menschen gesprochen wurde.
Auf dem jährlichen Havelfest ging es vielen nur darum, mal wieder die »N— zu klatschen«. Aber ich erinnere mich auch an etwas aus meiner Schulzeit: Im Rahmen des Unterrichts »produktive Arbeit« trafen wir Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter im Ziegelwerk und meine Klassenkameraden – insbesondere die männlichen – beschimpften sie auf übelste Weise.
An der DDR gibt es viel zu kritisieren, doch es gab diesen offiziellen antifaschistischen Konsens. Er war ein wichtiger Bestandteil des Lebens, vor allem aber der Politik der DDR. Existierte dieser Grundkonsens nach Deiner Erfahrung auch in der Gesellschaft?
Ich nehme mal ein Beispiel aus meiner Jugendstunde – das war eine inhaltliche Vorbereitung auf die Jugendweihe. Meine fand 1989 statt, die letzte richtige DDR-Jugendweihe. »40 Jahre DDR« stand in großen Lettern über der Bühne. Im Vorfeld dieser Jugendstunde sind wir 1988 zu den Mahn- und Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen gefahren. Und ich erinnere mich, dass viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler sich merkwürdig verhielten. Vermutlich, weil es ihnen schwerfiel, mit der Thematik umzugehen.
Aber es gab auch ganz offensive Nazisprüche, die von Oma und Opa oder einfach aus dem normalen Hausschnack der Leute kamen. Oder KZ-Witze, ganz selbstverständlich erzählt. Während die antifaschistische Bildung der DDR bei mir tatsächlich Spuren hinterließ und mich zur Antifaschistin erzog, kam bei anderen nichts davon an. Viele Leute hatten aufgrund der unbewältigten und beschwiegenen Vergangenheit von Hause aus eine zum Teil völlig konträre Haltung zur offiziellen Staatsdoktrin.
Direkt neben Zehdenick befand sich damals der größte Stützpunkt der sowjetischen Streitkräfte. Wie hat sich das ausgewirkt?
Das Verhältnis zu »den Russen«, wie die Leute vor Ort sagten – ich habe das stets korrigiert in »Sowjetsoldaten« –, war sehr ambivalent und sehr unterschiedlich. Letztlich haben viele Leute mit ihnen Geschäfte gemacht. Die Kasernenmauern waren also durchlässig.
Ansonsten finde ich die Vorstellung befremdlich, dass tausende Menschen in dieser Kasernenstadt lebten. Die war größer als jede Stadt in der Umgebung. Ich bin dort mal zu Besuch gewesen und war damals schon verblüfft, was sich da für eine fremde Welt verbarg. Gewissermaßen stand da die Sowjetunion im Kleinformat. Aber im Alltag hat man davon kaum etwas mitbekommen. Es war wie ausgeblendet.
Dabei war allen klar, dass diese Wälder nicht betreten werden durften. Es gab auch immer wieder Vorfälle – Erschießungen, vermutlich von Deserteuren. Insgesamt changierte das Gefühl hin und her zwischen Mitleid, Faszination und Angst. Aber es gab auch ein regelrecht sehnsüchtiges und freundschaftliches Verhältnis zur Sowjetunion, zu all den Mythen von Lenin und der Revolution.
1992 überfielen vierzehn oder fünfzehn Neonazis die Dorfdiskothek in Klein-Mutz bei Zehdenick und traten mit ihren Springerstiefeln auf die Leute ein. Der neunzehnjährige Ingo Ludwig starb an den Folgen des brutalen Angriffs. Du selbst warst in der Nacht vor Ort und hast dieses Erlebnis in Deinem Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß beschrieben. Der Fall hat Dich aber nie losgelassen und Du recherchierst bis heute dazu, wie auch Deinem neuen Buch Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte? zu entnehmen ist. Wie prägend war dieses Erlebnis?
Würdest Du mit diesen Leuten darüber sprechen wollen?
Ja. Mich würden ihre Antworten brennend interessieren. Es war damals plötzlich cool, faschistische Parolen zu rufen und Leute zu jagen. Das klingt verrückt, aber so war es. Ich glaube, was da passierte, kennen wir alle von Konzerten, wenn beim Refrain 40.000 Menschen mitsingen. Es ist dieses sogartige und überwältigende Gefühl, mitgerissen zu werden und in einem größeren »Wir« aufzugehen. Ich kannte den Refrain damals nicht oder war von ihm erschrocken. Andere haben lautstark mitgegrölt.
Gab es damals für Dich sichere Räume oder Unterstützung?
Am Anfang nicht, nein. Es gab Unterstützung in dem Sinne, dass ich mich mit anderen zusammenfand, denen es auch so ging wie mir. Es gab aufrechte Leute: den Pfarrer, ein paar Nachbarinnen und Nachbarn. Das waren diejenigen, die sich dem entgegensetzten, auch mal was sagten, gegenhielten. Es war die Zeit in den frühen 1990ern, in der es keine Gerichtsbarkeit gab, die Polizei nicht funktionierte und die Gewaltwelle ungebrochen durchlaufen konnte. Diejenigen, die Zivilcourage zeigten, waren einfach zu wenige. Wir haben damals nicht bewusst gesagt, »wir sind dagegen« oder »wir sind die Antifa« – zu der wurden wir dann gemacht. Aber bestimmt, dass wir die Feinde sind, haben die anderen.
Warum hast Du Zehdenick verlassen und bist nach Berlin gegangen?
Ich wäre sicher so oder so irgendwann nach Berlin gegangen. Aber dass ich gehen musste, war damals eine sehr schmerzhafte Erkenntnis. Es war klar, dass ich die Arbeit bei der Märkischen Allgemeinen Zeitung nicht mehr weitermachen konnte. Ich wurde nicht so sehr persönlich bedroht, aber zunehmend wurden gezielt Personen aus meinem näheren Umfeld zusammengeschlagen. Deshalb bin ich früher weggegangen, als ich wollte.
Lokalredaktionen wie damals gibt es heute gar nicht mehr. Ich konnte viel über die rechten Strukturen in Erfahrung bringen. Zum Beispiel, dass ein örtlicher Polizist seinen in einer Kameradschaft aktiven Sohn beschützte. Diese Informationen wurden mir als Journalistin zugetragen – ich konnte wirklich etwas erreichen. Den Eindruck hatten die rechten Kameraden offenbar auch.
Damals gab es Kameradschaften, DVU und NPD. Heute gibt es den Dritten Weg, die AfD und rechte, esoterische Gruppen oder Reichsbürger. Immer noch brennen Geflüchtetenunterkünfte, wie damals. Welche Kontinuitäten gibt es und was hat sich verändert?
Anders geworden ist alles, was mit Technik zu tun hat – wir hatten damals nicht mal ein Telefon, um uns gegenseitig zu warnen. Neu ist auch die Tatsache, dass die Kinder und Jugendlichen heute in geradezu aufgegebenen Regionen aufwachsen, wo kaum Kulturangebote existieren. Sie sitzen zu Hause vor ihren Rechnern und pfeifen sich die Propaganda rein, jeder für sich allein. Das ist eine neue Dimension. Die rechte Hetze bekommt die Menschen in der Vereinzelung vorm Rechner – dadurch ist es leichter geworden, sie zu manipulieren. Der Aufwand ist viel geringer, als wenn man ein konspiratives Wehrlager im Wald organisieren muss.
Eine Kontinuität ist das Feindbild: Alle Menschen, die als fremd und anders wahrgenommen werden. Eine weitere, verheerende, die man immer wieder auch Westdeutschen klar machen muss, ist der Wegzug über drei Jahrzehnte. Menschen sind geflohen und fliehen weiterhin, weil sie diese Atmosphäre nicht mehr aushalten. Leider hat das dazu geführt, dass die Strukturen – Vereine, Feuerwehr, Verwaltungen – nun von rechten Akteuren durchsetzt sind. Es sind eben nicht die antifaschistisch eingestellten Leute geblieben. So hat sich auch einiges vom Verdecken und Verschweigen halten können. Dadurch sind Schweigekartelle gewachsen, und die haben verhindert, dass an die Stelle der Überforderung von damals Neugierde und Offenheit treten konnten.
Was hat sich mit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 und ihrer zunehmenden Normalisierung verändert?
Normalisierung ist da ein wichtiges Stichwort. Fangen wir bei den personellen Überschneidungen an: Dieselben Männer und Frauen, die in den 1990ern vorneweg liefen, rechtsextreme Parolen in die Landschaft schrien, Beifall klatschten, wenn es brannte, oder gleich selbst Hand anlegten, machen heute den aktiven Kern und das Unterstützerumfeld der AfD aus. Diese Leute haben sich nicht zu Unrecht als Sieger jener Jahre begriffen und gelernt, dass rohe Gewalt als Argument politischer Debatten anerkannt wird. Sie haben erlebt, dass es möglich ist, straffrei Angst und Schrecken zu verbreiten, und sind durch die Pegida-, Nein-zum-Heim-, Impfgegner- und nun ausgerechnet »Friedens«-Demos auch nie aus der Übung gekommen.
Als Eltern, als in Vereinen und Feuerwehren aktive Bürgerinnen und Bürger sind diese rechtsoffenen bis -extremen Akteure wesentlicher Teil der Dorf- und Stadtgemeinschaften. In den AfD-Fraktionen haben sie und ihre gefährlichen, geschlossenen Weltbilder parlamentarischen Ausdruck gefunden.
Du beschreibst in Deinen Büchern Orte in Brandenburg. Bei jedem Besuch siehst Du Nazis, rassistische Schmierereien, Reichskriegsfahnen in Kleingartenanlagen. Aber Du hast Brandenburg nicht aufgegeben.
Das wäre ja auch albern. Das hieße, alle aufzugeben – auch mich selbst. Ich komme da her und bin unfreiwillig weggezogen. Ich würde jetzt nicht nach Zehdenick zurückziehen, habe aber eine kleine Wohnung in der Nähe und bin gerne dort. Ich bin auch ein Teil davon. Ich bin ein Teil dieser Gesellschaft, wie wir alle.
Wir können nicht einfach eine ganze Region aufgeben. Wenn man eine Erfahrung aus der Wendezeit mitnehmen kann, dann die, dass sich vieles sehr schnell ändern kann. Einzelne Menschen und Impulse können eine Stimmung komplett drehen. Und ich beobachte optimistisch, dass eine Generation heranwächst, die keine Lust mehr hat auf tausend Jahre schlechte Laune, die Gründe sucht, um vor Ort zu bleiben, und eigene Projekte aufbaut.