19. Juni 2024
Mark Fisher war einer der zentralen Denker für die Millennial-Linke. In seinen letzten Vorlesungen stellte er die Frage, wie unsere kapitalistisch produzierten Wünsche und Bedürfnisse zu einem Antrieb für antikapitalistische Politik werden könnten.
»Mark Fisher bestand darauf, dass unsere Wünsche zwar vom Kapitalismus produziert würden, aber keinesfalls innerhalb seiner Grenzen bleiben müssten.«
In seinem letzten Werk Sehnsucht nach dem Kapitalismus erforscht der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher die tief verwurzelten Wünsche und Begierden, die den Kapitalismus prägen und ihn aufrechterhalten.
Das Buch basiert auf Fishers Vorlesungen am Goldsmiths College, die er von November 2016 bis zu seinem Tod im Januar 2017 hielt. Ursprünglich auf Englisch unter dem Titel Postcapitalist Desire: The Final Lectures bei Repeater Books veröffentlicht, liegt das Werk nun in deutscher Übersetzung bei Brumaire vor.
Matt Colquhoun gab die englische Version von Fischers letzten Vorlesungen heraus. Im Gespräch mit Julia Werthmann spricht Colquhoun über Mark Fishers pädagogische Ansätze, seine politischen Theorien und die Notwendigkeit von Solidarität.
Was für ein Lehrer war Mark Fisher? Die Vorlesung hinterlässt den Eindruck, dass er hierarchische Lernformate ablehnte.
Auf jeden Fall. Er ging mit Großzügigkeit an seine Vorlesungen, beanspruchte nie Autorität, sondern versuchte innerhalb wie außerhalb des Seminarraums Solidarität aufzubauen. Vielleicht war er nicht einmal ein Lehrer, sondern ein »Bewusstseinsbildner«, der wirklich an die Kraft von Bildung glaubte. Er sprach nicht nur über emanzipatorische Politik, sondern versuchte, sie im schwierigen Umfeld neoliberaler Universitäten hervorzubringen.
Fisher war nicht nur Lehrer, sondern auch politischer Theoretiker. Was bestimmte sein Denken?
Mark war stolz darauf, eine subversive Figur in der Wissenschaft zu sein. Er war Dozent im Fachbereich Kulturwissenschaften am Goldsmiths College in London und interessierte sich besonders für Figuren wie Stuart Hall, der den Marxismus kulturell weiterdachte.
»Natürlich kann man Starbucks-Kaffee trinkend den Kapitalismus bekämpfen.«
Auch in Halls Selbstwahrnehmung als Fremder, der unterschiedliche soziale Räume durchquert, hat Mark sich wiedererkannt: Hall bewegte sich als Schwarzer Professor mit jamaikanischer Herkunft in mehreren Welten, Mark als Intellektueller mit Wurzeln in der Arbeiterklasse. Ein Dozent beschrieb den Studenten Mark einmal als den stereotypischen »Stipendiatenjungen«, der aus der unteren Klasse in die Wissenschaft hinein katapultiert wurde und ihr gegenüber gleichermaßen Neugier wie Trotz zeigte. Diese Spannung durchzieht auch seine Schriften.
Fisher wird mit dem Konzept des Akzelerationismus verbunden. Kritiker behaupten, dieser predige, man müsse den Kapitalismus verschlimmern, damit er schlussendlich kollabiere.
Der Akzelerationismus wurde widersprüchlich definiert, mal besser und mal schlechter. Marks Definition ist jedenfalls die beste. Ihm zufolge geht es nicht darum, den Kapitalismus zu verschlimmern, um ihn zu überwinden. Er dachte eher in der Tradition der Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Sie glaubten, dass nicht jede soziale Struktur, die der Kapitalismus produziert, ihm auch gehört.
Was kann man sich darunter vorstellen?
In der Vorlesung spricht Mark über die Verachtung, die der Occupy-Bewegung entgegenschlug: Die Politikerin Louise Mensch höhnte, sie gäben sich antikapitalistisch, würden zugleich aber bei Starbucks einkaufen. Mark bestand darauf, dass unsere Wünsche zwar vom Kapitalismus produziert würden, aber keinesfalls innerhalb seiner Grenzen bleiben müssten. Natürlich kann man Starbucks-Kaffee trinkend den Kapitalismus bekämpfen. Die entscheidende Frage lautet: Wie können wir die kapitalistisch produzierten Begierden so nutzen, dass sie revolutionär antikapitalistische Politiken hervorbringen?
Der deutsche Titel der Vorlesung Sehnsucht nach dem Kapitalismus betont diese Spannungen zwischen »kapitalistischen Begierden« und »einem Begehren jenseits des Kapitalismus«. Eine solche Ambivalenz kennzeichnet auch die Emanzipationsbewegung, um die sich das Seminar dreht: die 1960er und 70er Jahre. Früher war Fisher sehr skeptisch gegenüber der Hippie-Gegenkultur. Im Seminar lernen wir jedoch eine ambivalentere Sicht kennen, die auch Potenziale anerkennt.
Die Naivität der Hippies lag für Mark in ihrem Irrglauben, dass Passivität zu Befreiung führt. Im Sinne von: Liebe löst alle sozialen Spannungen. Dieser Positivismus ist das bedauerlichste Erbe der Hippiekultur. Heutzutage sind wir deshalb mit mystischen Politiken konfrontiert, die uns Yoga als emanzipatorisch verkaufen. Sie zielen auf innere Ruhe und verfehlen dabei, die materiellen Ursachen unserer Unzufriedenheit zu politisieren.
Und was ist mit dem Potenzial der Hippiebewegung?
Mark erkannte an, dass wir noch viele Lektionen von ihnen lernen könnten. Insbesondere, wenn es darum geht, anders zu leben. Das bräuchte jedoch eine kraftvolle, negative Kritik, da ihr Positivismus allzu leicht neoliberal vereinnahmt wurde und letztlich sogar unterstützte, was Mark den »kapitalistischen Realismus« nannte. Also die Ideologie, dass der Kapitalismus alternativlos sei.
Das ungenutzte Potenzial der Hippiebewegung spielt eine Rolle in Fishers unvollendetem Werk zum »Acid Communism«. Worum geht es dabei?
Leider werden wir nie ganz erfahren, was Mark plante, aber es gibt Entwürfe. Die Formulierung ist ähnlich provokativ wie der deutsche Vorlesungstitel. Einerseits spielt sie auf die psychedelische Hippiekultur an, die nach einer grundlegend anderen Zukunft sucht. Andererseits betont sie aber die zersetzende Wirkung von Säure, die den kapitalistischen Realismus zerstören soll. Und die den Hippies fehlte. Wenn der kapitalistische Realismus Marks Diagnose war, sollte der Acid Communism eine Behandlung darstellen.
Fisher sah die Linke auseinanderfallen: Die Neue Linke wurde ihm zufolge vom Neoliberalismus vereinnahmt, auf der anderen Seite gewann die Rechte Teile der Arbeiterklasse für sich. Interessant ist aber Fishers Weigerung, Identitätspolitik und Klassenpolitik einander einfach gegenüberzustellen. Stattdessen bietet er eine sehr ungewöhnliche Perspektive: Er macht sichtbar, dass sowohl feministische und antirassistische Kämpfe einerseits als auch Arbeitskämpfe andererseits durch Identitätspolitik vereinnahmt werden. Damit meint er Politiken, die unterdrückte Identitäten einfach anerkennen, anstatt ihnen Emanzipation anzubieten. Der Weg zu einer wirklichen Befreiung führt für ihn nicht über Identität, sondern über »Gruppenbewusstsein«. Was hat es damit auf sich?
Mit dem Konzept des »Gruppenbewusstseins« knüpfte Mark an die ursprüngliche Bedeutung von Identitätspolitik an, die von schwarzen Feministinnen der Siebzigerjahre stammt, aber auch an den Marxisten Georg Lukács.
»Mark war an der Auflösung von Identität, genau genommen einer Dis-Identitätspolitik interessiert, die Solidarität in den Fokus stellt.«
Die Idee ist weitaus radikaler als das populäre Verständnis von »Das Persönliche ist politisch« und etwas anderes als das, was man heute Identitätspolitik nennt. Man geht von der eigenen Erfahrung aus, aber indem man sie mit anderen teilt, erkennt man das persönliche Leid als Ergebnis sozialer Strukturen. Das Persönliche wird dadurch nicht nur politisch, sondern auch unpersönlich. Man erkennt seine Position im System.
Wir sollten also besser zwischen Identitätspolitik, die ein politisches Gruppenbewusstsein bei Unterdrückten schafft, und identitärer Politik unterscheiden. Letztere versteht Mark als Identifikation mit einer festen Identität, die es den Mächtigen erleichtert, sie politisch zu vereinnahmen.
Identitäre Politik macht also etwa Trump, der vorgibt, Arbeiter zu vertreten. Jedoch nichts dafür tut, den Kapitalismus anzugreifen, der ihre Ohnmacht hervorbringt?
Genau. Mark war an der Auflösung von Identität, genau genommen einer Dis-Identitätspolitik interessiert, die Solidarität in den Fokus stellt. Und zwar keine gruppeninterne, sondern eine, die die eigene Position überschreitet. Natürlich ist solch eine Solidarität aber nicht ohne Spannungen zu haben.
Derzeit ist die Frage der Arbeitszeitverkürzung zurück auf der Agenda. Hierzulande wird etwa die 35-Stunden-Woche heiß diskutiert. Das Thema spielt auch in der Vorlesung eine zentrale Rolle, was war Fishers Position?
Während heute all unsere Zeit von einem Vollzeitjob absorbiert wird, war Mark überzeugt, dass Arbeit so organisiert werden kann, dass ein reicheres Leben für alle möglich wird. Das Ziel müsste sein, auch Zeit für Dinge zu haben, in denen wir nicht mal unbedingt gut sind. Es gibt unzählige unbezahlte oder missachtete Tätigkeiten, die unser Leben bedeutsam machen und uns im wahrsten wie im kulturellen Sinne erhalten. Gegen das Vorurteil, dass wir mit mehr Zeit nur unserer selbst frönen würden, hat Mark sich gewehrt.
Und wie wäre so etwas Fisher zu Folge zu realisieren – durch künstliche Intelligenz?
Kapitalistische Innovationen bergen Potenziale. Aber die Frage ist, ob wir sie nutzen können, um den Kapitalismus zu überschreiten. Die Annahme, dass künstliche Intelligenz uns von aller Arbeit befreit, ignoriert jedoch, dass auch sie Ausbeutung erfordert. Solche Diskussionen werden nicht breit geführt, aber sie könnten es. Und ich glaube, das war Marks Hauptanliegen: dass wir unser Bewusstsein in solchen Fragen schärfen können, anstatt uns bloß Antworten aufzwingen zu lassen.
Matt Colquhoun arbeitet zum Erbe von Mark Fisher und hat unter anderem dessen letzte Vorlesung als Buch herausgegeben.