13. Dezember 2021
Die Schweizer SVP ist eine der stärksten rechten Parteien Europas. Ihren Aufstieg verdankt sie einer Strategie, die nun auf dem ganzen Kontinent Nachahmer findet.
Ein polternder Antreiber inmitten eines Meers aus Nationalflaggen, rundum Sitzblockaden, Strassenschlachten zwischen Polizei und Gegendemonstranten, dutzende Verletzte: Solche Bilder war man in der sonst bis zur Erlahmung politisch stabilen Schweiz nicht gewohnt. Doch im Jahr 2007 kippte etwas. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hatte zu einem »Fest mit Umzug« durch die Schweizer Hauptstadt Bern aufgerufen. Gegendemonstrantinnen nannten die SVP-Demonstration einen »Marsch auf Bern« – in Anlehnung an den gleichnamigen Umzug der faschistischen Nationalen Front von 1937 und auf Mussolinis Marsch auf Rom. Die SVP war Ende der 1990er Jahre plötzlich aus einer kleinen Partei mit etwas über 10 Prozent Stimmenanteil zur stärksten Kraft des Landes geworden. 2007 erreichte sie 29 Prozent. Der Aufstieg der SVP kennt in der jüngeren europäischen Geschichte keinen Vergleich. Während sie sich zur wählerstärksten Partei des Landes mauserte, wanderte sie inhaltlich nach rechts: Migration lehnt sie genauso ab wie einen EU-Beitritt der Schweiz, dazu kommt ein wirtschaftsliberales und arbeiterfeindliches Programm. Damit gewann sie nicht nur im parlamentarischen Betrieb, sondern auch im vorpolitischen Raum. Die SVP steht damit paradigmatisch für eine Parteiform, die die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl in ihrem Buch Radikalisierter Konservatismus beschreibt. Und das kommt nicht von ungefähr, denn sie ist nicht nur stark mit der internationalen Rechten verbunden, sondern hat aktiv dazu beigetragen, diese aufzubauen: als Ideengeberin, indem sie eine rassistische Bildsprache entwickelte, durch mediale Unterstützung – vor allem aber als Geldgeberin. Die SVP hat die Schweiz zu einem Flugzeugträger rechten Gedankenguts inmitten Europas gemacht.
Die Schweizer Rechte bediente sich eines Tricks: Sie übernahm eine bestehende Partei, so wie es Donald Trump drei Jahrzehnte später mit den Republikanern getan hat. Dessen ehemaliger Chefideologe Steve Bannon bezeichnete den Multimilliardär Christoph Blocher, eine Führungsfigur der SVP, bei einem Besuch in der Schweiz als einen »Trump vor Trump«. Denn Blocher und sein Umfeld begannen Ende der 1980er einen Übernahmekampf in der zuvor bäuerlich geprägten Partei und bauten sie zu einem straff organisierten rechtspopulistischen Apparat um. Seitdem gab es mehrere Austrittswellen, 2008 spaltete sich gar ein gemässigter Flügel zu einer neuen Partei ab. Dabei entstand, was Strobl als das »Paradoxon einer konservativen Partei« bezeichnet, »die sich als Kämpferin gegen das alte System geriert und doch auch die Glaubwürdigkeit ihrer jahrzehntelangen Rolle als staatstragende Partei ausnutzte«. Denn die SVP und ihre Vorgängerorganisationen stellten bereits seit den 1930er Jahren Bundesräte (Mitglieder der Regierung, die im Schweizer Ausgleichssystem Vertreter der vier grössten Parteien umfasst).
Damit war die SVP in einer besonderen Position: Die Partei hatte formal höchste Ämter inne, war also Teil des Systems. Doch genau diese Position benutzte sie, um das demokratische System, den öffentlichen Diskurs, die Medien und das Rechtswesen anzugreifen und sukzessive auszuhöhlen. Dieses gleichzeitige Innen und Aussen machte es schwer, sie anzugreifen. Auch wenn ihre Politiker in jeder Talkshow und in jedem Interview ethische Normen verletzten, Fakten leugneten, Migrantinnen verunglimpften, Richter beleidigten, andere Politikerinnen verhöhnten und Intellektuelle desavouierten, mussten sie doch eingeladen werden – sie waren schliesslich Regierungspartei.
Noch heute kommt es vor, dass im öffentlich-rechtlichen Radio Sendungen zum europäischen Rechtspopulismus produziert werden, in der über den Rassemblement National oder die AfD gesprochen, aber die SVP mit keinem Wort erwähnt wird. Dabei sog die SVP die extreme Rechte der Schweiz in sich auf wie ein Schwamm. Innert weniger Jahre verschwanden rechtsextreme Kleinstparteien wie die PNOS oder die Schweizer Demokraten in der Bedeutungslosigkeit, weil die SVP die rechtsextreme Position erfolgreich besetzt hatte. Bis heute sorgen SVP-Politiker mit ihren Äusserungen für Aufregung. 2019 etwa kommentierte ein Regionalpolitiker auf Facebook: »Das Einzige, was wieder nach Deutschland gehörte, ist ein neuer Onkel Dolf.«
Im Jahr 2007 wollte ein Komitee in Bern dem rechten Treiben etwas entgegensetzen. Es nannte sich »das schwarze Schaf« – eine Anspielung auf ein berüchtigtes Plakat, mit dem die SVP im selben Jahr für eine Volksinitiative zur Ausweisung »krimineller Ausländer« warb. Dieses zeigte ein weisses Schaf, das ein schwarzes Schaf per Fusstritt aus einem roten Feld mit weissem Kreuz hinausbefördert. Das Motiv sorgte international für Empörung, es fand allerdings auch Nachahmer: Als 2018 in Chemnitz tausende Neonazis durch die Stadt marschierten und Jagd auf Migranten machten, hielten sie ein Transparent, auf dem erneut ein weisses Schaf ein schwarzes Schaf aus dem Land kickt. Darüber stand: »Ausländer raus.« Das Originalplakat hatte die Agentur Goal AG des Werbers Alexander Segert entworfen.
Wenn man den personellen und finanziellen Verstrickungen der europäischen Rechten nachgeht, trifft man immer wieder auf die Goal AG. In der Schweiz ist sie berüchtigt für ihre Werbekampagnen. Sie zeichnete Grüne und Sozialdemokraten als Läuse und Ratten, liess 2004 dunkle Hände nach roten Schweizer Pässen greifen und schwarze Stiefel auf Schweizer Flaggen trampeln, um so vor »Masseneinwanderung« zu warnen. 2009 setzte die Goal auf einem Plakat, das für ein Verbot von Minaretten warb, die muslimischen Gebetstürme mit Raketen gleich. Zuletzt streckte eine blaue EU-Krake ihre Tentakel nach der Schweiz aus und zerfrassen Würmer einen eidgenössischen Apfel – beides Motive aus der Zeit des Nationalsozialismus. Doch Segert wehrt Vorwürfe, seine Bildsprache bediene sich bei den Faschisten, routiniert wie unglaubwürdig ab: Er habe nicht gewusst, dass auch die Nazis ähnliche Symbole benutzt hätten, sagt er dann, oder Tiere seien in der politischen Werbung auch bei Linken verbreitet – etwa der Miethai.
»Das Land entfernt sich von der EU, Migrantinnen werden politisch wie gesellschaftlich immer stärker bedrängt, der Sozialstaat wird löchrig wie ein Schweizer Käse, Arbeitnehmerrechte laufend beschnitten.«
Segert war in den 1980er Jahren aus Hamburg in die Schweiz emigriert, weil ihn das politische Klima Europas zu sehr an die Sowjetunion erinnerte. Heute ist er Schweizer Staatsbürger und steht der SVP-Lokalpartei seiner reichen Vorstadtgemeinde vor. Beobachter weisen ihm eine zentrale Rolle dabei zu, die Debatte in der Schweiz schriller, aggressiver und roher gemacht zu haben. In einem Interview sagte Segert einst, er finde es legitim, Angst zu benutzen, um politische Botschaften zu verbreiten. In den letzten Jahren macht er sich auf, das in anderen Ländern zu wiederholen. Seine Sujets zirkulieren ohnehin schon in der Europäischen Rechten. Der Rassemblement National bedient sich dabei ebenso gern wie Neonazi-Gruppen in Nordrhein-Westfalen. Doch Segert strebt direkte Zusammenarbeit an: Bereits 2008 organisierte er für Verbände der FPÖ Wahlkämpfe, später versuchte er sich Marine Le Pens Partei anzudienen, die damals noch Front National hieß. Ab 2014 arbeitete Segert für die »Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit«, die Fraktion im Europaparlament von Front National, Lega Nord, FPÖ und einzelnen AfD-Exponenten. Ein Blogger konnte nachweisen, dass Segert die IT-Infrastruktur der Bewegung gebaut hatte.
Doch es ist Segerts ursprüngliche Heimat Deutschland, in der er bisher am folgenreichsten interveniert hat. Segert und seine Goal AG haben der AfD jahrelang Finanzhilfen, logistische Unterstützung und indirekte Wahlkampfwerbung zukommen lassen. Recherchen der Wochenzeitung (WOZ), die diesen Komplex seit Jahren journalistisch begleitet, zeigten bereits früh, dass über die Schweiz Geld an die AfD fliesst. Die Goal soll illegale Parteispenden von Multimilliardären wie dem Immobilienunternehmer Henning Conle oder dem Financier August von Finck Gelder zu einzelnen Politikern wie Jörg Meuthen und Kreisverbänden der AfD geschleust haben. Die Initiative Lobbycontrol geht von Unterstützung im Wert von 10 Millionen Euro aus – mindestens. (Zum Vergleich: Die CDU gab laut eigenen Angaben für den Wahlkampf 2021 20 Millionen Euro aus.) Das Problem für die AfD ist dabei, dass Spenden in dieser Grössenordnung in Deutschland verboten sind. Ebenso sind Spenden aus Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz untersagt. Die Bundestagsverwaltung hat deshalb immer wieder Strafen gegen die AfD verhängt. So büsste sie zuletzt Alice Weidel mit 400.000 Euro.
Über die finanzielle Unterstützung hinaus half der AfD der »Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und Bürgerlichen Freiheit«. Dieser soll völlig unabhängig von der AfD sein, die Partei klagte gar gegen seine Unterstützung. Eine Nebelkerze. Denn der Verein bezahlte Werbung und Plakate für die AfD. So sollte das Parteispendengesetz umgegangen werden. Lobbycontrol spricht von »immensen Verflechtungen«.
Auch zur Goal AG gibt es eindeutige Verbindungen: Die Website des Vereins etwa wurde von der Agentur erstellt. David Bendels, der Vorstand des Vereins, berichtete gegenüber Medien von regelmässigen Reisen in die Schweiz, um Segert zu treffen. Ein Ziel sei, die »konservativ-bürgerlichen Kräfte« Europas zu vernetzen. Ulrich Müller von Lobbycontrol sagte 2019 der WOZ: »In den letzten zehn Jahren gab es in Deutschland keinen vergleichbaren Fall, bei dem in einem solchen Ausmass verdeckte Wahlwerbung gemacht wurde.«
Diese Strategie als reine Umgehung von Parteispendengesetzen zu betrachten, greift jedoch zu kurz. Der Rechten geht es nicht nur darum, Sitze im Parlament zu gewinnen – sie will den gesamten politischen Diskurs verschieben. Bendels sagte 2018 der WOZ, er wolle nicht AfD-Mitglied werden, da er lieber im »vorpolitischen Feld« tätig sei. Den vorpolitischen Raum zu besetzen, ist die Strategie der Nouvelle Droite, der sogenannten Neuen Rechten. Und es ist dieses Feld, in dem die SVP in der Schweiz enormen Erfolg gehabt hat, vor allem in den Medien. Die SVP hat in der Schweiz erfolgreich das aufgebaut, was Natascha Strobl eine »aktiv geförderte Parallelmedienwelt« nennt. Und diese Medienstrategie exportiert die Schweizer Rechte nun, vor allem nach Deutschland.
Wie bereits mit der SVP selbst, schaffte es die Schweizer Rechte, auch etablierte Schweizer Medien zu übernehmen und nach rechts zu drehen. Zuerst gelang das mit der bekannten Zeitschrift Weltwoche. Diese war in den 1930ern von schwulen Journalisten und engen Freunden deutscher Exilanten wie Erika Mann gegründet worden und galt lange als Flaggschiff des Linksliberalismus in der Schweiz. 2001 übernahm der mittlerweile auch in Deutschland bekannte Roger Köppel das Blatt. Bis heute ist ungeklärt, wie er die finanziellen Mittel dafür aufgebracht hat, es wird jedoch eine Verbindung zu Christoph Blocher und anderen rechten Financiers angenommen. Köppel entliess grosse Teile der Belegschaft und verwandelte das ehemals gediegene Wochenblatt in eine Hetzpostille mit Schlagzeilen wie »Die Roma kommen« nebst einem Foto eines kleinen Jungen, der den Lauf einer Pistole in die Kamera richtet. 2015 trat Köppel offiziell der SVP bei, heute sitzt er für die Partei im Nationalrat. Köppel – der kurzzeitig Chefredakteur der Zeitung Die Welt war – tourt regelmässig durch Talkshows im deutschen Fernsehen. Vor allem bei Bild TV ist er ein gern gesehener Gast, denn er vertritt Positionen, für die es keine unbefleckten deutschen Talking Heads gibt. Ein Schweizer hingegen darf das noch sagen.
Christoph Blocher übernahm in den 2000er Jahren unter dem Deckmantel von Mittelsmännern die Basler Lokalzeitung BaZ, um die als Bastion des Linksliberalismus geltende Stadt umzupolen. 2017 kaufte er dann ein Netzwerk von Lokalzeitungen, mit dem er über 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung erreicht. Bereits 2012 flutete Blocher die Schweiz mit seinem Extrablatt, einer 22-seitigen Propagandapostille – in jedem zweiten Briefkasten des Landes lag ein Exemplar. Der »Verein für die Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit« hat dieses Modell wiederholt nachgeahmt. In Baden-Württemberg verteilte der Verein ein Extrablatt, das für die AfD warb. In Berlin und anderen Grossstädten kam ein Deutschland-Kurier zum Zug. Die Artikel kamen von der Weltwoche, die Gestaltung besorgte die Goal AG.
Das bekannteste »Opfer« dieser Strategie dürfte die NZZ sein. Seit ihrer Gründung 1780 war sie ein staatstragendes, liberales Blatt. In den letzten Jahren kam es jedoch zur Übernahme durch den intern weit rechts stehenden Chefredakor Eric Gujer. Daran beteiligt waren dieselben Mittelsmänner, die bereits Blochers Infiltration der Weltwoche und der BaZ einfädelten. Seitdem sind Redaktorinnen, die als zu links galten, massenhaft hinausgedrängt worden – manche sprachen von einer »Säuberungswelle«. Gleichzeitig wandte sich dieses urschweizerische Blatt nach Norden. Es ist das erklärte Ziel der »Deutschlandstrategie« der neuen NZZ, ein deutsches Publikum anzusprechen, das sich in den »Mainstream-Medien« nicht wiederfindet. Die Strategie wirkt offenbar: Hans-Georg Maaßen bezeichnete die NZZ 2019 lobend als »Westfernsehen«. Die Proteste der NZZ gegen eine solche Vereinnahmung klingen hohl. Denn Chefredaktor Gujer schickt wöchentlich seine Kolumne »Der andere Blick« über den Rhein, in der er raunt: »Der hässliche Deutsche trägt keinen Stahlhelm mehr – er belehrt die Welt moralisch.« Gemeint ist Seawatch-Kapitänin Carola Rackete.
Mittlerweile scheint es so, als ob die SVP und ihr Umfeld ihre Ziele in der Schweiz erreicht hätten. Das Land entfernt sich von der EU, Migrantinnen werden politisch wie gesellschaftlich immer stärker bedrängt, der Sozialstaat wird löchrig wie ein Schweizer Käse, Arbeitnehmerrechte laufend beschnitten.
Doch dieses kleine Land scheint nicht genug zu sein. Denn es lockt ein grosser Kanton: So nennt man in der Schweiz scherzhaft den Nachbarn Deutschland. Man kann nur hoffen, dass man hier den langjährig erprobten Strategien, bestehende konservative Strukturen zu übernehmen und nach rechts zu treiben, und den allein mit Blochers Privatvermögen von 15 Milliarden Franken prall gefüllten Kriegskassen mehr entgegensetzt. Ein erster Schritt ist, etwas mehr Licht ins Herz der Finsternis inmitten Europas fallen zu lassen.
Caspar Shaller ist freier Journalist.