20. Juli 2025
Hannah Arendt gilt als moralische Instanz der Linken, Martin Heidegger als kompromittierter NS-Sympathisant. Beide eint ein radikaler Aristokratismus. Wer diese unbequeme Verwandtschaft nicht wahrhaben will, ersetzt kritische Analyse durch blinde Verehrung. Eine Replik.
Hannah Arendt, 1963.
Hannah Arendts Werk ist von Interesse, allein aufgrund der Bedeutung, die sie einem der wichtigsten Probleme der Gegenwart beimisst: dem der Flüchtlinge. Die Art und Weise, wie sie ihre literarische Bildung in den Dienst ihrer historischen Beschreibungen zu stellen weiß, verleiht ihnen eine gewisse suggestive Kraft. Und es ist die Lebendigkeit ihres Geistes, die die Lektüre ihrer brieflichen Korrespondenz so anregend werden lässt.
Ihr Werk zeichnet sich durch einen erheblichen Widerspruch aus: Zwar erfasste sie den Nationalsozialismus als totalitäres Phänomen und doch verteidigte sie zugleich ihren ehemaligen Lehrer und Geliebten Martin Heidegger ungeachtet seiner grundsätzlichen Zustimmung zum Nationalsozialismus. Heidegger hatte 1953 kommentarlos die Worte von der »inneren Wahrheit und Größe« der nationalsozialistischen Bewegung veröffentlicht und in den 1939 erschienenen Schwarzen Hefte selbst nach den Pogromen der sogenannten Kristallnacht im November 1938 seine »wesentliche Bejahung« der nationalsozialistischen Bewegung zum Ausdruck gebracht. Wie also ist dieser Widerspruch zu erklären? In meinem Buch Hannah Arendt und Martin Heidegger. Zerstörung des Denkens versuche ich diese Frage zu beantworten.
Eine in der Süddeutschen Zeitung erschienene Rezension aus der Feder des Arendt-Biografen und Herausgebers Thomas Meyer fiel außergewöhnlich heftig aus. So bezeichnete er meine Arbeit als »groteske Fehllektüre«. Dabei geht Meyer selbst auf den zentralen Gegenstand meiner Untersuchung gar nicht ein – nämlich die intellektuelle Beziehung zwischen Arendt und Heidegger. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts verdient diese Frage indes eine möglichst sachliche Diskussion.
Wie äußerte Arendt selbst sich zu diesem Verhältnis? 1960 schrieb sie Heidegger, dass ihr Buch Vita activa, ihm »in jeder Hinsicht so ziemlich alles« schulde. Die in diesem Text entwickelte Anthropologie beruht auf einer Unterscheidung, die der philologischen Grundlage entbehrt, derjenigen nämlich zwischen zôê und bios, den altgriechischen Begriffen für »Leben«. Diese Unterscheidung geht auf jene Vorlesung zurück, die Heidegger im Wintersemester 1924–25 über Platons Sophistes in Marburg hielt und an der die damals kaum 18-jährige Arendt teilnahm. Arendts Gegenüberstellung zwischen zôê einerseits, also dem rein tierischen Leben, das die allein um ihren Lebenserhalt besorgten Menschen führen, und bios andererseits, womit das menschliche Leben im eigentlichen Sinne bezeichnet ist, das sich im Handeln erfüllt, ist heideggerscher Prägung und wird von Arendt übernommen.
In der 1969 im Klostermann Verlag erschienenen Festschrift zum 80. Geburtstag des Freiburger Denkers schreibt Arendt: »Mir will scheinen, dass Leben und Werk [Heideggers] uns gelehrt haben, was DENKEN ist.« Damit verabschiedet sie die deutlichen Vorbehalte, die sie 1946 noch in Bezug auf sein nationalsozialistisches Engagement geäußert hatte. In ihrem 1978 posthum veröffentlichten und unvollendet gebliebenen Werk Das Leben des Geistes betont sie: »[I]ch bin eindeutig denen [gemeint ist Heidegger] beigetreten, die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien […] zu demontieren.« In diesem Buch greift sie Heideggers Motiv vom Ende der Philosophie auf, das in den Schwarzen Heften in einer Notiz aus dem Jahr 1934 auftaucht und 1947 in seinem Brief über den Humanismus wiederkehrt.
»Es fragt sich, wie Arendt selbst zu diesem radikalen Aristokratismus steht, der einen Teil der Menschheit, den sie als animal laborans bezeichnet, entmenschlicht.«
Die Verbindungen sind prägnant. Was aber verstehen Arendt und Heidegger jeweils unter »denken« und was bedeutet und impliziert ihr Unterfangen einer »Demontage« – Heidegger spricht von »Destruktion«, Arendt von »dismantlement«? Ich untersuche insbesondere Arendts Gegenüberstellung zwischen Heidegger einerseits, den sie zum Paradigma des »Denkens« stilisiert, und Eichmann andererseits, einem der Hauptverantwortlichen für die »Endlösung«, dem sie Gedankenlosigkeit zuschreibt. Dieser Widerspruch trägt mittelbar dazu bei, Heidegger von seinem nationalsozialistischen Engagement zu entlasten. Meyer erwähnt diese Analyse jedoch nicht, obgleich sie für meine Arbeit von zentraler Bedeutung ist.
Meyer konzentriert sich in seiner Kritik hingegen auf vier Aspekte. Zum einen wirft mir vor, ich hätte ein Heraklit-Fragment mit Arendts Denken verwechselt. Diese schreibt in Vita activa: »Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier geht durch die menschliche Gattung selbst: nur die Besten (aristoi), die sich auch beständig als die Besten erweisen […] und ›den unsterblichen Ruhm den sterblichen Dingen vorziehen‹, sind wirklich menschlich.« Die Anführungszeichen machen kenntlich, dass Arendt hier ein Zitat verwendet. Wenn ich nicht darauf hinweise, dass das Zitat aus einem Fragment Heraklits stammt, so deshalb, weil mein gesamtes Buch ein analytischer Kommentar zu Arendts Werken ist und alle Belege anführt, die es den Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich auf den Originaltext zu beziehen.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Hannah Arendt nicht einfach als Historikerin spricht, sondern sich häufig auf die Autorität der Antike stützt, um ihre eigenen Thesen zu legitimieren. Sie spricht aus einer rekonstruierten Antike, aus einem republikanisch gedachten Griechenland in die Gegenwart, aber nicht ohne die bereits erwähnte Unterscheidung von »animalischem Leben« und »politischem Leben (bios politikos)«.
Dies gilt auch für die eben genannte Passage, in der sie sich auf Heraklit beruft, wenn sie schreibt, dass »die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier […] durch die menschliche Gattung selbst« geht. Das wirft die Frage auf, wie Arendt selbst zu diesem radikalen Aristokratismus steht, der letztlich einen Teil der Menschheit, den sie als animal laborans bezeichnet, entmenschlicht. Sicher, man kann diese Passagen als Anklage der Arbeitsgesellschaft und ihrer »Entfremdung« betrachten. Aber dann muss man zugestehen, daß diese Anklage sehr zweischneidig bleibt. Denn Hannah Arendt lehnt den marxistischen Begriff der Entfremdung ab und ersetzt ihn durch den Begriff der »Weltentfremdung«, mit anderen Worten einen Begriff, der mit Heideggers Heimatlosigkeit verwandt ist.
»Arendt ist der Auffassung, dass nicht nur dem Sklaven und dem Barbaren in der Antike, sondern auch dem Arbeiter und Angestellten der Zugang zum Raum des Politischen versperrt bleibt.«
In dem Kapitel »Aristokratie und Versklavung« zeige ich, dass ein aristokratischer Anspruch Kernbestandteil ihrer Anthropologie ist. Bereits im Prolog von Vita activa beklagt Arendt das Fehlen einer »politischen und […] geistige[n] Aristokratie, von der aus eine Restauration der anderen menschlichen Vermögen von Neuem beginnen« könne. Recht besehen beruht Arendts gesamte politische Theorie auf einer Einteilung, die sich aus der oben erwähnten Heideggerschen Unterscheidung begründet. Nur diejenigen, die an einer, wie sie es nennt, »zweiten Geburt« teilhaben, also die wenigen, die zu Recht Zugang zum politischen Handeln – zum bios politikos – haben, verdienen im eigentlichen Sinne die emphatische Bezeichnung eines genuinen Menschseins.
Diese Auffassung beschränkt sich bei Arendt nicht auf die antike Polis, denn sie ist der Auffassung, dass nicht nur dem Sklaven, dem Fremden und dem Barbaren in der Antike, sondern auch dem Arbeiter und Angestellten in der Vormoderne und Moderne der Zugang zum Raum des Politischen versperrt bleibt. Diese Trennung zwischen dem Sozialen und dem Politischen – die Hannah Arendt auch zu ihrer Ablehnung der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung im Hinblick auf die Politik der Aufhebung der Rassentrennung an Schulen im Süden der USA verleitete – gehören mitsamt ihrer Vorstellung, dass Arbeit nicht zur Menschwerdung beiträgt, zu den fragwürdigsten Aspekten ihrer politischen Theorie. Sie werden zu selten diskutiert, obwohl sie den Kern der Argumentation ausmachen.
Der zweite Punkt betrifft einen Text aus dem Jahre 1932, den Arendt dem Begriff der »politischen Gemeinschaft« bei Adam Müller widmet. Müller gehört zu den Hauptvertretern jener Bewegung, die Carl Schmitt als »politische Romantik« bezeichnet. Meyer wirft mir nun vor, ich hielte für Arendts Denken, was in Wirklichkeit eine soziologische und lediglich neutral-deskriptive Paraphrase der Ideen Adam Müllers im Anschluss an die Arbeiten von Karl Mannheim sei. Doch Meyer verwechselt hier etwas: Arendts Schriften zum Problem der Assimilation der Juden in Deutschland sind von Mannheim beeinflusst, nicht aber ihre Texte zur politischen Romantik. Diese verdanken sich dem inzwischen gut erforschten Einfluss des englischen Gegenrevolutionärs Edmund Burke auf ihr Denken sowie einigen Gedanken Carl Schmitts.
Den dritten Punkt wischt Meyer mit einem Federstrich beiseite. Ich zeige, dass Arendt den Begriff der »Pluralität« erstmals in einem Vortrag aus dem Jahre 1954 verwendet und zwar an zentraler Stelle, in affirmativer Weise und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Heidegger. Es sei mir gestattet hier aus Platzgründen auf das Vorwort zur deutschen Ausgabe meines Buches zu verweisen, in dem ich die enge Verbindung zwischen Arendts Pluralitätsbegriff und Heideggers Auffassung von politischer Gemeinschaft ausführlich erläutere.
Der vierte Punkt betrifft ein Beispiel der nationalsozialistischen Quellen, auf die sich Arendt in ihrem Buch über den Totalitarismus aus dem Jahr 1951 stützt. In diesem Buch entlastet sie die intellektuelle Elite des Nationalsozialismus von jeglicher politischer Verantwortung und lobt neben Carl Schmitt auch den antisemitischen Historiker Walter Frank, der sich auf die »Judenfrage« spezialisiert hatte. Meyer verweist nur auf eine der Seiten meines Buches, die diesen Historiker erwähnt. Zweifellos hätte die fragliche Passage ausführlicher ausfallen können, doch Meyer ignoriert auch hier den Kern des Problems: Arendts erstaunliche Offenheit gegenüber Autoren, die aufgrund ihrer politischen Kompromittierung besonders problematisch sind. Ich bin in anderen Publikationen ausführlicher darauf eingegangen.
Es ist zwar verständlich, dass die in meinem Buch entwickelte Perspektive Thomas Meyer erzürnt. Leider aber wird durch die pauschale Disqualifikation die Chance vergeben, sich mit den eigentlichen Fragen sachlich auseinanderzusetzen. Er wirft mir »leeren Zorn« vor, projiziert in Wirklichkeit aber seinen eigenen Zorn über die kritische Analyse seiner Ikone auf mein Buch. Aus soziologischer Perspektive wäre es interessant, zu untersuchen, wie und weshalb Arendt zu einer derart unantastbaren Figur geworden ist, dass ihr Denken kaum mehr kritisch hinterfragt werden kann. Als im Zuge der Arbeiten von Hugo Ott und Victor Farías Heideggers Stern zu verblassen begann, wandten sich viele Autoren Hannah Arendt zu. Eine französische Heideggerianerin schrieb treffend, man habe in ihr »Heidegger ohne Heidegger« gefunden – also einige seiner grundlegenden Thesen, doch ohne seine politischen Kompromittierungen.
Es gibt freilich Aspekte in Arendts Denken, die über ihre Verbindung zu Heidegger hinausgehen, so etwa ihre Verteidigung der Amerikanischen Revolution, auf die ich in Zukunft ausführlicher eingehen werde, und die keineswegs ihrer aristokratischen Auffassung politischer Mündigkeit widerspricht.
Ihre Beziehung zu Heidegger, die ihr Denken maßgeblich beeinflusst hat, sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Es wäre zu wünschen, dass die mit einem kritischen Apparat versehene Ausgabe ihrer Collected Works, die aktuell besorgt wird, diese Diskussion vertieft, statt sie in apologetischer Absicht zu ignorieren. Es geht um die Grundlagen der politischen Theorie und nicht zuletzt auch um eine Verteidigung der philosophischen Tradition, von der Heidegger und Arendt glaubten, sie sei an ihr Ende gekommen.
Emmanuel Faye ist Philosoph und Professor für Philosophie der Neuzeit an der Universität Rouen.