28. Oktober 2023
Als Karl Marx und Friedrich Engels zusammenfanden, schrieben sie als Erstes eine Polemik gegen Vorstellungen von Fortschritt, die eine vermeintlich aufgeklärte Elite ins Zentrum stellen und die Masse der Bevölkerung als ein Hemmnis ansehen.
Marx und Engels in der Druckerei der »Neuen Rheinischen Zeitung«.
Wikimedia Commons / E. CapiroDie heilige Familie, die erste Gemeinschaftsarbeit von Karl Marx und Friedrich Engels, ist vor allem dafür bekannt, dass sie einen lustigen Untertitel hat: Kritik der kritischen Kritik. Lustig genug jedenfalls, um wiederholt in Bildschirm-Adaptionen der Anfänge des Marxismus für etwas Heiterkeit zu sorgen.
Ein Beispiel ist die Anime-Serie Ling Feng Zhe (zu Deutsch »Der Anführer«), die die Kommunistische Partei Chinas zu Ehren von Marx’ 200. Geburtstag produzieren ließ. In einer Szene bringt Marx, zu diesem Zeitpunkt im Brüsseler Exil, Engels zu seiner Fähre zurück nach London. Die beiden ungelenk 3D-animierten Figuren stehen wie mit den Sohlen angelötet in der Hafenszenerie und schmieden Pläne:
»Bauer und Consorten sind sowas von prätentiös. Sie denken, dass sie die Geschichte vorantreiben können, einfach, indem sie für das Selbstbewusstsein eintreten, indem sie immer weitere Kritiken gegen die vulgären Kritiken Deutschlands vorbringen«, sagt Marx, von einem dramatischen Klavier-Soundtrack begleitet. »Lass uns ein Buch schreiben, das diesen Haufen ordentlich auf die Schippe nimmt. Und nennen wir es ›Die heilige Familie‹.«
»Ja«, stimmt Engels zu, »und lass uns einen Untertitel hinzufügen: ›Kritik der kritischen Kritik‹.« Sie lachen herzlich. »Friedrich, du kennst mich so gut.« Es ist eine intellektuelle Liebesszene. »Karl, Ideen mit dir zu teilen – die Heiterkeit meines Geistes hat alle Freuden übertroffen.« Man kann den beiden Gründervätern des wissenschaftlichen Sozialismus nur wünschen, dass es wirklich so schön gewesen ist, wie in der romantischen Vorstellung derer, die dieses Skript verfasst haben.
Bei allem Kitsch ist die Heilige Familie damit aber gar nicht so schlecht charakterisiert. Das versteht sich keineswegs von selbst bei einem Text, der mit heißer Feder geschrieben und zugegebenermaßen etwas verworren ist. Engels selbst urteilt in einem Brief an Marx, das Buch sei für ihn als Eingeweihten zwar »zum Kranklachen«, würde allerdings »dem größeren Publikum unverständlich bleiben und auch nicht allgemein interessieren«. Insgesamt sei »das Ding zu groß«. Marx hatte nach Abreise seines Freundes noch derart viele Ausführungen hinzugefügt, dass Engels sich wunderte, überhaupt als Co-Autor des 1845 erschienenen Buches genannt zu werden.
Fünfzig Jahre später, im Jahr 1895, studiert Wladimir Lenin die Heilige Familie. In einer Notiz bemängelt er, das Buch strotze nur so vor den »unglaublichsten Kritteleien und Spötteleien«. Es bemerkt aber auch, die dargelegten Gedanken zum Verhältnis zwischen theoretischer Arbeit und populären Massen seien »äußerst wichtig«.
Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten – so der vollständige Titel – ist eine polemische Kampfschrift. Was einem beim Lesen durchaus entgehen kann, wenn man nicht gerade einen Marx-Anime zur Aufklärung angesehen hat: Marx und Engels verbindet mehr mit Bauer und Co., als es den Anschein macht. Als Marx an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studiert, ist Bauer für ihn eine Art Mentor. Und Engels, wenn auch die meiste Zeit remote aus England, gehört ebenfalls der losen Gruppierung der Junghegelianer an, zu deren Zentralfiguren Bauer zählt.
Zur Erklärung: Die »linken« Junghegelianer verstehen mit Hegel die Geschichte als einen Prozess der Verwirklichung von Freiheit. Doch anders als die »rechten« Althegelianer, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ende der Geschichte erreicht sehen, betrachten sie diesen Prozess als unabgeschlossen. Indem sie für demokratische Rechte und freie Meinungsäußerung gegen den Autoritarismus und die Zensur des preußischen Staates eintreten, bilden sie die progressivste intellektuelle Strömung ihrer Zeit in Deutschland.
An der Spaltung der Hegel-Schule ist Bauer selbst nicht ganz unbeteiligt. Der Name »Junghegelianer« ist ursprünglich keine Selbstbezeichnung, sondern geht zurück auf eine 1839 erschienene Denunziationsschrift des Konservativen Heinrich Leo, der sich an dem Atheismus stößt, der ihm »in jedem Kaffeehause« begegnet. Einige der Gemeinten wehren sich zutreffend, eine solche Gruppe existiere gar nicht. Bauer hingegen begrüßt das ihm und seinem Umfeld von außen angeheftete Etikett. Aus seiner Sicht geht die Denunziation im Gegenteil nicht weit genug.
»Die Quintessenz der Heiligen Familie ist, dass Bauer auf der Suche nach einem Ausweg aus einer verfahrenen politischen Lage selbst zu einem Agenten des Stillstands geworden ist.«
Bauer tut daraufhin etwas Sonderbares: Er verfasst seine eigene antihegelianische Denunziationsschrift, die 1841 anonym erscheint. Dabei gibt er sich als ein frommer Christ aus und verkündet, das gebildete Deutschland müsse sich zwischen der heiligen Lehre und dem gottlosen Hegelianismus entscheiden. Bauer will, dass sich die Hegel-Schule in Konservative und Progressive spaltet – und dass ihre linke Seite als die einzig rechtmäßige Erbin des Meisters angesehen wird.
Kurz darauf legt Bauer einen weiteren solchen Stunt hin – und diesmal unter Einsatz seiner akademischen Karriere –, als er sich 1841 mit einer religionskritischen Schrift auf einen theologischen Lehrstuhl bewirbt. Zur Begutachtung wird eine ganze Reihe von Professoren aus ganz Preußen herangezogen und auch in der Presse wird der »Fall Bruno Bauer« breit diskutiert. Und wieder eskaliert Bauer den Prozess gezielt, indem er den Publizisten Arnold Ruge anweist, fingierte Denunziationen gegen seine Person in verschiedenen Zeitungen zu platzieren.
Das Selbstexperiment soll herausstellen, ob der preußische Staat wirklich so aufgeklärt ist, wie er vorgibt. Am Ende entzieht der Kultusminister Friedrich Eichhorn Bauer die Lehrbefugnis. Damit ist der Beweis erbracht: Der Staat ist in der Tat ein Feind der Freiheit. Die Junghegelianer können nicht auf ihn als Bündnispartner setzen.
Bauers Verhalten ist zweifellos exzentrisch. Doch es handelt sich dabei nicht einfach um eine persönliche Eigenart, sondern um einen gezielten Aktivismus, der in seiner Theorie gesellschaftlichen Fortschritts begründet liegt.
Viele der Junghegelianer, die sich der Reihe nach ihrer Lehrfreiheit beraubt sehen, ziehen sich auf das Gebiet der Pressefreiheit zurück. In der kritischen Publizistik findet in den kommenden Jahren nicht nur Bauer seine hauptsächliche Wirkungsstätte, sondern unter anderem auch Marx, der noch bis 1841 den Plan verfolgte, in seinem Gefolge Professor zu werden.
Ab 1843 gibt Bauer die Allgemeine Literatur-Zeitung heraus, deren erste acht Ausgaben Marx und Engels den Zündstoff für ihre Polemik in der Heiligen Familie liefern. In einem seiner Leitartikel diagnostiziert er, die Geschichte stecke deshalb fest in Deutschland, weil die Kräfte des Bestehenden und die Kräfte des Fortschritts nicht klar voneinander getrennt seien. Diese Verbindung, die einerseits durch die Heuchelei der Herrschenden, andererseits durch die Selbsttäuschung der Progressiven aufrechterhalten würde, ließe sich jedoch dadurch auflösen, dass man sie radikaler, in Bauers Worten »reiner Kritik« aussetzt. Auf diese Weise herausgefordert würden sich nämlich die Geister scheiden und die wahren Freunde der Freiheit von den nur vermeintlichen absondern.
Um zu dieser »reinen«, kompromisslosen Kritik zu gelangen, müsse auch der Kritiker sich von Verbindungen freimachen, die ihn vermeintlich beschränken. Dass »die Kritik« in der Vergangenheit keine nennenswerten Früchte getragen habe, liegt aus Bauers Sicht nun vor allem daran, dass sie der Versuchung nachgegeben habe, zu »politisieren« und sich mit »der Masse« gemein zu machen. Paradoxerweise betrachtet er also nicht mangelnde öffentliche Unterstützung für »die Kritik« als das Problem, sondern deren vermeintlich übermäßige Popularität, die sie verfälscht habe.
Nicht nur hat Bauer den Staat aufgegeben, gleichzeitig weicht der demokratische Impuls des Junghegelianismus einer Geringschätzung für die arbeitende Bevölkerungsmehrheit. Für eine zukünftige Ordnung der Freiheit sei »die Masse« kein »brauchbares Baumaterial«, schreibt Bauer. Im Gegenteil sei sie »der natürliche Gegner der Theorie, die sich über die Tradition des vorigen Jahrhunderts zu erheben sucht«. Die wesentliche Konfliktlinie verläuft seiner Ansicht nach zwischen dem bremsenden Staat sowie der trägen Masse der Bevölkerung einerseits und andererseits einem kleinen Kreis der aufgeklärtesten Individuen, zu denen er vor allem sich selbst rechnet.
Die vermeintliche Geistlosigkeit »der Masse« erklärt Bauer daraus, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter auf ihre je besondere Tätigkeit beschränkt seien und so kein Bewusstsein für das gesellschaftliche Ganze ausbilden könnten. Dafür müsste man mit vielen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären in Berührung kommen, wie Menschen aus höheren, gebildeten Schichten es täten.
»Die Kritiker können und sollen Kritiker bleiben. Sie müssen nur einsehen, dass nicht ihre Befindlichkeiten als zumeist bürgerliche Intellektuelle, sondern die Interessen der arbeitenden Klasse im Zentrum stehen.«
Das ist nicht nur schrecklich reaktionär für jemanden, der sich selbst für den Progressivsten unter den Progressiven hält, auch macht es einen Widerspruch in Bauers Denken sichtbar: Denn gleichzeitig sieht er den Königsweg des Kritikers gerade darin, sich sauber aus den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären herauszulösen und auf die besondere Tätigkeit des Kritisierens zu beschränken. Somit ist es nach Bauers eigener Logik nur folgerichtig, wenn der Weg der »reinen Kritik« in genau die Borniertheit führt, die er »der Masse« unterstellt.
Marx und Engels halten dagegen, dass sich die wirkliche Arbeiterbewegung mit ihrer Isolation in Fabrikhallen und Elendsquartieren gerade nicht abfindet, sondern ihre eigene Kritik der Verhältnisse ausbildet und auf die Bühne der Politik drängt. Es sind die Tage der Chartisten – einer frühen Arbeiterbewegung in England, die dem Kapital erstmals nicht nur auf Unternehmensebene Zugeständnisse abzuringen versucht, sondern auch politische Forderungen erhebt: unter anderem, das Wahlrecht auf die Arbeiterklasse auszuweiten und den Arbeitstag gesetzlich auf maximal zehn Stunden zu begrenzen. Doch das Fortschritts-Meter der »reinen Kritik« schlägt bei dieser Art Forderungen nicht aus.
Weil Bauer weitgehend bei abstrakten Begriffen verbleibt, ist bei ihm schwer auszumachen, worin der von ihm angestrebte Fortschritt genau bestehen soll. Doch sein Redaktionskollege Julius Faucher, der über englische Tagespolitik schreibt, führt eindrücklich vor, was passiert, wenn die von allem weltlichen gereinigte Kritik wieder auf das politische Feld angewandt wird.
Und zwar diskutiert Faucher den damaligen Streit zwischen Konservativen und Liberalen für und wider die britischen Getreideeinfuhrzölle. Dabei stellt er richtig fest, dass diese zugleich einen Klassenkampf zwischen Großgrundbesitzern und Fabrikanten darstellt. Doch im Gegensatz zu Marx und Engels betrachtet er die Klassenkämpfe nicht als den Motor des historischen Fortschritts, sondern im Gegenteil als Antrieb für einen »Kreislauf«, der die Geschichte effektiv zum »Stehenbleiben« verdammt. Für Faucher führt allein reiner »Prinzipkampf« über den Status quo hinaus.
Konkret bedeutet das: Faucher prognostiziert für den Fall, dass die protektionistischen Korngesetze abgeschafft würden, dass »England ein einziges großes Werkhaus für die ganze Welt wird, mit sechzehn Stunden Arbeit und Erdtoffeln für seine Besitzlosen, und der unumschränktesten Macht über alle Genüsse für seine Besitzenden«. Er erkennt also, dass es sich beim Freihandel um eine Freiheit nur für die Wenigen handelt. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, sich enthusiastisch für Deregulierung auszusprechen. Er wünscht sich lediglich, man würde dem Marktliberalismus aus Prinzip und nicht aus Klasseninteresse nachgehen.
Die Arbeiterklasse als eine selbstständige Kraft kommt in Fauchers Darstellung derweil überhaupt nicht vor. Er schreibt sogar fälschlich, dass es in England für Arbeiter kein Assoziationsrecht gebe. Marx und Engels kommentieren bissig: »In der Wirklichkeit ist eine Verbindung der Arbeiter zur Erhöhung des Lohns in England erlaubt, in der Kritik aber ist sie verboten, denn die Masse hat erst bei der Kritik anzufragen, wenn sie sich etwas erlauben will.«
Um ihr Weltbild zu erhalten, müssen Bauer und Co. sowohl die Errungenschaften vorangegangener Kämpfe der Arbeiter als auch ihre Machtmittel für zukünftige Auseinandersetzungen unterschlagen. Sie sind darauf angewiesen, sie als »träge Masse« und als großes Hemmnis des Fortschritts darzustellen, um sich selbst und andere darüber hinwegzutäuschen, dass ihr Ansatz in sich selbst eine Sackgasse darstellt.
Ohne die Kontrastfolie der geistlosen Masse zerfällt der Schein des geistreichen Kritikers. Und um diesen Schein gründlichst zu zerstören, weisen Marx und Engels in der Heiligen Familie peinlich genau nach, dass die »kritische Kritik« durch eine Vielzahl von Fehlleistungen die von ihr behauptete »Dummheit der Masse« sowie die Irrtümer »massenhafter« Theoretiker in Wirklichkeit selbst erst erzeugt.
So nehmen Marx und Engels auch den Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon und den Philosophen Ludwig Feuerbach gegen missverständliche Darstellungen aus dem Hause Bauer in Schutz. Denn Proudhon hatte eine Arbeit begonnen, die sie selbst fortsetzen wollten, nämlich die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft vom sozialistischen Standpunkt aus zu kritisieren. Und Feuerbach hatte das Blendwerk der idealistischen Philosophie eingerissen, das den Eindruck erweckte, als würden Ideen Geschichte machen und nicht Menschen – eine offene Flanke auch von Bauer, der stets »die Kritik« als grammatisches und historisches Subjekt setzt.
Die Quintessenz der Heiligen Familie ist, dass Bauer auf der Suche nach einem Ausweg aus einer verfahrenen politischen Lage selbst zu einem Agenten des Stillstands geworden ist. Denn einerseits empfiehlt er fortschrittlichen Intellektuellen, sich von allen anderen politischen und sozialen Kräften zu isolieren und somit effektiv selbst in die Bedeutungslosigkeit zu befördern. Und andererseits spricht er in einer Zeit, in der sich der Unmut der arbeitenden Klasse über die kapitalistische Ordnung politisch zu artikulieren beginnt, der Masse der Bevölkerung ab, aktiv an der Geschichte partizipieren zu können.
Das vernichtende Urteil, das Marx und Engels über die Bauer-Schule fällen, wird unter Zeitgenossen allgemein zustimmend aufgenommen. Heute wird Bauer fast nur noch durch die Polemik der Heilige Familie erinnert – viele glauben sogar, er und seine Clique hätten sich ernsthaft selbst die »kritische Kritik« genannt.
Bauers ultimative Angst war, dass der Kritiker, der sich »der Masse« verschreibt, aufhören würde, Kritiker zu sein. Doch das Angebot, das der Marxismus kritischen Intellektuellen unterbreitet, beläuft sich nicht auf Selbstverleugnung. Die Kritiker können und sollen Kritiker bleiben. Sie müssen nur einsehen, dass nicht ihre Befindlichkeiten als zumeist bürgerliche Intellektuelle, sondern die Interessen der arbeitenden Klasse im Zentrum stehen.
»So wie die Junghegelianer einst forderten, der Staat solle ›auf die Wissenschaft hören‹ und ihren Atheismus zur offiziellen Doktrin machen, so ersuchen ab 2018 politisch aktivierte Jugendliche ihre Regierungen darum, der Klimawissenschaft Folge zu leisten.«
Und die Geschichte gibt Marx und Engels Recht: Arbeiterinnen und Arbeiter erringen in den folgenden Jahrzehnten immer größere Freiheit von der Willkür ihrer Bosse. Bauers Rechnung hingegen ist lediglich in dem ironischen Sinne aufgegangen, dass er mit seiner rücksichtslos radikalen Kritik in der Tat geholfen hat, die wirklich progressiven Strömungen von den nur vermeintlichen zu scheiden – bloß dass er sich, für ihn überraschend, auf der Seite des Stillstands wiederfindet.
Nachdem Bauer erst Konservative geißelte, dann strategisch in die Rolle eines Konservativen schlüpfte, dann praktisch alle anderen zu Konservativen erklärte, wird er schließlich doch selbst zu einem überzeugten Konservativen. Während Marx und Engels in beispielloser Weise als Theoretiker im Dienste der Arbeiterbewegung historisch wirkmächtig werden, verschwindet Bauer in der Bedeutungslosigkeit und pflanzt auf einem Feld in Rixdorf bei Berlin Gemüse an.
Der Fall Marx und Engels gegen Bauer und Co. steht aber nicht einfach nur für sich. Vielmehr zeigt er beispielhaft die zwei möglichen Konsequenzen auf, die Progressive ziehen können, wenn sie von der Politik des Staates enttäuscht werden: Entweder sie betrachten die Masse der Menschen als ein träges Element, das in Komplizenschaft mit dem bremsenden Staat den Fortschritt verhindert. Oder sie begreifen die arbeitende Bevölkerung als eine tätige Kraft, die die Mächtigen zwingen und die Geschichte wirklich vorantreiben kann.
Heute wiederholt sich dieses Muster besonders deutlich anhand der Klimabewegung. So wie die Junghegelianer einst forderten, der Staat solle »auf die Wissenschaft hören« und ihren Atheismus zur offiziellen Doktrin machen, so ersuchen ab 2018 politisch aktivierte Jugendliche ihre Regierungen darum, der Klimawissenschaft Folge zu leisten – und werden ebenso enttäuscht.
Wie Bruno Bauer flüchtet sich ein Teil der Klimabewegung daraufhin in verzweifelten Aktivismus, offenbar in dem Glauben, sich bei staatlichen Behörden und arbeitender Bevölkerung gleichermaßen für den politischen Stillstand revanchieren zu müssen. Und wieder wird Fortschritt nur insofern erzielt, als man sich fortschreitend isoliert und in der immer größeren Isolation immer mehr bestätigt fühlt.
Doch auch hier gibt es eine andere Option. Sie besteht darin, die eigenen Befindlichkeiten als zumeist bürgerliche Aktivistinnen und Aktivisten hintanzustellen und eine neue Fortschrittsvision zu formulieren, die weniger auf hehre Ideale setzt als auf profane Interessen – die Interessen der großen Masse der arbeitenden Menschen, die allein Fortschritt von solchem Umfang bewirken kann, wie er nötig ist. Es ist eine Wahl zwischen Weltgeschichte und Gemüsegarten.
Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.