08. Oktober 2024
Marx und Engels betonten, wie wichtig es ist, die Bauernschaft für die Revolution zu gewinnen, um die Landwirtschaft zu transformieren. Der Stalinismus ignorierte diese Forderung und setzte die Kollektivierung von Land mit Gewalt durch. Das Ergebnis war katastrophal.
Kolchosbäuerinnen bei der Hanfernte in der Sowjetunion, 1964.
Im Manifest der Kommunistischen Partei hatten Karl Marx und Friedrich Engels nicht sonderlich viel zum Thema Landwirtschaft zu sagen – und das, was sie sagten, führte nicht selten zu Verwirrung. Ein Beispiel aus den ersten Seiten des Manifests: »Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.«
Wie Hal Draper erklärt, sorgte das Wort Idiotismus nicht nur, aber vor allem bei englischsprachigen Lesern für Verwirrung. »Im 19. Jahrhundert behielt das Deutsche noch die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes idiotes bei: eine Privatperson, die sich von öffentlichen (kommunalen) Belangen zurückzieht, unpolitisch ist im ursprünglichen Sinne der Isolation von einer größeren Gemeinschaft.«
In dieser ursprünglichen Bedeutung des Begriffs, so Draper, war das, wovor die Landbevölkerung nach Marx und Engels also »gerettet« werden musste, kein Zustand erbärmlicher Dummheit, sondern vielmehr die »privatisierte Absonderung in Form eines von der größeren Gesellschaft isolierten Lebensstils; die klassische Stasis des bäuerlichen Lebens«.
Es sei dahingestellt, ob Marx und Engels damit eine passende Beschreibung der Lebenssituation der Bäuerinnen und Bauern lieferten – als Beleidigung war der Satz ganz bestimmt nicht gemeint.
Gegen Ende des ersten Teils des Manifests bezeichnen die beiden die Bauernschaft dann als eine der sozialen Gruppen, die angesichts der kapitalistischen Entwicklung zu verschwinden drohen: »Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie […] Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen.«
Marx legte großen Wert auf den abschließenden Teil dieser Passage. Als sich die beiden Fraktionen der deutschen sozialistischen Bewegung 1875 auf der Grundlage des Gothaer Programms vereinigten, kritisierte er vehement einen Satz in diesem Programm: »Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.« Er erinnerte seine deutschen Genossinnen und Genossen an die Feststellung im Manifest, dass Bauern und Angehörige der unteren Mittelschicht mit Blick »auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat« revolutionär werden können. Er fragte daher: »Hat man bei den letzten Wahlen Handwerkern, kleinen Industriellen etc. und Bauern zugerufen: Uns gegenüber bildet ihr mit Bourgeois und Feudalen nur eine reaktionäre Masse?«
Im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte (seinen Reflexionen über das Wechselspiel von Revolution und Konterrevolution in Frankreich von 1848 bis 1851) lieferte Marx eine weitere wunderbare Aussage, die da lautete: »So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet.« Der Satz ist Teil einer längeren Erörterung der französischen Landbevölkerung, die die überwiegende Mehrheit der Menschen in Frankreich damals ausmachte. In England, dem Vorreiter des industriellen Kapitalismus, lebten 1850 schon zwei Fünftel der Bevölkerung in Städten mit mindestens 5.000 Einwohnern; in Frankreich waren es dagegen weniger als 15 Prozent.
Marx war der Ansicht, dass die soziale Lage der französischen Bauernschaft, die im Zuge der Revolution ein halbes Jahrhundert zuvor zu Kleinbauern geworden war, sie daran hinderte, ein Bewusstsein für eine kollektive Identität zu entwickeln: »Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern.«
Für Marx erklärte diese soziale Konstellation den erdrutschartigen Sieg von Napoleon III., dem Neffen des post-revolutionären Kaisers, bei den Präsidentschaftswahlen 1848. Allerdings relativierte er seine Sicht auf die französische Bauernschaft als eine Klasse, die grundsätzlich nicht zu unabhängigem politischen Handeln fähig sei: »Die dreijährige harte Herrschaft der parlamentarischen Republik hatte einen Teil der französischen Bauern von der napoleonischen Illusion befreit und, wenn auch nur oberflächlich, revolutioniert; aber die Bourgeoisie warf sie gewaltsam zurück, sooft sie sich in Bewegung setzten.«
Im Achtzehnten Brumaire werden die wirtschaftlichen Zwänge beschrieben, die Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Bauernschaft einwirkten, als »an die Stelle des Feudalen der städtische Wucherer, an die Stelle des aristokratischen Grundeigentums das bürgerliche Kapital« trat. Nach Marx bedeutete dies, dass die Interessen der Bauernschaft »also nicht mehr, wie unter Napoleon, im Einklange, sondern im Gegensatze mit den Interessen der Bourgeoisie, mit dem Kapital« standen. Die französischen Kleinbauern »finden also ihren natürlichen Verbündeten und Führer in dem städtischen Proletariat, dessen Aufgabe der Umsturz der bürgerlichen Ordnung ist«.
Wenn Marx so von den Klassenverhältnissen im ländlichen Frankreich dachte, das nach der Revolution von 1789 eine umfassende Umverteilung des Bodens erlebt hatte – was war dann mit den Ländern, in denen die Großgrundbesitzer noch immer das Sagen hatten? Tatsächlich äußerten sich Marx und Engels zur Landfrage in genau den beiden nationalen Bewegungen, für die sie ohnehin große Sympathie hegten: Polen und Irland.
In einer Rede im Februar 1848 zum Gedenken an den Krakauer Aufstand von 1846 lobte Marx die polnischen Revolutionsführer. Diese hätten erkannt, dass eine »polnische Demokratie unmöglich sei ohne Abschaffung der Feudalrechte, ohne eine Agrarbewegung, die die zinspflichtigen Bauern in freie Eigentümer, in moderne Eigentümer verwandeln würde«. Etwas später äußerte sich Engels während einer Debatte zum Thema Polen in der Frankfurter Nationalversammlung ähnlich: »Die großen ackerbauenden Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meere können sich aus der patriarchalisch-feudalen Barbarei retten nur durch eine agrarische Revolution, die die leibeigenen oder fronpflichtigen Bauern in freie Grundbesitzer verwandelt, eine Revolution, die ganz dieselbe ist wie die französische von 1789 auf dem platten Lande.«
1870 schrieb Marx über die dringende Notwendigkeit einer Agrarrevolution in Irland, wo »die Landfrage bis jetzt die ausschließliche Form der sozialen Frage« sei. Er glaubte, der britischen Landaristokratie könne in Irland ein deutlich schwererer Schlag versetzt werden als in ihrem Heimatland, da der Besitz von Land auf der Nachbarinsel eine »Existenzfrage, eine Frage von Leben oder Tod für die immense Majorität des irischen Volks ist, weil sie zugleich unzertrennlich von der nationalen Frage ist«.
»Engels ging davon aus, dass die bäuerliche Landwirtschaft angesichts der kapitalistischen Entwicklung dem Untergang geweiht sei: Großbetriebe würden effizienter arbeiten und die vorhandene Technologie besser nutzen.«
Die »Agrar-« oder »Landrevolution«, die Marx und Engels für Polen und Irland für unabdingbar hielten, würde keine sozialistische sein. Dabei hoffte Marx freilich, dass die dräuende irische Unabhängigkeit und ihre Auswirkungen auf die Aristokratie einen Umsturz der sozialen Ordnung in Großbritannien herbeiführen würden. Welche Rolle maßen Marx und Engels also den Bauern beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu? Als der russische Anarchist Michail Bakunin Marx vorwarf, der Bauernschaft feindlich gesinnt zu sein, antwortete dieser in einer Reihe von Anmerkungen zu Bakunins Staatlichkeit und Anarchie 1874: »Wo der Bauer massenweise als Privateigentümer existiert, wo er sogar eine mehr oder minder beträchtliche Majorität bildet, wie in allen Staaten des westeuropäischen Kontinents, wo er nicht verschwunden und durch Agrikultur-Taglöhner ersetzt ist, wie in England, treten folgende Fälle ein: entweder er verhindert, macht scheitern jede Arbeiterrevolution, wie er das bisher in Frankreich getan hat; oder das Proletariat (denn der besitzende Bauer gehört nicht zum Proletariat, und da, wo er selbst seiner Lage nach dazu gehört, glaubt er, nicht dazu zu gehören) muß als Regierung Maßregeln ergreifen, wodurch der Bauer seine Lage unmittelbar verbessert findet, die ihn also für die Revolution gewinnen; Maßregeln, die aber im Keim den Übergang aus dem Privateigentum am Boden in Kollektiveigentum erleichtern, so daß der Bauer von selbst ökonomisch dazu kommt.«
Marx betonte, es sei wichtig, »dem Bauern nicht vor den Kopf zu stoßen«, indem beispielsweise »die Abschaffung des Erbrechts proklamiert [würde] oder die Abschaffung seines Eigentums«. Derartige Maßnahmen seien »nur möglich, wo der kapitalistische Pächter die Bauern verdrängt hat und der wirkliche Landbebauer ebensogut Proletarier, Lohnarbeiter ist wie der städtische Arbeiter«. Während er also vor Maßnahmen warnte, den Bauern Land zu entziehen, das sie bereits besaßen, lehnte Marx ebenso ab, »daß die Parzelle vergrößert wird, einfach durch Annexation der größern Güter an die Bauern, wie im Bakuninschen Revolutionsfeldzug«.
1894 zeigte sich auch Engels sehr daran interessiert, die Landfrage als ein Thema für die aufkommenden sozialistischen Bewegungen in Frankreich und Deutschland zu behandeln. Wie Marx betonte er, wie wichtig es sei, im Umgang mit den Kleinbauern keinen Zwang auszuüben. Den stereotypen Bauern definierte er als den Eigentümer »eines Stückchens Land, nicht größer, als er mit seiner eignen Familie in der Regel bebauen kann, und nicht kleiner, als was die Familie ernährt«. Dementsprechend argumentierte Engels, »dass, wenn wir im Besitz der Staatsmacht sind, wir nicht daran denken können, die Kleinbauern gewaltsam zu expropriieren (einerlei, ob mit oder ohne Entschädigung), wie wir dies mit den Großgrundbesitzern zu tun genötigt sind. Unsre Aufgabe gegenüber dem Kleinbauer besteht zunächst darin, seinen Privatbetrieb und Privatbesitz in einen genossenschaftlichen überzuleiten, nicht mit Gewalt, sondern durch Beispiel und Darbietung von gesellschaftlicher Hilfe zu diesem Zweck.«
Engels ging davon aus, dass die bäuerliche Landwirtschaft angesichts der kapitalistischen Entwicklung dem Untergang geweiht sei: Großbetriebe würden effizienter arbeiten und die vorhandene Technologie besser nutzen. Die sozialistische Bewegung müsse der Bauernschaft daher die Möglichkeit bieten, »den Großbetrieb selbst einzuführen, nicht für kapitalistische, sondern für ihre eigne gemeinsame Rechnung«, anstatt die derzeitige Form des Landbesitzes beizubehalten. Seiner Ansicht nach war es eine »absolute Gewißheit, daß die kapitalistische Großproduktion über einen machtlosen veralteten Kleinbetrieb hinweggehn wird wie ein Eisenbahnzug über eine Schubkarre«.
Marx und Engels äußerten sich dazu in kurzen polemischen Artikeln oder in Werken, die sich in erster Linie mit anderen Themen befassten. Erst Karl Kautsky widmete dem Thema mit Die Agrarfrage 1899 ein ganzes Buch. In seinen Ausführungen über die Entwicklung der Landwirtschaft im Kapitalismus äußerte Kautsky Zweifel an der Vorstellung, dass die kleinbäuerliche Produktion zwangsläufig dem Untergang geweiht sei. Denn ab einem gewissen Punkt »wachsen die Vortheile des Großbetriebs in geringerem Maße an die Nachtheile der Entfernung, so daß von diesem Punkte an jede weitere Ausdehnung der Gutsfläche ihre Rentabilität vermindert«. Obwohl er nach wie vor der Meinung war, dass große landwirtschaftliche Betriebe in der Regel die Technologie besser nutzen könnten, zeichnete er ein Bild der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Klein- und Großbetrieben, wobei letztere auf erstere als Quelle der Arbeitskraft angewiesen sind.
»Diese Agrarrevolution zerstörte die wirtschaftliche Grundlage der alten herrschenden Klasse und brachte der neuen Regierung zumindest vorübergehend die Unterstützung der Bauernschaft ein.«
Als 1988 die erste englische Übersetzung von Die Agrarfrage erschien, lobten die Soziologen Hamza Alavi und Teodor Shanin, Kautsky habe erkannt, auf welche Weise das kapitalistische System Formen der bäuerlichen Produktion, die ihm lange vorausgingen, einbeziehen konnte, »auch wenn er von der Zweideutigkeit eines solchen Phänomens beunruhigt zu sein schien, das Teil des Kapitalismus war, ohne vollständig kapitalistisch zu sein«. Langfristig habe Kautsky sich jedoch in Bezug auf die Vorteile der großbäuerlichen Produktion geirrt. Aufgrund späterer Entwicklungen sei es inzwischen nicht mehr notwendig, ganze Heerscharen von Landarbeitern einzusetzen, um die Vorteile der modernen Agrartechnik zu nutzen: »Ein Familienbetrieb ist nicht unbedingt im Vorteil gegenüber einem Großbetrieb, aber er ist ebenso nicht von der Nutzung neuer Technologien ausgeschlossen.«
Kautskys theoretische Analyse der Landwirtschaft war etwas subtiler als die politischen Schlussfolgerungen, die er daraus zog. Wie Engels lehnte er es ab, an die Kleinbauern mit dem Versprechen zu appellieren, ihre gesellschaftliche Position und Situation zu erhalten. Demnach könne »nichts gefährlicher und grausamer sein, als in ihnen Illusionen über die Zukunft des bäuerlichen Kleinbetriebs zu erwecken«. Kautsky betonte, die Sozialdemokratie würde im Kern immer eine proletarische sowie städtische Bewegung sein, »eine Partei des ökonomischen Fortschritts«, die lediglich danach streben könne, die Neutralität der Bauern ihr gegenüber zu erlangen – nicht aber ihre aktive Unterstützung im Kampf gegen den Kapitalismus.
Mit Blick auf die Zeit nach der Machtübernahme folgte er Marx und Engels und betonte, eine sozialdemokratische oder sozialistische Partei müsse auch auf dem Lande durch Zustimmung regieren: »Angesichts des Interesses, das ein sozialistisches Regime an dem ungestörten Fortgang der landwirthschaftlichen Produktion haben muß, angesichts der großen sozialen Wichtigkeit, welche die bäuerliche Bevölkerung dann erlangen wird, ist es geradezu undenkbar, daß man die Methode gewaltsamer Enteignung wählen wird, um der Bauernschaft die Vortheile vollkommenerer Betriebsweisen beizubringen. Sollte es aber dann noch Zweige der Landwirthschaft oder Gegenden geben, in denen der Kleinbetrieb vortheilhafter als der Großbetrieb, so liegt nicht der mindeste Grund vor, sie einer Schablone zu Liebe dem Großbetrieb zuzuführen.«
Beim Entwurf dieser politischen Vision hatte Kautsky offensichtlich Länder wie Deutschland im Sinn: In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Landwirtschaft in der deutschen Wirtschaft ab, und das Land entwickelte sich zu einer überwiegend urban-industriellen Gesellschaft. Als Otto von Bismarck 1871 das Deutsche Reich aus der Taufe hob, lebten rund zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land; 1910 waren es nur noch 40 Prozent.
In Russland hingegen war die große Mehrheit der Bevölkerung immer noch auf dem Land zu finden, trotz des industriellen Wachstums in Städten wie Sankt Petersburg und Moskau. Als 1897 die erste gesamtrussische Volkszählung durchgeführt wurde, wohnten weniger als 14 Prozent der Untertanen des Zaren in Städten und Ortschaften. Die Bauern des Russischen Reiches, von denen die meisten Getreidebauern waren, waren erst 1861 aus der Leibeigenschaft befreit worden.
In seinen späteren Jahren erörterte Marx die Idee, dass die ländliche Kommune (Mir) die Grundlage für einen Übergang zum Sozialismus in Russland bilden könnte, ohne dass zuvor eine Phase der kapitalistischen Entwicklung auf dem Lande eintreten müsse. Nach Marx könnte dies möglich sein, solange eine russische Revolution mit der Revolution im übrigen Europa zusammenfiele. Seine russischen Anhänger und Philosophen wie beispielsweise Georgi Plechanow betonten hingegen, Russland müsse sowohl in der Stadt als auch auf dem Land vollständig kapitalistisch werden, bevor der Übergang zum Sozialismus auf der Tagesordnung stehen könne. Auch die beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokratie, die Bolschewiki und die Menschewiki, betrachteten das wachsende Industrieproletariat als die wichtigste revolutionäre Kraft in der russischen Gesellschaft. Im Gegensatz dazu hatten die sogenannten Sozialrevolutionäre, die aus einer Volksbewegung des späten 19. Jahrhunderts hervorgegangen waren, nach wie vor eine stärkere Basis in der Bauernschaft.
Die Revolutionen von 1905 und 1917 waren die größten Unruhen im russischen Hinterland seit dem von Jemeljan Pugatschow angeführten Aufstand im 18. Jahrhundert. Im Gegensatz zu Pugatschows Rebellion verband sich nun aber der ländliche Widerstand gegen Großgrundbesitzer und den Romanow-Staat mit einer städtischen revolutionären Bewegung. Es war diese Kombination sozialer Kräfte, die das zaristische Regime 1917 zu Fall brachte.
»Die von Stalin mit harter Hand durchgezogene Kollektivierung verfestigte die Feindseligkeit der Bauernschaft gegenüber dem Sowjetstaat und seinen Kolchosen.«
Als die provisorische Regierung die Landreform hinauszögerte, verprellte sie damit die Bauernschaft und ebnete den Weg für die zweite Revolution im Oktober diesen Jahres. Die Bolschewiki hatten offenbar gelernt und wollten nicht denselben Fehler begehen. Sie handelten umgehend und setzten die Umverteilung von Land schnell um: Bis 1919 waren rund 96,8 Prozent des gesamten landwirtschaftlichen Bodens an die Bauern übertragen worden. Etwa 86 Prozent, so der Historiker Ronald Grigor Suny, besaßen mittelgroße Grundstücke von etwa vier bis acht Hektar. Weniger als sechs Prozent besaßen kleinere Parzellen, und nur zwei Prozent größere. Diese Agrarrevolution zerstörte die wirtschaftliche Grundlage der alten herrschenden Klasse und brachte der neuen Regierung zumindest vorübergehend die Unterstützung der Bauernschaft ein.
Diese Beliebtheit der Bolschewiken hielt allerdings nicht lange an. Im Mai 1918 führte die sowjetische Regierung die sogenannte »Versorgungsdiktatur« ein, nach der die landwirtschaftlichen Überschüsse, die über ein bestimmtes Niveau hinausgingen, sofort konfisziert wurden. Theoretisch sollten die Bäuerinnen und Bauern in Form von Geld, Waren oder Krediten entschädigt werden; in der Praxis kam eine solche Entschädigung jedoch selten zustande. Die Bauernschaft reagierte darauf, indem sie ihr Getreide versteckte – oder zu den Waffen griff. Die Bolschewiki versuchten, die armen Bauern gegen die reicheren, die sogenannten Kulaken, aufzuwiegeln. Ihr Erfolg blieb dabei aber überschaubar.
Als sie Ende des Jahres 1917 die Macht übernahmen, bildeten die Bolschewiki zunächst eine Koalition mit dem linken Flügel der Sozialrevolutionäre. Dieser verließ jedoch bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1918 die Regierung. Die Sozialrevolutionäre lehnten den Vertrag von Brest-Litowsk ab, mit dem der Krieg gegen das deutsche Kaiserreich beendet wurde. Hätten die Bolschewiki es vermocht, ihr Bündnis mit dieser Partei aufrechtzuerhalten, die stärker auf dem Lande verwurzelt war, hätte dies vielleicht dazu beigetragen, spätere Zwangsmaßnahmen zu verhindern, die sich sehr schnell als kontraproduktiv erwiesen.
Wie Steve Smith feststellt, waren dem, was unter den gegebenen Umständen möglich war, ohnehin harte Grenzen gesetzt: »Selbst wenn die Bolschewiki den Bauern kein einziges Körnchen Getreide weggenommen hätten, hätten diese kaum einen Anreiz gehabt, mehr zu produzieren, als für den Lebensunterhalt notwendig war. Schließlich gab es keine [neuen Produktionsmittel] zu kaufen und das Geld war fast wertlos geworden. Selbst in Sibirien, wo Koltschaks [konterrevolutionäres] Regime über weitaus größere Überschüsse verfügte und wo es keine Zwangsrequisitionen der Ernten gab, veranlassten der Mangel an Produktionsmitteln, die Inflation und das Chaos im Geldsystem die Bauern dazu, Getreide zurückzuhalten und ihre Anbauflächen zu verkleinern.«
Smith stellt fest, dass die Bolschewiki trotz ihrer Feindseligkeit gegenüber der Bauernschaft im Vergleich zu ihren weißen Gegnern, die die Landverteilung von 1917 rückgängig machen wollten, »sicherlich als das kleinere Übel« angesehen wurden: »Tatsächlich war die Landbevölkerung gewillt, sich hinter die Bolschewiki zu stellen, wann immer eine Übernahme durch die Weißen drohte. Das bedeutete auch, dass die endemischen Unruhen auf dem Land keine ernsthafte Bedrohung für die Macht der Bolschewiki darstellten, solange der Bürgerkrieg andauerte.«
Nach der Niederlage der Weißen sahen sich die Bolschewiki hingegen mit mehr als fünfzig größeren Bauernaufständen von der Ukraine bis nach Sibirien konfrontiert. Sie schlugen die Aufstände gewaltsam nieder; doch die Unruhen auf dem Lande waren einer der Hauptfaktoren, die 1921 zur Neuen Ökonomischen Politik führten. Lenin verteidigte die Politik der Getreide-Beschlagnahmung als eine bedauerliche Notwendigkeit, »die uns durch extreme Not, Ruin und Krieg aufgezwungen wurde«. Gleichzeitig betonte er aber, dass ein neuer Ansatz erforderlich sei, wenn sich das Sowjetsystem konsolidieren sollte: »Wir sind noch immer so ruiniert, so zu Boden gedrückt durch die Last des Krieges (der gestern gewesen ist und, infolge der Gier und Wut der Kapitalisten, morgen wieder ausbrechen kann), daß wir nicht imstande sind, dem Bauern für das ganze von uns benötigte Getreide Industrieerzeugnisse zu liefern. Da wir das wissen, führen wir die Naturalsteuer ein, das heißt, die (für die Armee und die Arbeiter) erforderliche Mindestmenge an Getreide nehmen wir als Steuer, während wir den Rest gegen Industrieerzeugnisse tauschen werden.«
»Stalins landwirtschaftliche Experimente übernahmen aus dem klassischen Marxismus die Annahme, dass großflächige Landwirtschaft notwendigerweise effizienter sei, missachteten aber alle Warnungen von Marx, Engels und Kautsky, dass man die Bauernschaft für sich gewinnen müsse, statt auf rohe Gewalt zu setzen.«
Im Großen und Ganzen war die sowjetische Agrarpolitik bis Ende der 1920er Jahre von diesem schrittweisen Vorgehen geprägt, bis Josef Stalin nach dem Sieg über seine Gegner innerhalb der bolschewistischen Partei einen drastischen Kurswechsel vornahm. Die von ihm mit harter Hand durchgezogene Kollektivierung führte zu Hungersnöten in der Ukraine und Kasachstan, die Millionen Menschen das Leben kosteten. Sie drückte die landwirtschaftliche Produktion und den Lebensstandard auf dem Land eine ganze Generation lang nach unten. Und: Sie verfestigte die Feindseligkeit der Bauernschaft gegenüber dem Sowjetstaat und seinen Kolchosen. Trotzdem propagierte Stalin dieses katastrophale Modell gegenüber der internationalen kommunistischen Bewegung als den einzig gangbaren Weg zur Transformation der Landwirtschaft. In Osteuropa begannen die von der Sowjetunion unterstützten Regime ab den späten 1940er Jahren ebenfalls mit Zwangskollektivierungen, von denen viele später wieder aufgegeben wurden.
In China wiederum war zur Zeit der Revolution 1949 der Anteil der Landbevölkerung sogar noch größer als drei Jahrzehnte zuvor in Russland: weniger als zehn Prozent der Bevölkerung lebten in Städten. Die chinesischen Kommunisten kamen an die Macht, indem sie eine Bauernarmee aufstellten, um ihre nationalistischen Gegner zu bekämpfen. Dabei war das Versprechen einer Umverteilung des Landes das wichtigste Lockmittel. Nach der Revolution hielten sie ihr Versprechen, doch kaum war das Landreformprogramm abgeschlossen, drängte Mao Zedong auf eine rasante Industrialisierung, die durch die radikale Ausbeutung des ländlichen Raums finanziert werden sollte. Das Ergebnis war erneut eine katastrophale Hungersnot. Nach Maos Tod wandte sich China vom sowjetisch inspirierten Landwirtschaftsmodell ab.
Die von Diktator Stalin und seinen Jüngern eingeleiteten landwirtschaftlichen Experimente sind ein schreckliches Beispiel von »das Kind mit dem Bade ausschütten«. Sie übernahmen aus dem klassischen Marxismus die Annahme, dass großflächige Landwirtschaft notwendigerweise effizienter sei, missachteten dabei aber alle oben aufgeführten Warnungen von Marx, Engels und Kautsky, dass man die Bauernschaft für sich und die Sache gewinnen müsse, statt auf rohe Gewalt zu setzen.
Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Balance zwischen Stadt- und Landbevölkerung auf der ganzen Welt grundlegend verändert. Heute leben 55 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Gebieten.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass diese Zahl bis 2050 auf 68 Prozent ansteigen wird. Die Verstädterung ist nicht mehr ausschließlich auf Regionen wie Europa und Nordamerika beschränkt: zwei Drittel der chinesischen Bevölkerung lebt inzwischen in Städten, ebenso wie fast 90 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer. Auch in Afrika wird es im Jahr 2033 voraussichtlich mehr Stadt- als Landbewohner geben.
Bauernrevolutionen, wie es sie im 20. Jahrhundert in China oder Vietnam gab, sind heute nicht mehr an der Tagesordnung, aber das bedeutet nicht, dass die Kämpfe auf und um das Land ihre politische Bedeutung verloren haben. Seit der Jahrtausendwende haben die Gewerkschaft der Kokabauern in Bolivien, die brasilianische Landlosenbewegung oder die indischen Bäuerinnen und Bauern, die sich gegen die neoliberalen Gesetze von Premier Narendra Modi gewehrt haben, die ungebrochene Vitalität sozialer Mobilisierungen auf dem Land unter Beweis gestellt.
Wenn es eine zeitgenössische Lehre aus der Geschichte des marxistischen Denkens über die Landfrage gibt, dann ist es sicherlich diese: Man sollte die Geschehnisse auf dem Land nüchtern beobachten und genau studieren, anstatt zu versuchen, ihnen irgendwelche abstrakte Formeln aufzudrängen. Vor allem ist es wichtig, den Forderungen und Bedürfnissen der Menschen, die tatsächlich dort leben, aufmerksam zuzuhören.
Daniel Finn ist Redakteur bei Jacobin.