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25.05.2022

Marxismus ohne Bullshit

Der Philosoph G. A. Cohen hat den Marxismus genauso kritisch hinterfragt, wie jede andere Ideologie auch. Wer wissen will, wie ein undogmatischer, aber analytisch präziser Marxismus aussieht, sollte seine Bücher lesen.

G.A. Cohen bezeichnete den analytischen Marxismus selbst einmal als »Non-Bullshit Marxism«.

G.A. Cohen bezeichnete den analytischen Marxismus selbst einmal als »Non-Bullshit Marxism«.

Philosophy Overdose / Youtube.

Von Ben Burgis

Übersetzung von Jonas Thiel

Der 2009 verstorbene G. A. Cohen vereinte viele Eigenschaften, die nicht unbedingt immer gemeinsam vorzufinden sind. Er war der Sohn einer kommunistischen Arbeiterfamilie aus Kanada, der seine anerzogene Verbundenheit mit der Sowjetunion zwar ablegte, aber nie seine sozialistischen Überzeugungen aufgab. Er war ein in Oxford ausgebildeter Philosophieprofessor, der zu einem der wichtigsten Vorreiter des »Analytischen Marxismus« wurde. Und er hatte Humor. Vor einigen Jahren zeigte ich dem Journalisten Michael Brooks folgendes Video, in dem Cohen seinen Mentor, den Philosophen Gilbert Ryle parodiert. Michael antwortete darauf, er sei wütend, dass Cohen nicht mehr unter den Lebenden wandelt, weil er ihn gerne in die Michael Brooks Show eingeladen hätte:

In der Einleitung seines brillanten Buchs Karl Marx’s Theory of History: A Defence, das im Jahr 2000 nach dessen Ersterscheinung 1979 in einer neuen Auflage erschien, erklärt Cohen mit einer selbstironischen Anekdote, was den analytischen Marxismus von anderen Strömungen unterscheidet. Als er gegen Ende der 1960er einen Aufsatz über den jungen Karl Marx schrieb, behauptete Cohen – im Kontext eines Kommentars über eine Passage der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahr 1844, die sich mit der Macht des Geldes befasst –, dass aus Marx’ Sicht »die Frau eines reichen Kapitalisten ihn nicht wegen seines Geldes liebt«, sondern dass es das Geld selbst sei, welches sie liebt. Der Amerikanische Philosoph Isaac Levi wollte daraufhin von Cohen wissen, »was genau damit gemeint war und / oder wie man herausfinden könne, ob das stimmt« und »worin genau der Unterschied dazwischen bestehe, jemanden nur für sein Geld zu lieben und dieses Geld selbst zu lieben?«

Im ersten Moment empfand Cohen diese Befragung als »feindselig und nicht hilfreich«. Levi hatte jedoch noch eine weitere Bemerkung gemacht, die Cohen nachhaltig beeinflusste. Er habe nichts dagegen, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, solange er wüsste, welche »Grundregeln« gelten.

»Dieser Kommentar traf mich hart und sank tief ein. Im Nachgang von Levis Rüge hörte ich auf, (zumindest teilweise) wie ein Dichter zu schreiben, der alles zu Papier bringt, was sich gut anhört, und der seine Verse nicht vor anderen rechtfertigen muss (entweder treffen sie beim Leser auf Resonanz oder nicht). Stattdessen versuchte ich mir beim Schreiben folgende Frage zu stellen: Was genau trägt dieser Satz zur Exposition oder dem Argument bei und ist er wahr? Man wird analytisch, wenn man diese (oft schmerzhafte Art) der Selbstkritik praktiziert.«

Die Resultate dieser Lektion sind überall in Karl Marx’s Theory of History zu finden. Cohen behandelt Marx nicht als Propheten, sondern wie jeden anderen Philosophen – er akzeptiert die überzeugenden Ideen und verwirft den Rest. Cohen schreibt insofern wie ein Marxist, als dass er Marx’ Kernideen über die Geschichte für wahr hält. Und um diese Annahmen zu bestätigen, stellt er diese Ideen auf den Prüfstand, hinterfragt sie aus verschiedenen Blickwinkeln, führt Differenzierungen ein, die Marx selbst nicht machte, klärt Missverständnisse auf und verweist auf eine Reihe von Einwänden, denen er manchmal sogar zustimmt.

Das materialistische Geschichtsbild

Marx’ Theorie ist in einem sehr spezifischen Sinne »materialistisch«. Zum einen glaubte Marx nicht daran, dass die Ideen in den Köpfen der Menschen die Geschichte vorantreiben. Er hat auch nicht einfach nur betont, dass Menschen primär von ihren materiellen Bedürfnissen angetrieben werden. Wie und warum Gesellschaftsordnungen in verschiedenen historischen Epochen aufsteigen, fallen oder abgelöst werden, wird laut Marx primär durch zwei Faktoren bestimmt: Zum einen durch die Produktivkräfte, also die Fähigkeit einer Gesellschaft, ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, und zum anderen durch die Produktionsverhältnisse, also die Art und Weise, wie eine Gesellschaft diese Prozesse organisiert.

In frühen menschlichen Gesellschaften waren die Produktivkräfte so unterentwickelt, dass die Bevölkerung nicht in eine herrschende Klasse und eine Klasse untergeordneter Arbeiterinnen und Arbeiter aufgeteilt werden konnte. Die Verhältnisse gaben das einfach nicht her. Das änderte sich in den frühen Sklavenhaltergesellschaften und im Feudalismus: Wenn Bauern, Sklaven oder andere »direkte Produzenten« dazu gezwungen werden konnten, einen Teil ihrer Produkte abzugeben, dann war der soziale Mehrwert, der in diesen Gesellschaften produziert werden konnte, groß genug, um eine unproduktive herrschende Klasse zu versorgen.

An einem gewissen Punkt behinderten diese Gesellschaftssysteme jedoch weiteres Wachstum. Der moderne industrielle Kapitalismus, der sich in der Hülle des Feudalismus zu entwickeln begann, war auf Arbeitskräfte angewiesen, die in Marx’ Worten »doppelt frei« waren – frei in dem Sinne, dass sie nicht an den Hof oder das Land eines Fürsten gebunden waren und für jeden Kapitalisten arbeiten konnten, der ihnen Arbeit anbot, und frei in dem Sinne, dass sie »frei« von Möglichkeiten waren, auf anderem Wege, als durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Der Kapitalismus war außerordentlich gut darin, Wohlstand zu generieren und die Entwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben – so gut sogar, dass Marx argumentierte, die arbeitende Mehrheit könne ihre materiellen Bedürfnisse besser decken, wenn sie die gesamte Wirtschaft übernehmen und in ihrem eigenen Interesse verwalten würde. In einem Wort, Sozialismus.

Marx unterschätzte keineswegs die Rolle von Ideen oder menschlichem Handeln. Cohen weist darauf hin, dass Marx’ historischer Materialismus keine »deterministische« Theorie ist, die den freien Willen negiert. Ebenso ist der historische Materialismus keine Theorie, die durch ihren Fokus auf materielle Faktoren die Bedeutung des »menschlichen Verstandes« für das Voranschreiten der Geschichte unterschätzt. Wenn Marx von Produktivkräften spricht, meint er zwei Dinge – zum einen nicht-menschliche »Produktionsmittel« und zum anderen menschliche »Arbeitskraft«. Die Fische im See und die Angel, mit der der Angler sie aus dem Wasser zieht, sind beide Teil der »Produktionsmittel« des Anglers.

Was ist mit der Arbeitskraft? Damit ist bloß die Kapazität der Menschen gemeint, die »Produktionsmittel« zu nutzen, um Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Wenn Marx vom Wachstum der »Produktionskräfte« im Verlauf der Zeit spricht, dann meint er damit primär die mentale Arbeitskraft – also das zunehmend wachsende wissenschaftliche Verständnis davon, wie wir die Natur nutzen können, um menschliche Bedürfnisse zu decken.

Auch der Vorwurf, Marx wäre ein Determinist gewesen, der die Existenz des freien Willens leugne, ist aus mehreren Gründen fehlgeleitet. Zunächst einmal wird die Frage, ob irgendeine Form von »Determinismus« mit menschlicher Willensfreiheit überhaupt kompatibel ist, philosophisch kontrovers diskutiert. Es handelt sich dabei nicht um ein exklusiv marxistisches Problem. Darüber hinaus müssen Aussagen wie »die Produktionsverhältnisse verursachen die rechtlichen und politischen Institutionen einer Gesellschaft« nicht notwendigerweise deterministisch interpretiert werden. Häufig beschreiben Aussagen wie »X verursacht Y« eher Wahrscheinlichkeiten als Notwendigkeiten.

In einer Fußnote später im Buch schreibt Cohen: »Wenn die zukünftige Entwicklung der Geschichte und, genauer, die zukünftige sozialistische Revolution, unausweichlich ist, dann ist sie das nicht entgegen menschlichen Handelns, sondern aufgrund dessen, wie Menschen als rationale Wesen handeln werden«. Natürlich sind nicht alle Menschen gleichermaßen rational. Aber dieser Einwand ist nicht nur der marxistischen Behauptung, Menschen würden auf Basis ihrer Klasseninteressen handeln, entgegenzubringen. Er gilt genauso auch für die Behauptung, Angebots- und Nachfragekurven ließen sich vorhersagen, die in VWL-Lehrbüchern geschrieben steht.

Wie verändern sich Gesellschaften?

Als die zweite Edition von Karl Marx’s Theory of History im Jahr 2000 herauskam, war der Zusammenbruch der Sowjetunion bereits zu einem beliebten Beispiel für Kritikerinnen und Kritiker des Marxismus geworden. Aber Cohen weist darauf hin, dass dies vielmehr die Kernpfeiler des historischen Materialismus auf dramatische Weise bestätigt. Der historische Materialismus besagt, dass die Form, die eine Gesellschaft an jedem Punkt der Geschichte annehmen kann, vom Stand der Entwicklung ihrer Produktivkräfte abhängt.

Marxistinnen und Marxisten wäre es sicherlich lieber gewesen, wenn in der UdSSR ein wirtschaftlich erfolgreicher und politisch attraktiver Sozialismus entstanden wäre, anstatt ihre Theorie bestätigt zu wissen. Denn Fakt ist, dass der historische Materialismus widerlegt worden wäre, wenn Joseph Stalin recht gehabt hätte, und es wirklich möglich gewesen wäre, eine florierende postkapitalistische Ordnung in einem Land zu errichten, das im Jahr 1917 immernoch halbfeudal war. Wladimir Lenin war das als orthodoxem Marxisten wohl bewusst – er hat an vielen Stellen betont, dass das Sowjet-Experiment nur dann Erfolg haben könnte, wenn die Revolution auch den entwickelten Westen erfasst. 

Wo stehen wir also heute?

Karl Marx und Friedrich Engels schreiben in den ersten Zeilen des Kommunistischen Manifests bekanntlich: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«. An sich sagt uns das noch nichts darüber, wann und warum es zu Durchbrüchen im Klassenkampf kommt oder warum ein altes System gestürzt und ein neues geboren wird.

Marx’ Antwort darauf ist, dass ein altes System dann durch ein neues abgelöst wird, wenn es der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte im Weg steht. Das ist verwirrend. Denn wenn dieser Gedanke besagt, dass technologischer Fortschritt vorangegangene Veränderungen in gesellschaftlichen Systemen erklärt, dann klingt das so, als würden Wirkungen herangezogen werden, um Ursachen zu erklären – anstatt andersherum.

In Karl Marx’s Theory of History erzählt Cohen eine in seinen Worten »etwas naive Geschichte«, um zu illustrieren, wie das funktionieren kann. Sie ist es wert, vollständig zitiert zu werden:

»Stellen wir stellen uns eine produktionsschwache Gesellschaft vor, deren Mitglieder gleichermaßen auf Subsistenzniveau leben, und sich ein besseres Auskommen wünschen. Einer von ihnen vermutet, dass die Einführung von Tretmühlen am Rand des Flusses, auf den sie für die Bewässerung ihrer Felder angewiesen sind, die Flussrate des Wassers, und somit ihre Wohlfahrt, verbessern würde. Er schlägt diese Idee der Gemeinde vor, die beeindruckt ist. Umgehend wird eine Gruppe damit beauftragt, diese Geräte zu entwickeln und zu konstruieren. Diese werden dann an geeigneten Stellen am Ufer des Flusses installiert und getestet. Alle Mitglieder der Gemeinde nehmen an diesen Testungen teil. Sie schätzen die Vorteile der regulären Nutzung der Tretmühlen richtig ein und suchen nach Freiwilligen, um sie zu bedienen. Aber niemand meldet sich: Diese Arbeit erledigt keiner in der Gesellschaft gerne. Aus Gründen, die wir der Vorstellung des Lesers überlassen, ist es auch nicht möglich, dass alle nur einen Teil ihrer Zeit in der Tretmühle verbringen. Viele ›Vollzeittreter‹ werden benötigt. Man entscheidet sich dazu, diese per Los zu wählen, was auch umgesetzt wird. Dieser Job ist aber so abstoßend, dass er ohne strenge Aufsicht nicht effizient durchgeführt werden kann. Für diese Rolle herrscht keine Knappheit an Bewerbern und einige werden mit irgendeiner Methode ausgewählt. Allmählich entwickelt sich eine Klassenstruktur (Aufseher, Bauern und Treter) in der ehemals egalitären Gemeinde. Man kann nun sagen, dass die Verhältnisse sich geändert haben, weil sich die Produktivkräfte ansonsten nicht weiterentwickelt hätten, und dass sich die Produktivkräfte weiterentwickelt hätten, weil sich die Verhältnisse geändert haben. Aber es ist klar, dass die Veränderung in den Produktivkräften trotz des zweiten Teils des letzten Satzes fundamentaler ist, als die Veränderung in den Verhältnissen: Die Verhältnisse ändern sich, weil neue Verhältnisse Produktionsanstiege begünstigen.«

Cohen greift auch auf reale Beispiele zurück und beschreibt etwa, wie aus kleinen Manufakturen jene modernen Fabriken wurden, die gemäß prä-kapitalistischer Zunftregeln verboten gewesen wären. Die Konsolidierung kann dadurch erklärt werden, dass die größeren Fabriken produktiver waren – aus eben diesem Grund wurden die Zunftregeln, die diese Entwicklung behinderten, abgeschafft.

Ist diese Erklärung ein bloßer Taschenspielertrick, der Ursache und Wirkung vertauscht? Nicht wirklich. Denn wie Cohen schreibt, können die Produktionsvorteile großer Fabriken die Konsolidierung auf unterschiedliche Weise erklären. Zum einen können Arbeitgeber die Vorteile der Konsolidierung selbst erkennen. Zum anderen wird die Konsolidierungen anfänglich dadurch angespornt, dass größere Fabriken besser überleben können als ihre kleineren Konkurrenten – eine quasi »darwinistische« Erklärung. In beiden Fällen hat man sich für die Eigenschaften, die den funktionellen Vorteil hervorbringen, »entschieden«, weil sie diesen Vorteil mit sich bringen; die Reihenfolge von Ursache und Wirkung ist »richtig herum«.

Cohens Kritiker

So weit, so gut. Aber in den Jahrzehnten seit das Buch erschienen ist, haben viele von Cohens Kritikerinnen und Kritikern darauf hingewiesen, dass dieser Erklärungsansatz mehr als nur ein bisschen unpräzise ist. Muss ein neues Sozialsystem der weiteren Entwicklung zuträglicher sein, als jedes andere System, was auf dieser Stufe der Geschichte möglich wäre? Oder muss es nur förderlicher sein als das System, das es ersetzt. Wenn es um ersteres geht, was heißt »weitere Entwicklung« in diesem Kontext dann überhaupt? Technologische Innovation? Die weitere Verbreitung neuer Technologien? Und ist das ausschlaggebende Argument für den Sozialismus wirklich, dass er die rasante Entwicklung der Produktivkräfte besser voranbringen würde als der Kapitalismus – das entwicklungsfreudigsten System aller Zeiten? Geht es nicht eher darum, dass ein sozialistisches System diese Entwicklung in einer Weise organisieren würde, die der Menschheit ein besseres Leben ermöglicht?

Auf diese Fragen gibt es viele Antworten. Doch es ist sicherlich unrealistisch, dass ein neues System die global dominante Wirtschaftsordnung ablösen könnte, wenn nicht eine genügend große Anzahl an Menschen bereits weiß, dass sie unter diesem neuen System ein besseres Leben erwartet. Und der »Austausch mit der Natur«, durch den Menschen ihre Bedürfnisse decken, muss sich in irgendeiner Weise verbessert haben, um das möglich zu machen – ob wir jetzt über Verbesserungen der Produktivtechnologie an sich sprechen oder »nur« darüber, sie zur Deckung der Bedürfnisse von mehr Menschen nutzbar zu machen. Cohens Behandlung marxistischer Konzepte ist so präzise, dass die Veröffentlichung seines Buches eine neue Generation von Kritikerinnen und Kritikern dazu inspiriert hat, ihn mit derselben Präzision zu kritisieren. Die Kapitel, die er der Neuauflage seines Buches im Jahr 2000 neu hinzufügte, bezeugen, dass hier noch viel Arbeit vor uns liegt.

In seinem Buch If You’re An Egalitarian, How Come You’re So Rich? (»Wenn du ein Verfechter des Egalitarismus bist, warum bist du dann so reich?«) kritisierte Cohen zumindest einen Aspekt des klassischen marxistischen Geschichtsverständnisses sehr eindringlich. Cohen merkte an, dass das Problem der »Fesseln« der Produktivkräfte Marx und Engels deswegen nicht sonderlich beschäftigte, weil sie tendenziell nicht über mehrere mögliche neue Gesellschaften nachdachten, die die alte ersetzen könnten. Ihnen ging es vor allem um eine einzige, die »in ihrem Leib heranwächst«. Diese Metapher, die ihre Wurzeln in G. W. F. Hegels Philosophie hat, führte dazu, dass viele Marxistinnen und Marxisten die schwierige Aufgabe vernachlässigten, darüber nachzudenken, wie eine sozialistische Gesellschaft aussehen sollte.

Dieser theoretische Defekt hatte in den staatssozialistischen Experimenten des 20. Jahrhunderts desaströse Auswirkungen. Wer diese Aufgabe ernst nimmt, wird mit komplizierten Problemen der wirtschaftlichen Planung und institutionellen Rahmenbedingungen konfrontiert und muss sich auch mit kontroversen normativen Fragen befassen – während Radikale darüber nachdenken, welche Werte den Aufbau neuer Institutionen anleiten sollten.

In seinen letzten Lebensjahren wandte sich Cohen eben dieser Aufgabe zu. Zum einen diskutierte er mit Libertären, die aus Prinzip gegen eine Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands waren. Zum anderen debattierte er mit Liberalen, die in der Tradition von John Rawls standen und die Cohens Konzept von Verteilungsgerechtigkeit als nicht egalitär erachteten. Das ist der einzige Teil seines Lebenswerkes, mit dem viele Philosophinnen und Philosophen Vertraut sind – und um eines klarzustellen: Ich halte vieles davon für brillant.

Doch Cohen verband analytische Präzision mit Fragen des historischen Wandels, die Teil des Kerns des sozialistischen Projekts bilden. Angesichts dessen wünschte ich mir manchmal, Sozialistinnen und Sozialisten würden Karl Marx’s Theory of History heute mehr Aufmerksamkeit schenken.

Warum Du G. A. Cohen lesen solltest

An einer Stelle in Karl Marx’s Theory of History unterscheidet Cohen zwischen drei verschiedenen Klassen »untergeordneter Produzenten«. Entscheidend für diese Unterteilung ist deren Verhältnis zu ihrer Arbeitskraft und den Produktionsmitteln. Sklaven besitzen keins von beiden. Hörige Bauern, die einige Eigentumsrechte über ihre Felder haben aber rechtlich dazu verpflichtet sind, für ihren Fürsten zu arbeiten, besitzen sowohl einen Teil ihrer Arbeitskraft als auch ihrer Produktionsmittel. Und Proletarier besitzen ihre gesamte Arbeitskraft, aber keine ihrer Produktionsmittel. Vereinfacht gesagt sollten wir das Proletariat nach Cohen als die Klasse definieren, die Kapitalisten untergeordnet ist. Denn um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, muss sie die Arbeitskraft, die sie besitzt, mit den Produktionsmitteln kombinieren, die das Eigentum der Kapitalisten sind.

Aber das ist nicht alles. Cohen zieht zwei Beispiele in Betracht, die erkennbar kapitalistische Arbeitsverhältnisse abbilden, aber von dieser Beschreibung abweichen. In beiden Fällen geht es um Textilfabriken. Das erste handelt von einem Arbeiter namens Schwartz, der in einer Kleiderfabrik Stoffe zu Mustern schneidet. Er tut das zum Teil mit einer Maschine, die seinem Chef gehört. Diese Maschine, hätte sich Schwartz selbst nicht leisten können. Den Rest erledigt er mit einer Schere, die er von Zuhause mitbringt.

Das zweite und ernstere Gegenbeispiel handelt von seinem Schwager Weiss. Dessen Arbeit könnte in der Fabrik vollständig mit einer Maschine bewältigt werden, die ihm selbst gehört. Sein Arbeitgeber verlangt als Anstellungsbedingung, dass Weiss seine eigene Maschine kauft und zur Fabrik bringt. Der einzige Grund warum Weiss überhaupt für seinen Chef arbeitet und sein Glück nicht alleine als selbstständiger Unternehmer versucht, sind die geschäftlichen Kontakte seines Chefs.

Anhand dieser beiden Beispiele schlussfolgert Cohen, dass sich das Proletariat nicht zwangsläufig durch das Fehlen von Eigentum an Produktionsmitteln auszeichnet. Es geht vielmehr um das Fehlen von Eigentum an Produktionsmitteln, mit denen es seinen Lebensunterhalt finanzieren kann, ohne für einen Kapitalisten arbeiten zu müssen.

Was mir an dieser Passage immer besonders ins Auge fällt, ist die Art und Weise wie Cohen Weiss’ Situation beschreibt. Wenn es wahr ist, schreibt Cohen, dass Arbeiter nichts zu verlieren haben außer ihre Ketten, dann ist die Nähmaschine, die Weiss selbst kaufen und warten muss, »eine von diesen Ketten«.

Cohen schrieb diese Zeilen zu einer Zeit, als starke Gewerkschaften und ein starker Sozialstaat permanenter Bestandteil entwickelter, kapitalistischer Gesellschaften zu sein schienen. Mehrere Male zeigt sich, dass Cohen unterschätzte, wie leicht Kapitalistinnen und Kapitalisten diesen Fortschritt wieder rückgängig machen können. Aber seine Beschreibung bildet nichtsdestoweniger ein bekanntes Merkmal der neoliberalen Prekarität ab, die in den Jahrzehnten danach entstand. Er hätte genauso gut über eine Uber-Fahrerin schreiben können, der im Vergleich zu einer gewerkschaftlich organisierten Taxifahrerin die finanzielle Verantwortung aufgelastet wird, ihr eigenes Auto zu kaufen und instand zu halten.

Diese Art von moralischen und deskriptiven Einblicken sind genau das, was Karl Marx’s Theory of History für alle zu einer lesenswerten Lektüre macht, die ernsthaft über darüber nachdenken, wie die Geschichte voranschreitet. Für alle, die ihre Ketten verlieren möchten, ist diese Frage von zentraler Relevanz.


Ben Burgis ist Kolumnist bei JACOBIN, lehrt Philosophie am Morehouse College und ist moderiert den Podcast »Give Them An Argument«. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien »Christopher Hitchens: What He Got Right, How He Went Wrong, and Why He Still Matters«.

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