19. Juli 2023
Relativitätstheorie bei Albert Einstein, Zeitung lesen mit Bertolt Brecht – die Marxistische Arbeiterschule schaffte das Besondere.
»Angekündigt ist ein Vortrag von Prof. Dr. Albert Einstein – eingeladen hat die Marxistische Arbeiterschule.«
Illustration: Zane ZlemešaVor einer Gemeindeschule im Berliner Norden warten Hunderte darauf, eingelassen zu werden. Obwohl es erst Ende Oktober ist, tragen die meisten schon dicke Wollmäntel, in deren Taschen sie ihre Tickets aufbewahren: 20 Pfennig für Erwerbslose, 50 Pfennig für politisch Aktive, 1 Mark für nicht politisch Aktive. Beim Einlass staut es sich. Angekündigt ist ein Vortrag von Prof. Dr. Albert Einstein. In der Aula der Schule wird er heute einmal nicht zu Physik-Studenten sprechen – eingeladen hat die Marxistische Arbeiterschule. Das Thema: »Was der Arbeiter von der Relativitätstheorie wissen muss«. Die MASCH war die bessere Volkshochschule.
Acht Jahre zuvor, im Frühjahr 1924, finden die ersten Vorträge des Vereins noch in deutlich kleinerem Rahmen statt. Es gibt weder prominente Lehrpersonen noch verfügbare Schulräume und in der Folge auch keine Arbeiterscharen, die einem die Türen einrennen, um etwas über moderne Physik zu hören. Stattdessen gibt es zwei Veranstaltungen pro Woche im Dachgeschoss des Karl-Liebknecht-Hauses, der Parteizentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands.
Bei diesen Vorträgen, die aktuelle politische Fragen erhellen sollen, finden sich regelmäßig um die 25 Arbeiterinnen und Arbeiter ein. Von Hyperinflation und Währungsreform bis zur Ruhrbesetzung wollen sie verstehen, wer darüber entscheidet, ob sie sich mit ihrer Arbeit über Wasser halten können oder vom strauchelnden Staat und seinen schwindenden Sozialsystemen abhängig werden.
Das Interesse an den Vorträgen wird in der Agitprop-Abteilung der Partei schnell registriert. Auf ihren Vorschlag hin beschließt die Bezirksleitung der KPD Berlin Ende 1925, die Marxistische Arbeiterschule zu gründen und Zweigstellen in anderen Berliner Stadtteilen zu eröffnen. Das einzigartige Konzept der Schule wird sie in den nächsten Jahren enorm beliebt machen. Am Ende hat sie Ableger in mehr als dreißig Städten. Das liegt nicht nur daran, dass sie mehr anbietet als trockene Marx-Lesekreise, sondern auch daran, dass sie sich von Anfang an gegen die angeblich neutralen Volkshochschulen stellt.
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Till Brückner ist Game Designer und Historiker.