12. Oktober 2022
Seit dem gewaltsamen Tod von Jîna Mahsa Amini sind im Iran heftige Proteste gegen das Regime ausgebrochen. JACOBIN hat mit einer iranischen Aktivistin darüber gesprochen, welche Form der Solidarität hilfreich und welche hinderlich ist.
Straßenprotest in Teheran, 28. September 2022.
IMAGO / ZUMA WireNach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Jîna Mahsa Amini, die am 13. September von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen wurde, sind im Iran massive Proteste ausgebrochen. Die iranischen Behörden behaupten, Amini, die bei bester Gesundheit war, sei an einem Herzinfarkt gestorben. Sie weisen jede Verantwortung von sich, obwohl es Zeugenaussagen dazu gibt, wie sie geschlagen und misshandelt wurde. Die Protestierenden fordern ein Ende der Hidschab-Pflicht, prangern die soziale Ungleichheit an und verlangen sogar den Sturz der theokratischen Regierung.
Tausende von Demonstrierenden wurden in den letzten Wochen inhaftiert und es wurden Internetsperren verhängt, um die Organisation von Protesten und die Verbreitung von Informationen zu behindern. Offizielle Stellen sprechen von mindestens vierzig Toten, unabhängige Quellen gehen von einer weit höheren Zahl aus. Es ereignen sich beeindruckende Szenen: Junge Menschen kämpfen gegen die Islamische Revolutionsgarde; Proteste nehmen ganze Städte ein; Frauen rasieren sich die Köpfe, zünden ihre Hidschabs an und rufen: »Nieder mit der Islamischen Republik!«
Während die Straßenproteste in den letzten Tagen langsam abflauen, legen immer mehr Menschen die Arbeit nieder: Schülerinnen und Lehrer streiken und die Gewerkschaften rufen Beschäftigte – auch die in der bedeutenden iranischen Ölindustrie – dazu auf, nicht zur Arbeit zu gehen.
Die theokratische Regierung des Irans kam 1979 nach einer Revolution gegen den von den USA gestützten Reza Schah an die Macht – einen brutalen Diktator, dessen Herrschaft durch extreme Ausbeutung der Arbeitenden, Unterdrückung kritischer Meinungen und ausländische Kontrolle über das iranische Öl gekennzeichnet war. Während arbeitende Menschen und linke Kräfte beim Umsturz eine zentrale Rolle spielten, übernahmen am Ende der Oberste Führer Ruhollah Khomeini und ein rechter Klerus die Regierung und errichteten eine autoritäre islamische Herrschaft, die genau diese progressiven Kräfte innerhalb der Gesellschaft verfolgt.
Zuletzt brachen im November 2019 Proteste aus, als Reaktion auf massiv steigende Gaspreise, Misswirtschaft der Regierung und weit verbreitete Korruption unter dem Obersten Führer Ali Khamenei und dem damaligen Präsidenten Hassan Rohani. Die Revolutionsgarde schlug diese »Benzinproteste« gewaltsam nieder, tötete wahrscheinlich über tausend Demonstrierende und inhaftierte Tausende weitere. Doch trotz der anhaltenden Repressionen gehen die Menschen im Iran jetzt wieder auf die Straße.
»Auch die Proteste, die wir heute sehen, begannen als eine Bewegung der Arbeiterklasse.«
Parandeh ist eine 21-jährige iranisch-aserbaidschanische Künstlerin und Schriftstellerin, die sich seit 2019 in der politischen Linken und der Gewerkschaftsbewegung engagiert. Im JACOBIN-Interview spricht sie über den schrecklichen Tod von Amini und erklärt, warum die Interventionen des Westens und die US-Sanktionen der Demokratie im Iran eher schaden als helfen. Zu ihrer eigenen Sicherheit wurden persönliche Details über ihr Leben und ihre politische Arbeit ausgespart.
Was war Deine erste Reaktion auf Jînas Tod?
Ich erfuhr von dem Geschehen, noch während es sich abspielte. Jînas Bruder verbreitete die Nachricht, als sie im Krankenhaus lag und noch am Leben war.
Ich war acht Jahre alt, als Neda Agha-Soltan getötet wurde [eine Aktivistin, die während der Proteste der Grünen Bewegung 2009 von den Revolutionsgarden erschossen wurde]. Alle Erwachsenen in meinem Umfeld versuchten, mich vor dem Video abzuschirmen, das ständig überall gezeigt wurde. Doch es war unmöglich zu vermeiden und hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck. Ich weiß noch, wie ich weinen musste, nachdem ich das Video gesehen hatte, und wie ich versuchte, meine Trauer vor meinem Vater zu verbergen.
Seitdem sind viele weitere Menschen bei Protesten auf der Straße getötet worden, Töchter und Ehefrauen fielen Ehrenmorden zum Opfer – einige von ihnen wurden enthauptet, ihre Mörder hingegen erhielten nur geringe Haftstrafen. Daher geht es mir nicht anders als anderen Iranerinnen und Iranern weltweit: Ich bin abgestumpft; Tode berühren mich nicht mehr besonders. Als Jîna zu Tode geprügelt wurde, war ich also wütend, aber nicht überrascht.
Sind die aktuellen Proteste eher spontan ausgebrochen?
Im Iran gab es schon immer Organisierung und Mobilisierung gegen die politische Führung. Dennoch sind diese Proteste meiner Ansicht nach größtenteils spontan entstanden, vor allem im iranischen Kurdistan. Ich glaube, kein Mensch konnte mitansehen, was mit Jîna passiert ist, ohne den Drang zu verspüren, die Wut darüber auf die Straße zu tragen.
Als die Polizei anfing, Demonstrierende zu töten und ein 10-jähriges kurdisches Mädchen brutal erschoss, steigerte das die Bereitschaft, auch ohne einen klaren Plan protestieren zu gehen. Unzufrieden sind die Menschen schon seit sehr langer Zeit.
Welche Rolle spielt Klasse in den Protesten?
Während der Benzinproteste im Jahr 2019 sah ich ein Interview mit einem Bazaari [einem armen Händler], der an der Grünen Bewegung [die aus den Protesten nach den Wahlen im Jahr 2009 hervorging] teilgenommen hatte. Der Reporter fragte ihn, worin sich die Benzinproteste von der Grünen Bewegung unterschieden, und was sich in den vergangenen zehn Jahren verändert habe. Die Antwort des Bazaari war einfach: Die Proteste der Grünen Bewegung kamen aus der Ober- und Mittelschicht, die Benzinproteste dagegen aus der Arbeiterklasse.
Im Anschluss an die Benzinproteste gab es in der Provinz Khuzestan Proteste, die von der Arbeiterklasse dominiert waren, und fast zeitgleich kam es zu Streiks. Wer sich mit revolutionären Bewegungen in der Geschichte beschäftigt hat, der weiß, dass die Arbeiterklasse bei der Durchsetzung der Forderungen einer jeden echten Revolution eine wesentliche Rolle spielt.
Auch die Proteste, die wir heute sehen, begannen als eine Bewegung der Arbeiterklasse. Amini war Kurdin und stammte aus der Stadt Saqqez. Die Bevölkerung von Saqqez gehört mehrheitlich der Arbeiterklasse an und die Kurdinnen und Kurden sind als ethnische Minderheit noch stärker benachteiligt als die meisten anderen.
Diese Proteste haben sich über die kurdische Gemeinschaft hinaus auf viele andere Städte des Landes ausgeweitet und alle sozialen Schichten erfasst. Es gab in der Vergangenheit bereits Proteste gegen die Hidschab-Pflicht, die von Frauen aus der oberen Mittelschicht im Norden Teherans und in anderen Großstädten dominiert waren, daher sind sie natürlich auch an diesen Protesten beteiligt. Aber heute sehe ich fast zum ersten Mal, wie verschiedene Klassen und ethnische Gruppen, religiöse und säkulare Menschen gegen einen gemeinsamen Feind zusammenkommen.
Nun streiken Schülerinnen, Lehrer und auch die Arbeitenden in der Industrie. Welchen Einfluss hat die Arbeiterbewegung im Iran historisch gesehen?
Das ist eine unglaubliche Entwicklung und wird die Einsatzbereitschaft all jener stärken, die daran zweifeln, ob diese Bewegung ernst zu nehmen ist. Während der Proteste in Chuzestan habe ich ein beeindruckendes Bild gesehen, das arbeitende Hände zeigt, mit der Bildunterschrift »Arbeiter machen alles, und können davon trotzdem nicht leben«. Ich finde, das gilt für alle Gesellschaften, in denen die Arbeiterklasse unterdrückt wird, aber auf den Iran trifft es in besonderem Maße zu. Ohne unsere Lehrerinnen und unsere Arbeiter in der Landwirtschaft, dem Bergbau und der Industrie würde der Iran nicht funktionieren.
Ich möchte hier die Worte von Sadegh Kargar, einem iranischen Gewerkschaftsaktivisten, wiedergeben:
»Die Unterdrückten sind [nach der Revolution] nicht zu Herrschenden geworden, sie wurden nur noch mehr unterdrückt. [Die Regierung] hat Arbeitsschutzgesetze abgeschafft. […] Sobald Arbeiter protestieren, gehen die repressiven Sondereinheiten gegen sie vor. […] Eine Lehrerin oder ein Arbeiter werden jetzt ausgepeitscht, inhaftiert und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, wenn sie sich gewerkschaftlich engagieren oder das Recht von Lehrerinnen oder Arbeitern auf die Gründung einer Gewerkschaft verteidigen. Die jetzigen Machthaber sind frischgebackene Kapitalisten, die in die Fußstapfen ihrer Vorgänger getreten sind und ihre Untergebenen noch viel schlimmer, gewalttätiger, rücksichtsloser und unmenschlicher behandeln. Was die Arbeiterinnen und Arbeiter nach hundert Jahren des Kampfes und der Anstrengung errungen hatten, haben sie in der Islamischen Republik wieder verloren.«
Die frühesten dokumentierten Massenstreiks fanden im Kontext der Bewegung für eine Verfassung im Jahr 1905 statt. Zwischen 1953 und 1979 fanden zahlreiche Streiks statt (der größte davon 1977), und Arbeiterrechte waren für Revolutionäre jeder Couleur von zentraler Bedeutung.
»Es ist bekannt, dass die Regierung Menschen aus verarmten Städten und Dörfern mit Bussen ankarrt und ihnen viel Geld zahlt, damit sie zur Verteidigung der Islamischen Republik demonstrieren.«
Während Imam Khomeini in Paris im Exil lebte, gab er eine Reihe von Interviews mit westlichen Reportern, in denen er behauptete, seine Führung würde die Arbeitenden des Irans ehren und respektieren. Er wurde mit den Worten zitiert:
»Die Arbeiter werden in der Islamischen Republik das Recht haben, sich zu versammeln und ihre Rechte zu verteidigen. Den benachteiligten Arbeitern im Iran, von denen die meisten fromme, arme und hungrige Bauern sind, wird erlaubt sein, auf jede mögliche und legitime Weise für ihre Rechte zu kämpfen.«
Als die islamischen Revolutionäre an die Macht kamen, wurden im ganzen Land Propagandaplakate verteilt, auf denen betende Arbeiter abgebildet waren, mit den Worten des Imams Khomeini: »Der Islam ist der einzige Unterstützer des Arbeiters« – eine kühne Behauptung für einen Mann, der sich in Auseinandersetzungen mit Linken selbst als einen Reaktionären bezeichnete und der seitdem den Arbeitenden im Iran die Versammlungsfreiheit genommen und einen Großteil der Gewerkschafter des Landes hingerichtet hat.
Für den durchschnittlichen iranischen Arbeiter hat sich seit den Zeiten des Schahs nichts verändert – und ich persönlich finde, 43 Jahre sind lang genug, um die Übergangsperiode einer Revolution abzuschließen. Was wir heute auf den Straßen des Landes, in den meisten Städten und Dörfern sehen, ist ein Zeichen dafür. Vor den aktuellen Protesten streikten im Dezember 2021 viele Teheraner Lehrkräfte für höhere Löhne und es kam zu Massenverhaftungen. Heute kämpfen sie immer noch für ihre Löhne und solidarisieren sich zugleich mit ihren protestierenden Schülerinnen. In diesem Kontext haben auch einige Universitätsprofessoren ihre Ämter niedergelegt.
Der Koordinierungsrat der Berufsverbände iranischer Lehrerinnen und Lehrer hat den 26. und den 28. September zu landesweiten Streiktagen erklärt und ruft Lehrerinnen und Schüler gleichermaßen zur Teilnahme auf. Schülerinnen der Sekundarstufe streiken, um die Verschleierungspflicht in den Schulen abzuschaffen. Angeführt wird diese Bewegung von progressiven Schülerinnen – und sie ermutigen ihre männlichen Mitschüler, sich an dem Streik zu beteiligen und sich für ihre Klassenkameradinnen einzusetzen. Auch Studierende an fünfzehn iranischen Universitäten sind in den Streik getreten, wobei ihre Forderungen umfassender sind und auch die Korruption der Regierung betreffen.
Seit dem Ende der ersten Protestwoche streiken im ganzen Land Menschen aller Schichten und Berufe, vor allem im iranischen Kurdistan. In Rascht und anderen Städten am Kaspischen Meer greift man auf eine eher altmodische Art der Mobilisierung zurück, indem man Flugblätter verteilt, die die Arbeitenden zur Teilnahme an den Streiks auffordern. Der Protestorganisationsrat der Vertragsarbeiter in der Ölindustrie hat ebenfalls eine Erklärung veröffentlicht. Sie drohen, so lange zu streiken, bis die Regierung aufhört, die Bevölkerung zu massakrieren.
»Das Ziel der durchschnittlichen Demonstrantin in diesem Moment ist eine Revolution, ein Übergang zur Demokratie.«
Letzteres fürchtet die Regierung, da Erdöl seit Beginn des 20. Jahrhunderts das wichtigste Exportgut des Irans ist. Das zeigt einmal mehr, welche Macht die Arbeitenden in diesem Land haben, obwohl sie nur wenige oder gar keine Rechte besitzen und ihre Interessen nicht vertreten werden. Ich bin unglaublich stolz auf unsere Arbeiterinnen und Arbeiter und ihr Durchhaltevermögen.
Es gibt aber noch einen weiteren bedauernswerten Teil der iranischen Arbeiterklasse, der nicht einmal annähernd genug Gehör bekommt, und das sind arbeitende Kinder. Berichten aus dem Jahr 2020 zufolge gibt es davon im Iran 10 Millionen – und 7 Millionen von ihnen führen gefährliche Arbeiten aus. Ich hoffe, dass im Zuge dieses Aufstands Organisationen der Arbeiterschaft innerhalb und außerhalb des Irans den arbeitenden Kindern in unserem Land eine Stimme geben werden und wir die Kinderarbeit im Iran vollständig abschaffen können.
Ich bin überzeugt, dass die massenhafte Beteiligung von Arbeitenden an diesem Aufstand unsere Bewegung weiter voranbringen und schließlich zu einem ethischeren, gerechteren und stärkeren Iran führen wird.
Das Schöne an diesen Protesten ist, dass sich Menschen aller Altersgruppen und Geschlechter daran beteiligen. Kürzlich habe ich zwei sehr eindrucksvolle Videos gesehen: In dem einen legt eine ältere Frau aus Rascht ihren Schleier ab und sagt, dass sie sich an die Proteste nach dem Putsch gegen den Premierminister Mohammad Mossadegh im Jahr 1953 erinnert fühlt; das andere zeigt einen älteren Mann, der an der Seite seiner Tochter steht und erzählt, dass er 1978 während der Revolution von der SAVAK verhaftet wurde. [SAVAK war die Geheimpolizei des Schahs, die Linke und andere Dissidenten verfolgte, folterte und hinrichtete.]
Beides sind Beispiele dafür, wie eine Generation, die in kurzer Zeit einen gewaltigen politischen Wandel erlebt hat, nun im Namen ihrer Kinder wieder für eine bessere Zukunft kämpft. Ich finde das unglaublich bewegend. Es sendet eine Botschaft an die Regierung: Wir haben euch an die Macht gebracht, und wir können euch auch wieder absetzen.
Diese Proteste kommen nach Jahren der Sanktionen und der Inflation. Welche wirtschaftlichen Forderungen erhebt die Bewegung?
Jeder, der unter Sanktionen gelebt hat oder mit ihrer Funktionsweise vertraut ist, weiß, dass sie nur den Menschen schaden, nicht der Regierung. Sanktionen sind Krieg. Die von den USA gegen den Iran verhängten Sanktionen sind einfach nur bösartig. Sie sind jedoch nicht die Hauptursache für unsere wirtschaftliche Misere – unsere korrupte Regierung ist gleichermaßen Schuld an der ökonomischen Lage des Landes. Die US-Sanktionen haben Amini nicht zu Tode geprügelt, und sie haben auch nicht dem 10-jährigen kurdischen Mädchen in den Kopf geschossen.
Die Hälfte der iranischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten müssen Familien auf Fleisch und Brot verzichten, und Kinder haben morgens keine Milch zu trinken. Ganz zu schweigen von den vielen Kindern, die arbeiten und auf der Straße leben müssen, und der großen Zahl obdachloser Iranerinnen und Iraner, die in leeren Gräbern Unterschlupf suchen, wie auch die Islamische Republik selbst berichtet.
Während die Bevölkerung unter diesen Bedingungen lebt, fahren Regierungsmitglieder Mercedes, essen festlich zu Abend, erhalten große Mengen an Speiseöl, bunkern Millionen in Schweizer Banken und schicken ihren Nachwuchs in den Westen. Ihre Kinder müssen nicht verschleiert leben und geben ihr Geld für Kokain und Designerklamotten aus.
Diese Proteste richten sich nicht nur gegen die Zwangsverschleierung, sondern auch gegen die Regierung und gegen Korruption. Ich habe gerade den Tweet eines jungen Mädchens aus Täbris gelesen, das auf Farsi schrieb: »Ich protestiere für meine Mutter, weil ihr [die Regierung] den Impfstoff gegen das Coronavirus nicht in den Iran importieren wolltet, war heute der Jahrestag ihres Todes.«
Gibt es im Iran eine präsente Linke?
Unter dem Schah war es illegal, links zu sein, und er hat viele Linke ins Gefängnis gesteckt. Der Schah sperrte sie ein, Khomeini hingegen ließ sie töten.
Es kommt nur sehr selten vor, dass Linke das politische Narrativ dominieren, aber es gibt viele Linke im Untergrund, die versuchen, Menschen zu mobilisieren. Jedoch fehlt im Iran eine starke linke Führungspersönlichkeit, hinter der wir uns versammeln könnten, oder zumindest weiß ich von keiner.
Aber die iranische Linke beteiligt sich an diesen Protesten und hat ihren eigenen Forderungskatalog, der einige Forderungen aus den Jahren 1976–79 enthält, die nie erfüllt wurden. Arbeitsrechte sind eines der Hauptanliegen, aber auch der Zugang zu Bildung, die Abschaffung der Armut, die Umverteilung des Reichtums, die Gleichberechtigung ethnischer Minderheiten und der Klimaschutz gehören dazu.
Wie haben die konservativen und rechten Iranerinnen und Iraner auf die Proteste reagiert?
Ich war positiv überrascht, wie viele Konservative sich auf die Seite des Volkes gestellt haben. Ich habe einen interessanten Clip eines konservativen Demonstranten gesehen, der sagte, dass die Regierung mit den Protestierenden, die einen Wandel fordern, sympathisieren sollte, da sie in ihrer Jugend in der gleichen Position waren.
»Wenn ich über die Zukunft des Irans nachdenke, blicke ich oft nach Lateinamerika, um Hoffnung und Inspiration zu finden.«
Natürlich habe ich auch die sogenannten Pro-Regierungs-Proteste gesehen. Es ist bekannt, dass die Regierung Menschen aus verarmten Städten und Dörfern mit Bussen ankarrt und ihnen viel Geld zahlt, damit sie zur Verteidigung der Islamischen Republik demonstrieren. Diese Proteste sind allein dazu da, dass Menschen außerhalb des Irans, die die Regierung unterstützen, die Videos im Internet verbreiten und sagen können: »Das wollen die Medien nicht zeigen«, oder so etwas in der Art. Die Regierung versucht händeringend, einen Schein von Legitimität aufrechtzuerhalten.
Ich habe ein Video gesehen, auf dem Demonstrierende skandieren: »Schah, komm zurück in den Iran«. Ich weiß nicht, ob es sich um eine aktuelle oder eine alte Aufnahme handelt – aber wie ist Deiner Meinung nach die Haltung zum Schah in verschiedenen sozialen Gruppen?
Es gibt Iranerinnen und Iraner in meinem Alter, die in der Diaspora aufgewachsen sind und größere Schahisten sind als Reza Pahlavi selbst. Ich finde aber nicht, dass sie für die breite Masse repräsentativ sind.
Die Sehnsucht nach der Zeit des Schahs basiert auf Nostalgie und der kulturellen Signifikanz, Teil einer Monarchie zu sein. Ich glaube, vielen Menschen gefällt diese Illusion von Größe – das hat etwas Märchenhaftes. Und es ist einfach, die aktuelle Situation zu betrachten, die Kämpfe, die wir heute auszufechten haben, und zu denken: »Na immerhin hatten wir diese Probleme damals nicht.«
Aber wir müssen nicht zwischen Theokratie und Monarchie wählen – wir haben noch andere Optionen. Die Protestierenden, die ich hier sehe, skandieren: »Keine Mullahs, kein Schah, nur Demokratie.« Und das ist auch meine Meinung.
Die iranische Bevölkerung ist nicht dumm; wir wissen, wenn wir übervorteilt werden. Das ist kein Aufstand, es ist eine Revolution. Die Menschen auf den Straßen töten Bassidschis [eine Untergruppe der Revolutionsgarde], sie stellen sich der Armee entgegen und sagen: »Tod dem Diktator, Tod Khamenei, Tod der Islamischen Republik«, sie reißen Bilder vom Obersten Führer Khamenei und Qasem Soleimani [dem Kommandeur der Quds-Division der Revolutionsgarde, der 2020 durch einen US-Drohnenangriff getötet wurde] herunter und verbrennen sie. Frauen rasieren sich ihre Köpfe, nehmen ihre Schleier ab und schreien der Revolutionsgarde und der Sittenpolizei ins Gesicht. Sie stellen sich vor Panzer, Wasserwerfer, Maschinengewehre und Tränengas.
Wir haben nur Steine und unsere Fäuste als Waffen. Die Menschen, die jetzt im Iran protestieren, gehören zu den mutigsten Menschen auf der Welt – davon bin ich wirklich überzeugt. Ich würde sagen, dass das Ziel der durchschnittlichen Demonstrantin in diesem Moment eine Revolution ist, ein Übergang zur Demokratie; aber das kann und wird sich im weiteren Verlauf der Proteste sicherlich ändern.
Den ersten Sprechchor, der mich daran glauben ließ, dass sich diese Proteste von früheren unterscheiden würden, hörte ich direkt nach der Beerdigung von Jîna. In Saqqez riefen sie: »Ich werde den töten, der meine Schwester getötet hat!« Natürlich gibt es auch die üblichen Sprechchöre, die immer zu hören sind – wir lieben es, Dinge für tot zu erklären: »Tod Khamenei«, »Tod der Islamischen Republik«, »Nieder mit der Hidschab-Pflicht« und so weiter. Eine großartige Parole ist »Zan, Zendegi, Azadi«, das heißt »Frauen, Leben, Freiheit«. Das ist ganz einfach. Ich habe auch Menschen gesehen, die wiederholt »Wir haben keine Angst« oder auch einfach »Azadi« skandiert haben.
Seit den ersten Tagen der Revolution singen die Menschen antifaschistische oder linke Lieder. Sie singen das chilenische Widerstandslied aus der Zeit von Salvador Allende, »El Pueblo Unido Jamás Será Vencido« (Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden) und auch »Bella Ciao«.
Und neben den Sprechchören hat sich auch die Bildsprache verändert. Heute Morgen habe ich eine große Gruppe von Demonstrierenden gesehen, die die Derafsh Kaviani – die Fahne des Schmieds – trugen, ein Symbol für einen bedeutenden Arbeiterhelden der iranischen Folklore, der sich gegen einen brutalen Tyrannen wehrte. Dies ist das erste Mal in der jüngeren Geschichte, dass sich die Menschen auf revolutionäre Helden aus unserer Geschichte berufen.
Weißt Du etwas darüber, ob die Regierung bezahlte Demonstranten zu den Protesten schicken, um die Bewegung zu diskreditieren? In der Vergangenheit hat es Berichte darüber gegeben.
Die Islamische Republik ist berüchtigt dafür, bezahlte Demonstranten auf Proteste zu schicken, um Probleme zu verursachen. In der Vergangenheit haben sie ihre eigenen Banken und Hauptquartiere der Revolutionsgarde angezündet, um die Demonstrationen als gewalttätig erscheinen zu lassen. Es gibt Gerüchte, dass die Regierung Leute dafür bezahlen wird, am Todestag des Propheten Mohammed Korane zu verbrennen, um die Protestierenden als anti-islamische Heiden darzustellen.
Neulich musste ich an die britische Filmkomödie Four Lions denken, die den Fundamentalismus und Möchtegern-Dschihadismus persifliert. In dem Film suchen die Protagonisten nach dem richtigen Ort, um eine Bombe zu platzieren, und einer von ihnen schlägt vor, die örtliche Moschee in die Luft zu jagen und es so aussehen zu lassen, als seien Islamophobe für den Anschlag verantwortlich, um »die Gemäßigten zu radikalisieren«. Die Szene endet mit der Metapher eines Kampfes, bei dem man sich selbst ins Gesicht schlägt, um sich selbst aufzuputschen, wobei sich der Anführer der Gruppe auf die eigene Nase schlägt. Es schrecklich und zugleich ironisch, dass die iranische Regierung Taktiken anwendet, die sich der Autor einer Satire K ausgedacht hat. Aber aus irgendeinem Grund glauben sie, dass das funktioniert.
Was die Molotow-Cocktails und allgemein die Gewalt bei den Protesten angeht, würde es mich nicht überraschen, wenn Leute von der Regierung dafür bezahlen würden, sich so zu verhalten. Aber man muss auch einsehen, wie wütend die iranische Bevölkerung ist. Ich würde es auch einfachen Menschen zutrauen, dass sie gewalttätig werden (und würde sie nicht dafür auch nicht verurteilen).
Die iranische Regierung hat mit Drohnen- und Raketenangriffen auf Kurdinnen und Kurden im Irak begonnen, denen sie die Verantwortung für diese Proteste zuschiebt. Wie wird sich diese Eskalation, die sich nun auch gegen Menschen außerhalb der Grenzen des Irans richtet, Deiner Meinung nach auf den Kampf der iranischen Bevölkerung auswirken?
Die jüngsten Angriffe auf Kurdistan sind eine entsetzliche Entwicklung für die Bevölkerung und die Bewegung. Sie zeigen einmal mehr die Barbarei unserer derzeitigen Führung. Sie bestraft offenbar eine ganze Ethnie für ihr eigenes unmenschliches Vorgehen gegen ein junges kurdisches Mädchen. Es ist fast, als würden sie sagen, Jînas Verbrechen sei es gewesen, Kurdin zu sein.
Ich glaube jedoch, dass diese Angriffe auf die Islamische Republik und ihre Streitkräfte zurückfallen werden, denn sie offenbaren damit ihr wahres Gesicht. Sie zeigen damit, wie viel Angst sie vor einem Machtverlust haben und wie unsicher sie sind, was ihre Legitimität angeht. Ihr Verhalten ist feige. Nur Feiglinge benutzen Bomben, um unschuldige Menschen zum Schweigen zu bringen.
Diese Angriffe und die Ermordung von Jîna haben bereits zu Protesten unter Kurdinnen und Kurden in anderen Ländern geführt, insbesondere zu einer Versammlung kurdischer Frauen in Nordsyrien. Ich denke, die iranische Führung dachte, sie könnte zu ihren alten Methoden der Unterdrückung sozialer Bewegungen zurückkehren, indem sie Steinwürfen mit Drohnenangriffen begegnet. Aber die Menschen haben keine Angst mehr.
»Es ist an der Zeit, dass wir ohne Einmischung ausländischer Mächte über unsere Lebensumstände bestimmen können.«
Wenn überhaupt, dann haben diese Angriffe die Wut und den Kampfesmut in der Bevölkerung noch verstärkt. Es ist, als würde man eine Wespe provozieren – irgendwann wird sie einen stechen. Das ist eine alberne Analogie, aber wir, die iranische Bevölkerung, sind die Wespe in diesem Szenario. Und wir sind nicht nur Persinnen und Perser, zu uns gehören auch unsere kurdischen, türkischen, armenischen, lurischen, arabischen Brüder und Schwestern, um nur einige aufzuzählen. Das sind unsere Hamevatan.
Welche Form der internationalen Solidarität können Linke im Ausland angesichts der imperialistischen Aggressionen und Sanktionen der USA gegen den Iran leisten?
Das ist eine komplizierte Frage. Ich habe mich in der Vergangenheit oft darüber beschwert, wenn Amerikanerinnen und Amerikaner ihre Meinung zum Iran äußerten – denn sie sind oft schlecht informiert, bestehen aber trotzdem darauf, die lauteste Stimme zu sein. Ich möchte nicht, dass über den Iran gesprochen wird, nur um einen Punkt zu machen. Denn wenn unser Kampf für diese Leute langweilig geworden ist, und sie sich stattdessen Somalia oder Tschetschenien zuwenden, werden wir hier immer noch leiden.
Aber ich war positiv überrascht, als ich sah, dass so viele Menschen in den USA Videos und sogar Hashtags in Farsi teilten, um auf unsere Proteste aufmerksam zu machen. Ich glaube, Bella Hadid hat sogar einen Instagram-Post für Jîna gemacht. Ich habe kein Problem damit, dass Menschen im Ausland unsere Stimmen und Schicksale teilen, solange sie sich auch wirklich über die iranische Geschichte informiert haben.
Ich sage das sowohl für Leute, die die Proteste unterstützen, als auch für solche, die die iranische Regierung unterstützen (von denen ich nur allzu viele online gesehen habe). Ich habe mitbekommen, wie viele Menschen, die sich als »Antiimperialisten« bezeichnen, die Demonstrierenden als Marionetten des Westens kritisieren und Iranerinnen und Iraner belästigen, die Videos von den Protesten teilen. Dazu möchte ich sagen: Wenn Du zum Beispiel ein »antiimperialistischer« Amerikaner bist, der einer Iranerin sagen will, was sie über ihre Regierung zu denken hat, und behauptest, dass Du besser weißt, was im Iran vor sich geht, als wir, die wir das wahre Gesicht unserer Regierung gesehen haben, was unterscheidet Dich dann von einem Imperialisten?
Den Menschen, die unsere Proteste unterstützen, möchte ich sagen, dass sie sich wirklich über die verschiedenen iranischen Gruppen und die Forderungen des iranischen Volkes informieren sollten, um keinen Opportunisten auf den Leim zu gehen. Zum Beispiel hat sich die terroristische Sekte Mojahedin-e-Khalq (MEK) mit seiner Anführerin Maryam Rajavi kürzlich in das Frauenkomitee des NCRI [Nationaler Widerstandsrat des Iran] umbenannt und gibt sich nun als feministische Aktivistengruppe aus. Ich habe gesehen, wie viele Menschen aus den USA – auch solche iranischer Abstammung, die nicht mit der iranischen Politik vertraut sind – für diese Gruppe werben und ihre Follower in den sozialen Medien zu Spenden ermutigen. Sie tun das in der naiven Annahme, dass das Geld iranischen Frauen zugute kommt, ohne zu ahnen, dass sie stattdessen Rajavis Machstreben finanzieren. Ich habe auch gesehen, dass viele Menschen die Inhalte von Masih Alinejad weiterverbreiten, die ich persönlich für eine unaufrichtige Aktivistin halte, die unter dem Einfluss der USA als auch der Islamischen Republik steht.
Ich habe auch gesehen, wie Menschen in den USA »Skripte« erstellt haben, um ihre Kongressabgeordneten anzurufen, ihnen E-Mails zu schicken und sie zu ermutigen, dem Iran zu »helfen«. Das ist nicht im Interesse der iranischen Bevölkerung, denn es fördert nur jene ausländische Einmischung, die unsere Bewegung diskreditieren wird.
Die Progressive Internationale hat sich in vorbildlicher Weise mit den Streikenden von Haft Tappeh solidarisiert, indem sie deren Forderungskatalog in sieben Sprachen veröffentlichte. Die sozialistische Publikation New Politics hat sich auf ähnliche Art solidarisch gezeigt, als sie 2019 die Forderungen der Demonstrierenden veröffentlichte und auch weiterhin aktuelle Informationen über iranische politische Gefangene verbreitet und diejenigen kritisiert, die schweigen oder die Regierung unterstützen.
Internationale Solidarität sollte niemals die Situation eines Landes verschlimmern oder die hilfsbedürftige Bevölkerung bestrafen. Jede Staatsführung, die im Namen der Solidarität Sanktionen verhängt oder Panzer schickt, hat Hintergedanken und nicht die Absicht, wirklich zu helfen. Außerdem sollte internationale Solidarität nicht mit der Verbreitung von Propaganda einhergehen. Im Kontext des Irans oder auch Afghanistans ist es beispielsweise nicht hilfreich, Bilder von Miniröcken versus Hidschabs zu teilen. Das reduziert den Aufschrei der Bevölkerung auf ein Stück Stoff, während die Proteste in Wahrheit viel mehr bedeuten.
Im Westen meinen manche, es sei falsch, islamische Gesetze, die die Verschleierung vorschreiben, zu kritisieren. Sie halten das für »islamophob«. Was denkst Du darüber?
Ja, ich erlebe diese Diskussion sehr häufig, insbesondere unter Muslimen in den USA und in Großbritannien. Ich muss sagen, dass diese Bedenken vor allem von Männern geäußert werden, so sehr ich es auch hasse, anhand von Geschlecht Unterscheidungen aufzumachen. Viele Hidschabis und Niqabis haben sich mit den iranischen Frauen solidarisiert und erklärt, dass die Verhüllungspflicht den Sinn der Hidschab zunichte macht. Sie berufen sich auf den Koranvers Suratul al-Baqara 256, wo es heißt: »Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der richtige Weg ist nun klar erkennbar geworden gegenüber dem unrichtigen.« Das finde ich für unsere Sache besonders aussagekräftig und hilfreich.
Niemand hier ruft »Tod dem Islam«, niemand will den Iran vollständig vom Islam befreien. Das wäre auch nicht möglich. Der Iran ist seit dem 7. Jahrhundert ein muslimisches Land. Einige unserer größten literarischen Meisterwerke, die großen Sufi-Dichter, die Kultur der Sauberkeit und sogar die Einbeziehung von Reis in unsere nationale Küche – das alles ist auf den Islam zurückzuführen.
Vor der Revolution waren gleichermaßen verschleierte und unverschleierte Frauen zu sehen (mit Ausnahme des kurzzeitigen Verbots der Hidschab durch Reza Khan, den Vater des letzten Schahs des Irans, im Jahr 1936, wobei es auch zu Polizeigewalt kam); religiöse Feiertage wurden eingehalten; Reza Schah reiste nach Mekka; Farah Diba trug am Grab von Imam Hussein einen Tschador; viele Menschen besuchten die Moschee; und der Freitag war ein Tag der Ruhe und des Gebets. Ich erwähne diese Dinge nur, um noch einmal zu unterstreichen, dass niemand das Ende des Islam fordert.
Es ist auch sehr wichtig zu wissen, dass viele Demonstrierende selbst gläubig sind. Es ist unmöglich, als religiöser Mensch die Verbrechen der Islamischen Republik mitzuerleben und sie nicht im Gegensatz zum Islam oder auch jedem anderen Glauben zu sehen. Im Islam sagen wir: »Bismillah Rahman Rahim«, also »Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen«. Ein barmherziger und mitfühlender Gott kann es nicht gutheißen, wenn eine Frau zu Tode geprügelt und ein 10-jähriges Kind in den Armen seines Vaters erschossen wird.
In diesen Tagen ist dieselbe Generation, die 2019 gegen die Gaspreise demonstriert und die gewaltsame Niederschlagung ihrer Proteste erlebt hat, wieder auf den Straßen. Es ist unglaublich und inspirierend, dass die Menschen weiterhin kämpfen. Was bringt sie dazu, der Gefahr zum Trotz erneut aufzubegehren und zu kämpfen?
Wir hatten eine Revolution, die diese Regierung an die Macht gebracht hat; jetzt haben wir den freien Willen, sie abzusetzen. Und wenn wir nicht zufrieden damit sind, was nach der Islamischen Republik kommt, dann werden wir auch die nächste Regierung wieder absetzen. Nach meinem Gefühl haben wir nichts zu verlieren. Entweder wir warten ab und sind brav, nur um dann von der Revolutionsgarde erschossen, von der Sittenpolizei zu Tode geprügelt zu werden oder infolge der Misswirtschaft der Regierung zu verhungern – oder wir wehren uns und gehen das gleiche Risiko ein, zu sterben, wie wenn wir uns nicht wehren.
Und das hat auch eine religiöse Komponente. Die Revolution wurde damals vom Konzept des Märtyrertums angefacht. Dann hatten wir einen brutalen Krieg, in dem jeder tote Soldat zu einem Schahid [Märtyrer] wurde. Jede Straße ist eine Schahid-Straße. Und die Kinder von Schahids werden finanziell von der Regierung unterstützt und beim Concor [der standardisierten staatlichen Hochschulaufnahmeprüfung] belohnt.
Wir wurden 43 Jahre lang ermutigt, in den Lauf eines Gewehrs zu blicken und das Paradies zu sehen und mit einem Lächeln im Gesicht zu sterben. Wie kann man da jetzt überrascht sein, dass meine Generation furchtlos ist? Wir wurden kampfbereit geboren und haben keine Angst vor dem Tod.
Die Iranerinnen und Iraner kämpfen schon seit Jahrzehnten gegen die Unterdrückung durch ihre autoritäre Regierung. Was ist Deiner Meinung nach nötig, um dem Regime ein Ende zu setzen?
Das ist sehr schwer zu sagen oder vorherzusehen. Ich bin eine Linke, insofern klingt es wie ein Klischee, wenn ich fordere: »Alle Macht dem Volke« – aber ich glaube wirklich, dass das die richtige Lösung ist.
Allein in den letzten drei Jahren hat das Volk in Bolivien Luis Arce, in Chile Gabriel Boric und in Kolumbien Gustavo Petro an die Macht gebracht und damit brutale und unterdrückerische Führer abgelöst. Ich finde, dass sich Lateinamerika und der Nahe Osten in vielem ähneln: Beide Regionen wurden ausgebeutet worden; beide haben revolutionäre Bevölkerungen; in beiden klafft eine immense Lücke zwischen den vermögenden und den bäuerlichen Klassen; und beide sind sehr religiös. Wenn ich über die Zukunft des Irans nachdenke, blicke ich oft nach Lateinamerika, um Hoffnung und Inspiration zu finden.
Ich denke, es ist wichtig, dass die Proteste der Regierung den Spiegel vorhalten. Die Versprechen von Khomeini und den islamischen Revolutionären wurden nie eingelöst. Die Forderungen des Volkes unterscheiden sich nicht wesentlich von den Forderungen der Massen im Jahr 1978, nur dass heute soziale Freiheiten hinzugekommen sind. Der Großteil der derzeitigen Führung war während der Revolution von 1979 noch jung oder zumindest im mittleren Alter und wird sich bestimmt noch daran erinnern, welche Werte die Revolution vertrat, bevor die Kleriker die Bewegung zu dominieren begannen.
Vergleicht man den Sturz des Schahs 1979 mit dem kommenden Zusammenbruch der Islamischen Republik, so muss man feststellen, dass der Schah unvorbereitet war. Er wusste nicht wusste, wie unbeliebt er war. Er verließ das Land ohne großen Kampf – geschlagen, traurig und krank.
Die Führung der Islamischen Republik hingegen weiß, dass sie unpopulär ist, und hat sogar Leute in den eigenen Reihen, die das derzeitige System insgeheim hassen. Ayatollah Khamenei, Präsident Ebrahim Raisi und ihre Verbündeten werden, wie wir bereits gesehen haben, nicht friedlich abtreten, sondern versuchen, sich so lange wie möglich an der Macht festzukrallen.
Auch wenn es mir schwer fällt, das zu sagen: , Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass es zu einem Bürgerkrieg zwischen den Massen und der Führung kommt. Im besten Fall schließt sich das Militär dem Volk an und wendet sich gegen die Regierung. Ich sehe also leider noch weiteres Blutvergießen zwischen den Massen, der religiösen Elite und der Staatsführung kommen, bevor unser Ziel erreicht ist.
Welche Art von System oder Regierung würde Deiner Meinung nach wahrscheinlich auf eine weitere Revolution im Iran folgen, und was erhoffst Du Dir persönlich?
Ohne eine echte linke Führung oder auch nur Präsenz im Iran sind die Träume von Linken gegenstandslos. Wir werden uns mit dem zufrieden geben müssen, wofür sich die Mehrheit entscheidet. Mit dieser Tatsache habe ich mich bereits abgefunden. Wir werden uns aber weiterhin für die Arbeiterklasse einsetzen.
Realistisch betrachtet stehen uns nur wenige Optionen offen. Entweder gelingt es der Islamischen Republik, sich mit ein wenig Hilfe ihrer Freunde an der Macht zu halten; oder es gibt ein Referendum und das Volk stimmt für ein wirklich demokratisches und repräsentatives System; oder das Volk entscheidet sich für eine Monarchie und Reza Schah kann den Platz seines Vaters einnehmen; oder das Militär übernimmt die Macht und errichtet eine Militärdiktatur wie in Ägypten. Die beste dieser vier Alternativen beruht auf der Hoffnung, dass das Volk eine Regierung wählt, die die Massen wirklich repräsentiert. Die Optionen, die mir am meisten Angst machen, sind eine Militärdiktatur oder dass alles so bleibt, wie es ist.
Es gibt einige randständige Gruppierungen, die die Macht im Iran übernehmen wollen, aber wenig bis keine Unterstützung genießen. Die Gruppe mit der größten Basis ist die Mojahedin-e-Khalq, die ihre Hauptquartiere in Frankreich und Albanien hat und jedes Jahr einen »Free Iran«-Gipfel abhält, der von Leuten wie [New Yorks Ex-Bürgermeister und Trump-Anwalt] Rudy Giuliani und [dem ehemaligen CIA-Chef und Außenminister unter Trump] Mike Pompeo beehrt wird. Rajavi gaukelt dem Westen erfolgreich vor, sie würde eine feministische und gerechte Anführerin sein – dabei beging ihre Organisation Verbrechen gegen die iranische Bevölkerung, als sie sich während des Iran-Irak-Krieges auf die Seite Saddam Husseins stellte.
Die Aussicht, dass sie die Macht übernehmen könnte, ist wirklich beängstigend, vor allem angesichts ihrer jüngsten Versuche, sich erneut zu profilieren und von diesen Protesten zu profitieren. Auch wenn dieses Szenario unwahrscheinlich ist, müssen wir es doch im Hinterkopf behalten, um es zu verhindern.
Was ich mir für das iranische Volk erhoffe, ist ganz einfach: Ich wünsche mir, dass wir endlich ein Mitspracherecht bei unserer eigenen Regierung haben. Wir waren seit jeher eine Monarchie und sahen uns Invasionen mehrerer Imperien ausgesetzt. Der Westen fand in unserem Land Erdöl, stürzte unseren gewählten Premierminister durch einen britisch-amerikanischen Staatsstreich und finanzierte eine neue Monarchie. Wir haben dann eine Revolution begonnen, die aber unterwandert wurde, um die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Und nun bewegt sich seit fünfzig Jahren nichts.
Es ist an der Zeit, dass wir ohne Einmischung ausländischer Mächte über unsere Lebensumstände bestimmen können. Wofür auch immer sich die Massen entscheiden, ich werde es akzeptieren. Wie ich bereits sagte, wird der Kampf der Linken weitergehen. Wir werden uns weiterhin für die Arbeiterklasse, für Arbeitsrechte und so weiter einsetzen. Wir verdienen es, wohlhabend und unabhängig zu sein.
Parandeh ist eine iranisch-aserbaidschanische Künstlerin, Schriftstellerin und Organizerin.