19. Januar 2021
Neuwahlen und die Spaltung der Mitte-links-Regierung – in seinem Kalkül um Macht ist Ex-Premier Matteo Renzi jedes Mittel recht. Sein chaotischer Vorstoß könnte neoliberalen Technokraten den Weg in die Regierung ebnen.
Matteo Renzi in der Abgeordnetenkammer des Parlaments, 18. Juni 2020.
Ohne die Pandemie hätte Giuseppe Contes Regierung womöglich gar nicht erst bis zum jetzigen Zeitpunkt gehalten. Letzten Februar hatte der neoliberale Zentrist Matteo Renzi erst gedroht, die regierende Mitte-links-Koalition zu spalten, nur um sich kurz darauf wieder zu fügen. Und nun, wo Italien von einer zweiten Welle von Covid-19 erfasst ist, zieht Renzi die Minister seiner Partei Italia Viva ab – und stößt die Regierung in Richtung Kollaps.
Ministerpräsident Conte musste sich in seiner kurzen Karriere schon mehreren großen Krisen stellen. Im Juni 2018 übernahm der Juraprofessor die Führung einer Koalition, in der sich die wechselhafte Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und Matteo Salvinis rechtsextreme Lega zusammenschlossen. Während Salvini im Sommer 2019 in einem erfolglosen Versuch, Neuwahlen zu erzwingen, mit der Koalition brach, schloss die die Fünf-Sterne-Bewegung einen Deal mit den Mitte-links-Parteien und Conte blieb Ministerpräsident.
Conte ist parteilos und war bis zu seiner Ersternennung eine unbekannte Figur in der Politik. Doch sowohl seine Fähigkeit, im Sommer vor zwei Jahren eine neue Koalition zu bilden, als auch seine erste Reaktion auf die Pandemie haben sein Ansehen erhöht. Obwohl er über keine eigene parlamentarische Basis verfügt, ist Conte für viele moderate Linke zu einer Ikone geworden und wird sogar als Anwärter für die zukünftige Parteiführung der Fünf-Sterne-Bewegung gehandelt.
Doch Contes unbestrittenes Geschick im opportunistischen Schlagabtausch des zersplitterten italienischen Parlaments könnte nicht ausreichen, um seinen Job zu retten. Renzi, ein Gefolgsmann von Tony Blair und Emmanuel Macron, den es unentwegt ins Rampenlicht drängt, nutzt aktuell seinen politischen Einfluss, um Conte zu einem Rücktritt zu bewegen, und – so seine Hoffnung – die Bildung einer neuen Koalition zu erzwingen, die den Dogmen der Austeritätspolitik sklavisch ergeben ist.
Die Auseinandersetzung ist auch von persönlichen Fehden gezeichnet. Massimo D’Alema, ehemaliger Premierminister und alter Feind des Italia-Viva-Führers, hat für Renzis Versuch, Conte zu verdrängen, nur Spott übrig: »Der unbeliebteste Mann Italiens verlangt den Kopf des beliebtesten.« Doch die Krise hat auch tiefere Grundlagen. Sie fußt auf Wahlkalkül wie auch auf dem politischen Druck, den die Regierung in der Zeit nach der Pandemie wohl zu erwarten hat.
Die ideologischen Gefälle, die sich hier abzeichnen, sollten nicht überbewertet werden. So hat sich Contes zweite Regierung als wenig mehr denn moderat sozialdemokratisch erwiesen, selbst angesichts der Notwendigkeit dringender Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Scheiternde Firmen stütze die Regierung zwar (2020 im Rahmen der Teilverstaatlichung des Autobahnbetreibers Autostrade per l’Italia und der Rettung der Fluglinie Alitalia), doch im Vergleich zu dem seit über drei Jahrzehnten andauernden Ausverkauf öffentlicher Unternehmen, waren das eher kosmetische Eingriffe.
Dieser Mangel an Radikalität überrascht nicht. Die Fünf-Sterne-Bewegung, die größte Partei in der Koalition, ging zwar aus einer »Anti-Establishment«-Haltung hervor, die richtete sich allerdings eher gegen die Privilegien der Politiker als gegen die Sparmaßnahmen an sich. Die andere wichtigste Kraft, die Demokraten (PD), sind das direkte Produkt des Richtungswechsels der Linken hin zu liberal-europäischen Ideen in den 1990er und 2000er Jahren. Liberi e Uguali (LeU) und Italia Viva haben sich als kleinere Partner erst kürzlich von der PD abgespalten; und linkere Politikberaterinnen wie Mariana Mazzucato haben kaum Einfluss auf die Regierungsstrategie.
Doch während Contes Regierung neoliberale Annahmen oder europäische Ausgabenobergrenzen nie grundsätzlich in Frage gestellt hat, gehen den Italia-Viva-Hardlinern selbst moderate Zugeständnisse an Arbeit und Sozialstaat zu weit. Die Partei trägt die hysterischen Anklagen zentristischer Medien und Ökonomen der Bocconi-Schule weiter. Diese beschuldigen Conte etwa, ein »neues Venezuela« zu schaffen, und beschrieben das in Reaktion auf Covid-19 verhängte Entlassungsverbot als Maßnahme »im nordkoreanischen Stil«.
In Wahrheit war die Regierung lediglich zu schwach, um sich gegen die Lobbygruppen von Unternehmen zu behaupten. Sogar während des Lockdowns im letzten Frühjahr blieben einige Firmen in Betrieb. Die diesen Winter ausgerufenen »roten Zonen« haben noch weniger dazu beigetragen, die Arbeitenden zu Hause zu halten. Angesichts zunehmend verwirrender Maßnahmen schwindet das öffentliche Ansehen für Contes Pandemie-Politik – und damit auch die Hoffnung darauf, dass »alles gut wird«. Renzi versucht nun, diese Stimmung zu nutzen, um Contes Regierung zu stürzen.
Die Angriffe von Italia Viva auf Conte haben sich in den letzten Wochen vor allem auf die Pandemiemaßnahmen konzentriert. Die Partei weist dem Premier die Schuld für mangelnde Klarheit über die geplante Verwendung von Geldern aus dem Europäischen Rettungsfonds sowie für die Nichtnutzung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zur Finanzierung von Investitionen im Gesundheitswesen zu. Dieses Versagen beruht laut Italia Viva auf einer EU-Skepsis, die sich durch Contes Kabinett zieht. Sie werfen der Regierung vor, Schulden anzuhäufen, die auf jüngere Generationen abgewälzt werden, und gleichzeitig nicht in deren Zukunft zu investieren.
Tatsächlich aber haben Italia-Viva-Vertreter wie der Ökonom Luigi Marattin Privatisierungen nach 2008 und Ausgabenkürzungen, auch im Gesundheitswesen, vehement verteidigt. Während Renzis Amtszeit als Premierminister von 2014-16 wurde der Arbeitsschutz drastisch erodiert – und zwar unter der Prämisse, Chancen für die Jugend zu eröffnen. Doch der Fokus auf den ESM eignet sich besonders gut, um gegen die Fünf-Sterne-Bewegung zu wettern, die diesen seit langem als ein Instrument der EU kritisiert, das den italienischen Staatsausgaben lediglich »Bedingungen« auferlegen will. In Wirklichkeit haben solche Auflagen weniger mit dem ESM zu tun. Doch die politisch oberflächliche Fünf-Sterne-Bewegung greift lieber hier an, als sich größeren Problemen wie den Defizitfinanzierungsgrenzen oder der Notwendigkeit eines Schuldenerlasses zu stellen.
Mit einer Aussicht auf jämmerliche 3 Prozent scheint es unwahrscheinlich, dass Renzi und seine schwindende Schar von Anhängern wirklich vorgezogene Wahlen anstreben. Das würde ihren Ausstieg aus dem Parlament bedeuten. Angesichts des derzeitigen Sammelsuriums kleiner zentristischer Kräfte (wie +Europa oder Azione, die Partei seines ehemaligen Finanzministers Carlo Calenda, und sogar Teile von Silvio Berlusconis Forza Italia), hofft Renzi – der nie müde wird, sich selbst zu promoten – vielmehr, sich an die Spitze einer neuen zentristisch-europäischen Kraft zu katapultieren. Ob das nun innerhalb einer neuen Regierung oder auf den Oppositionsbänken geschieht, ist ihm dabei augenscheinlich gleichgültig.
Alle Zeichen deuten darauf hin, dass eine vorgezogene Wahl einem Mitte-rechts-Bündnis zu einer absoluten Mehrheit verhelfen würde, angeführt von Salvinis Lega (die Umfragewerte in den unteren 20 Prozent erzielt) und Giorgia Melonis postfaschistischer Fratelli d’Italia (mit hohen Werten im Bereich der 10 Prozent). Der dritte Teil dieses Bündnisses, Berlusconis Forza Italia, stiehlt der Lega derzeit Stimmen und liegt bei etwa 10 Prozent. Obwohl sich Berlusconi von den randalierenden Stürmern des Kapitols in Washington distanzierte, scheint es unwahrscheinlich, dass er mit seinen rechtsextremen Bündnispartnern bricht – einem Block, der über das Land verteilt die regionalen Regierungen dominiert.
Eine vorgezogene Wahl ist unter pandemischen Bedingungen unwahrscheinlich, müsste aber gleichzeitig mindestens sechs Monate vor Amtsausscheid des Präsidenten stattfinden – also vor August 2021. Genau aus diesem Grund ist eine Wahl in diesem Jahr nicht besonders wahrscheinlich. Da der Präsident von den Abgeordneten und Senatoren gewählt wird, liegt es nahe, dass die meisten amtierenden Gesetzgeber darauf abzielen, die Abstimmung über die Ablösung des Amtsinhabers Sergio Mattarella (PD) im Februar 2022 noch mit dem aktuellen Parlament stattfinden zu lassen. Obwohl der Präsident nicht Regierungschef ist, kann er in die Kabinetts- und Koalitionsbildung eingreifen.
Angesichts solcher strategischen Berechnungen sowie der anhaltenden Belastungen durch die Pandemie, käme den meisten amtierenden Abgeordneten eine Neuwahl nicht sonderlich entgegen – eine Art Umbesetzung oder politische Erweiterung der aktuellen Koalition, vielleicht immer noch unter der Führung von Conte, schon eher. Das kann nur funktionieren, wenn die derzeitigen Regierungsparteien neue Verbündete im Senat finden. Conte verbrachte die letzten Tage mit dem Versuch, zentristische Kräfte für sich zu gewinnen, sei es durch die Rekrutierung verschiedener Aussteiger der Fünf-Sterne-Bewegung und kleiner Parteien, die auch »Gemischte Gruppe« genannt wird, oder indem er einzelne Senatoren von Italia Viva und Berlusconis Forza Italia abwarb.
Wenn es jedoch eine Logik hinter Renzis Vorstoß gibt – abseits des bloßen Größenwahnsinns –, dann ist es die Bildung einer neuen Regierung mit der aktuellen parlamentarischen Basis, aber unter einer Führung, die noch offensiver neoliberal ist als die jetzige. Conte hat (ebenso wie die Fünf-Sterne-Bewegung) angekündigt, dass er sich nicht wieder mit Italia Viva zusammenschließen wird. Es besteht jedoch weiterhin die Möglichkeit, dass es Renzi gelingt, seine früheren Verbündeten dazu zu bewegen, eine neue Regierung zu unterstützen – eine, in der die Fünf-Sterne-Bewegung weiter an Einfluss verliert, und irgendein Technokrat mit dem Auftrag der politischen Kräftebündelung den Job des Premierministers übernehmen wird.
Ein Name, der in diesem Zusammenhang oft genannt wird, ist Mario Draghi, ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank und Held der Neoliberalen. Im Jahr 2011 spielte er eine Schlüsselrolle bei der Amtsenthebung der letzten Berlusconi-Regierung. Diese wurde trotz ihres Versprechens, Sparmaßnahmen zu befolgen, von führenden EU-Politikern als unzuverlässig eingestuft. Im Zuge dessen wurde Berlusconi durch den Goldman-Sachs-Berater Mario Monti und seine technokratische Regierung ersetzt, die einschneidende Sparmaßnahmen einführte – mit parlamentarischer Unterstützung sowohl von Mitte-links als auch Mitte-rechts.
Diesem Prozess kommt Renzis aktueller Vorstoß gegen die übriggebliebene »EU-skeptische« Fünf-Sterne-Bewegung sehr nahe – eine Kraft, die nicht etwa an die europäisch orientierte Mitte angeknüpft hat, sondern vor ihr regelrecht kapitulierte. Während die Basis der Fünf-Sterne-Bewegung zerbrach, nachdem sie zuerst mit der rechtsextremen Lega und dann mit der moderat linken PD koalierte, wird ihr parlamentarischer Rest wahrscheinlich jede Chance ergreifen, um Neuwahlen zu vermeiden. Dies geschah bereits im Sommer 2019, als die Fünf-Sterne-Bewegung mit der PD erstmals ein Bündnis einging. Sowohl ihr Gründer Beppe Grillo als auch Außenminister Luigi di Maio rufen heute zu einer Regierung der nationalen Einheit auf.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob Conte seine Koalition noch retten kann, ob eine Notlösung gefunden wird, oder ob die Rechte fast zufällig an die Macht kommt. Jede Regierung, die sich bildet, wird nach der Pandemie ein dramatisches Szenario erwarten: steigende Staatsverschuldung, ein schwer unterversorgtes öffentliches Gesundheitssystem und wahrscheinliche Massenentlassungen im Frühjahr. Durch einen Kuhhandel im Parlament und Dringlichkeitsappelle ließe sich wohl eine Koalition zusammenschustern, vielleicht geführt von nicht gewählten Technokraten. Am wenigsten aber sollten wir eine Regierung erwarten, die stark genug ist, um den sozialen Auswirkungen der Pandemie standzuhalten.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).