10. August 2021
Hilde Mattheis ist überzeugt: Eine Regierung im Interesse der Mehrheit wird es nur geben, wenn die drei Parteien links der Mitte zusammenarbeiten – trotz aller Differenzen.
Hilde Mattheis auf dem SPD-Parteitag am 08.12.2019.
Als es 2013 eine Mehrheit von SPD, LINKEN und Grünen mit 320 Sitzen im Bundestag im Vergleich zu 311 Sitzen von CDU/CSU gab, fehlte der Mut für eine rot-rot-grüne Regierung. In allen drei Parteien warben nur vereinzelte Stimmen für eine solche Koalition, so etwa das Forum Demokratische Linke 21 (DL21). Auch in den Medien wurde eher auf das Trennende als auf das Verbindende einer solchen Konstellation hingewiesen. Um jegliche Diskussion im Keim zu ersticken, wurde argumentiert, es gebe zwar eine parlamentarische Mehrheit für Rot-Rot-Grün, aber keine gesellschaftliche. Der Beweis dafür wurde bis heute nicht erbracht.
Ich will an der Stelle nicht den Blick auf den damaligen Kanzlerkandidaten der SPD richten oder die damalige Situation der beiden anderen Parteien beleuchten. Stattdessen stelle ich fest, dass die SPD im Jahr 2017 nach dieser vertanen Chance nur noch auf 20,7 Prozent kam; in den derzeitigen Umfragen zur Bundestagswahl 2021 liegt sie sogar immer unter 20 Prozent.
Nicht nur Kritikerinnen und Kritiker der GroKo stellen fest: Die SPD hat sich in den Großen Koalitionen abgeschliffen. Es hilft offensichtlich nicht, alle Verdienste der Sozialdemokratie in den Koalitionen mit CDU/CSU aufzuzählen. Es hilft auch nicht, zu betonen, was alles hätte passieren können, wenn es nicht durch die SPD verhindert worden wäre. Um zu überzeugen, braucht es stattdessen ein klares politisches Alternativkonzept links von CDU/CSU und FDP.
Politisch darf daher weder eine Ampel- noch eine Deutschland-Koalition oder eine Neuauflage der GroKo angestrebt werden – auch dann nicht, wenn die SPD vor den Grünen liegen sollte oder wieder an die Staatsräson der SPD appelliert wird.
Ich bin stattdessen der Meinung, dass in diesem Land wieder Politik gemacht werden muss, die kompromisslos auf Verteilungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Denn die politischen Antworten auf die Verschärfung der sozialen Ungleichheit und die Bedrohung durch den Klimawandel dulden keinen Aufschub. Es gilt die Interessen der Mehrheit auf unserem Planeten gegen die Macht des Kapitals durchzusetzen.
Dieser Appell ist kein Griff in die historische Mottenkiste, vielmehr beschreibt er eine Realität, von der liberale Freiheitsversprechen oder Versprechen einer sozialen Marktwirtschaft nicht ablenken dürfen. Wer auf die Verantwortung für Kinder und Kindeskinder verweist, muss in diesem Sinne auch Verantwortung übernehmen.
»Die Mehrheit wünscht sich, dass sich der Staat für den Abbau von Einkommensunterschieden engagiert.«
Die vorläufige Bilanz der Corona-Pandemie unterstreicht das eindringlich. Unser Raubbau an der Natur wirkt sich direkt auf die menschliche Gesundheit und Lebensqualität aus und benachteiligt diejenigen, die sowieso wenig haben, umso mehr. Corona hat die soziale Ungleichheit verschärft und die Teilhabemöglichkeiten für benachteiligte Bevölkerungsgruppen nochmals eingeschränkt, gerade auch aufgrund von Lohneinbußen. Der Zusammenhang zwischen Wohnsituation und Infektionsrisiko, zwischen Beschäftigungsverhältnis und finanzieller Notlage, zwischen den materiellen Voraussetzungen einer Familie und den Bildungschancen ihrer Kinder ist unübersehbar geworden.
Dieses hohe Ausmaß an sozialer Ungleichheit schlägt sich in der Einstellung der Bevölkerung nieder. Nur knapp die Hälfte erachtet das eigene Einkommen als angemessen. Vor allem niedrige Löhne werden als ungerecht wahrgenommen. Die Mehrheit wünscht sich, dass sich der Staat für den Abbau von Einkommensunterschieden engagiert – in Westdeutschland befürworten das fast drei Viertel der Menschen, in Ostdeutschland sogar 80 Prozent.
Warum also sollte sich die SPD noch länger mit Kompromissen zufrieden geben, wenn diese Politik der Kompromisse in den vergangenen Jahren die Ungleichheit verschärft hat und die Bekämpfung von Ungleichheit zur politischen DNA der SPD gehört? Die Eigentumsfrage muss also wieder als Machtfrage verstanden werden und sozialökologische Ziele müssen in den Mittelpunkt rücken.
Der SPD muss klar sein, dass sie mit den Parteien, mit denen sie die größten Gemeinsamkeiten hat, politisch mehr umsetzen können wird.
Der alte Trick der politischen Gegner, linke und progressive Politik als Bedrohung für Wachstum und Wohlstand abzustempeln, darf nicht weiter funktionieren. Auf diesen Trick sollte man nicht hereinfallen. Wenn Rot-Rot-Grün zum Unwort im Wahlkampf wird, haben Konservative und Marktradikale bereits gewonnen. Die SPD darf keine Angst vor der Umsetzung der eigenen Grundwerte haben. »Sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat!«, erkannte schon Rosa Luxemburg. An dieser Leitlinie sollte sich die SPD orientieren und klar aussprechen, dass Bündnisse mit CDU und FDP nicht zu einer sozial-ökologischen Transformation führen, sondern maximalen Stillstand bedeuten.
In den Medien ist immer wieder zu lesen, dass es mit der FDP als vermeintlich progressiver Partei möglich wäre, neue zukunftsgewandte Mehrheiten zu schaffen. Auch in der SPD glauben viele, dass eine Ampelkoalition die beste Option für die Regierungsbildung sei. Dem ist nicht so. Die FDP hat ein Wahlprogramm vorgelegt, das insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik die alten, falschen neoliberalen Weisheiten in neuem Gewand verkauft. Sie werden lediglich hübscher verpackt als in vergangenen Wahlkämpfen.
Wer das liberale Manifest liest, fühlt sich bisweilen so, als würden die 2000er Jahre mitsamt ihrem neoliberalen Geist zurückkehren. So hält die FDP etwa weiterhin an der Profitorientierung und Privatisierung der Deutschen Bahn fest, obwohl diese krachend gescheitert ist. Ausgaben für Soziales werden noch immer nicht als Investition in die Zukunft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt verstanden, sondern gelten lediglich als Mühlstein am Hals der Wettbewerbsfähigkeit. Die FDP will die gesetzliche Rente weiter entkernen, Menschen noch länger arbeiten lassen und die spekulative Aktienrente fördern, anstatt die staatliche Altersvorsorge zukunftsfest zu machen. Auch die Lösung der Wohnungskrise soll alleine der Markt regeln. Auf den Gebieten gute Arbeit, Klimaschutz und Gesundheit hat die FDP inhaltlich wenig bis gar nichts zu bieten.
Am sichtbarsten sind die kaum überbrückbaren Unterschiede zwischen SPD und FDP aber in der Steuerpolitik. Die Mitglieder der SPD haben im Zukunftsprogramm ein überzeugendes Steuerkonzept vorgelegt, dass dringend notwendige Umverteilung vorsieht. Kleine und mittlere Einkommen sollen entlastet, Wohlhabende stärker besteuert werden. Zum sozialdemokratischen Steuerkonzept gehören auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die überfällige Einführung der Finanztransaktionssteuer. Zu Letzterem schweigt die FDP. In allen übrigen Punkten fordern die Liberalen genau das Gegenteil der SPD: Keine Vermögenssteuer, Entlastung der Reichen und Kürzungen beim Sozialstaat. Diese überholte Agenda widerspricht der Programmatik der SPD.
»Eine Politik von links, die darauf setzt, dass sich Veränderungen mit Zustimmung des Kapitals bewirken lassen werden, scheitert.«
Wer also eine Koalition mit der FDP schmieden will, darf davor nicht die Augen verschließen. Kompromisse mit den Liberalen bedeuten für die Sozialdemokratie immer Abstriche bei ihren zentralen Überzeugungen. In einer Ampelkoalition wird sich die inhaltliche Aushöhlung der SPD fortsetzen. Das will nach meinem Dafürhalten die Basis der SPD nicht.
Mit Rot-Rot-Grün gibt es eine klare und richtungsweisende politische Alternative. SPD, Grüne und Linkspartei wollen den sozial-ökologischen Wandel angehen und haben eine bemerkenswert große inhaltliche Schnittmenge, die es für eine Koalition zu nutzen gilt. Bei Arbeit, Sozialem, Steuern, Wirtschaft, Gesundheit und Klima sind sich die Parteien in vielen Punkten einig.
Alle drei Parteien sollten daher Rot-Rot-Grün klar als favorisierte Koalitionsoption benennen. Eine Alternative zu einer Koalition des Rückschrittes unter CDU-Führung und mit FDP-Beteiligung kann öffentlich nur so glaubwürdig vertreten werden. Die Menschen in Deutschland haben die Wahl. Diejenigen, die für die drei Parteien an vorderster Stelle kämpfen, sollten deutlich machen, welche grundlegende Entscheidung für eine bessere Zukunft sie dabei nutzen sollten.
Portugal hat gezeigt, dass ein Gegenentwurf zu einer konservativen oder marktradikalen Politik erfolgreich sein kann.
Voraussetzung dafür ist allerdings der Glaube an ein progressives Bündnis. Eine Politik von links, die darauf setzt, dass sich Veränderungen mit Zustimmung des Kapitals bewirken lassen werden, scheitert. Ein Wahlkampf, der betont, was SPD, Grüne und LINKE voneinander trennt, nutzt vor allem der CDU/CSU und der FDP.
Wie es gehen könnte, zeigt ein Blick nach Portugal. Dort ist eine Regierung erfolgreich, die in einem rot-rot-grünen Bündnis mit einer schrittweisen Abkehr vom Neoliberalismus hohe Zustimmung erfährt. Portugal hat damit als erstes Land in Europa gezeigt, dass eine Rücknahme der Austeritätspolitik zum wirtschaftlichen Erfolg führen kann. Premierminister Antonio Costa ist keine Koalition eingegangen, er hat sich vom Linksblock und der kommunistischen Partei tolerieren lassen. Diese konnten dadurch ihre kritische Haltung zu NATO und EU beibehalten.
»Das ewige Offenhalten von Machtoptionen macht aus dem Stimmzettel der Wählerinnen und Wähler eine Wundertüte.«
Dieser »linke Pragmatismus« ermöglichte die Rücknahme von Sozialkürzungen, die Anhebung des Mindestlohnes und den Stopp der Privatisierung öffentlicher Infrastruktur. Seit dem Amtsantritt von Antonio Costa lag das portugiesische Wirtschaftswachstum konstant bei 2 bis 3 Prozent, die Arbeitslosigkeit hat sich in seiner ersten Amtszeit halbiert. Damit hat der Premier bewiesen, dass soziale Politik innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion durchaus möglich ist. Aber nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch alle drei Parteien haben von dem Experiment profitiert.
Es kommt also darauf an, dem gesellschaftlichen Wunsch nach gerechter Politik Rechnung zu tragen und die Abkehr vom Neoliberalismus offensiv zu vertreten. Portugal beweist, dass auf dieser Basis andere inhaltliche Differenzen überbrückt werden können, wenn alle Parteien durch die Zusammenarbeit etwas zu gewinnen haben. Was es braucht, ist ein klarer politischer Wille zur Kooperation, Verbindlichkeit und Arbeitsteilung.
Rot-Rot-Grün kann nur dann begeistern, wenn die betreffenden Parteien überzeugt und willensstark hinter diese Koalition stehen und für sie werben. Das ewige Offenhalten von Machtoptionen macht aus dem Stimmzettel der Wählerinnen und Wähler eine Wundertüte. Wer einen progressiven Aufbruch und echte Veränderung will, muss das auch deutlich aussprechen. Diesen Mut müssen SPD, Grüne und LINKE endlich aufbringen. Unser Angebot für die Bundestagswahl 2021 sollte nichts Geringeres als ein linkes Reformbündnis sein.
Hilde Mattheis, MdB, Bundesvorsitzende DL21 – Die Linke in der SPD
Hilde Mattheis ist Mitglied des Bundestags und Bundesvorsitzende von DL21 – Die Linke in der SPD