09. November 2023
Vor über 90 Jahren geschrieben, dann auf der Flucht vor den Nazis verschollen, erscheint endlich das »Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten« von Max Beer. Das Buch liefert neue Anstöße, sich mit vergessenen Figuren der Arbeiterbewegung zu befassen.
Max Beer, Datum unbekannt.
Wikimedia Commons/Ian Max BeerIn Zeiten von Wikipedia erscheint die Publikation eines Buches mit dem Titel Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten ungewöhnlich. Und auch das Buch, sein Autor Max Beer und seine Entstehungsgeschichte selbst sind ungewöhnlich.
So besuchte ich im Jahr 2013 – eher zufällig – das Yad Tabenkin Archiv, welches das Archivgut der säkularen israelischen Kibbutzbewegung aufbewahrt, erhält und für die Forschung nutzbar macht. Der Leiter des Archivs, Dr. Azati, zeigte mir bei diesem Besuch diverse deutschsprachige Archivalien, für deren tiefergehende Erforschung dem Archiv derzeit leider die Ressourcen und Kapazitäten fehlen. Mehrere Archivboxen trugen die englische Bezeichnung Encyclopedia of Socialism. Der Autor ihres Inhalts hieß Max Beer (1864–1943) und die Boxen enthielten unzählige schreibmaschinengeschriebene Blätter mit Kurztexten über bedeutende Persönlichkeiten der internationalen sozialistischen Bewegung; ein Typoskript, alphabetisch geordnet, teilweise mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen versehen. Aus eben diesen Archivalien entstand das Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten. Das Buch liefert neue Perspektiven auf die sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts und Anstöße, sich mit bisher vergessenen Personen der sozialistischen Geschichte auseinanderzusetzen.
Max Beer hatte das ursprüngliche Material 1933 bei seiner Flucht aus Deutschland nach England retten können, wo er 1943 starb. Danach nahm seine Tochter Hetty (eigentlich Hedwig Esther; 1914–2007), Chawera des Kibbuz Beit HaShita, das Typoskript mit nach Israel und übergab es in den 1980er Jahren dem Yad Tabenkin Archiv. Seither lag es dort unbeachtet und harrte einer weiteren Bearbeitung.
»Der heute nahezu unbekannte Max Beer galt zu seinen Lebzeiten innerhalb und außerhalb der internationalen Arbeiterbewegung als viel beachteter und anerkannter Journalist und Publizist.«
Der Buchtitel der heutigen Publikation zeigt an, dass es sich nicht um ein aktuelles Nachschlagewerk handelt, auch wenn der Autor dies ursprünglich im Sinn hatte. Das Handlexikon bildet Beers Informationsstand des Jahres 1932 ab; danach nahm er nur noch wenige Ergänzungen in seinem Typoskript vor.
Der heute nahezu unbekannte Max Beer galt zu seinen Lebzeiten innerhalb und außerhalb der internationalen Arbeiterbewegung als viel beachteter und anerkannter Journalist und Publizist. Seine Bücher wurden ins Englische und in mehr als ein Dutzend weitere Sprachen übersetzt. Dennoch spielt Beer heute in der historischen Forschung keine Rolle.
Max Beer verkörpert in typischer Weise einen aus jüdischem Elternhaus in Mittel- und Osteuropa stammenden Intellektuellen mit internationalistischen Idealen, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts der marxistischen Arbeiterbewegung anschloss. Zu diesem Typus können in Beers Geburtsjahrzehnt auch Persönlichkeiten wie Kurt Eisner, Hugo Haase, Rosa Luxemburg oder Charles Rappoport gezählt werden.
Max Beer wurde am 10. August 1864 als Mosche Beer im galizischen Tarnobrzeg geboren, das damals zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehörte. Im Alter von zwölf Jahren, nach dem Besuch des Cheder, der religiösen jüdischen Elementarschule, besuchte er die öffentliche, weiterführende Schule, die er 1879 als Klassenbester abschloss. Als Autodidakt brachte er sich Französisch bei und las philosophische Texte.
Um der extremen Armut und dem immer stärker werdenden Antisemitismus in Ostgalizien zu entfliehen, wanderte Beer 1889 ins Deutsche Kaiserreich aus. In der rheinischen Industriestadt Remscheid fand er zuerst Beschäftigung als Arbeiter, und absolvierte dann eine Lehre als Schriftsetzer bei einer konservativen örtlichen Zeitung, in der er 1891 seinen ersten Zeitungsartikel veröffentlichte. In Remscheid kam Beer erstmals mit der immer stärker werdenden sozialdemokratischen Bewegung in Kontakt, der er sich bald anschloss. 1892 verließ er die Stadt, ging einige Monate auf Wanderschaft, bis er im Sommer desselben Jahres für 22 Monate stellvertretender Redakteur der sozialdemokratischen Magdeburger Volksstimme wurde. Gleichzeitig übernahm er für diese Zeitung die Funktion des verantwortlichen »Sitzredakteurs«, der im Falle von Anklagen der Zensurbehörden die Verurteilung im Gefängnis »absitzen musste«. Beer »sammelte« so insgesamt 14 Monate Haftstrafen an.
Dem »sozialistischem Agitator und Ausländer« wurde nahegelegt, Preußen zu verlassen. Deshalb ging Beer 1894 nach London. Mit Vorträgen, Sprachunterricht und Korrespondenzen für deutschsprachige sozialdemokratische Zeitungen sicherte er in der Folgezeit sein Auskommen. Als Zeitungskorrespondent in London, dann in Paris, in New York und schließlich wieder in London, machte Beer die Bekanntschaft wichtiger Persönlichkeiten der internationalen sozialistischen Bewegung.
»Bis 1932 hatte Max Beer für sein Handbuch bereits mehrere Hunderte Einträge erstellt. Hätte er es damals bereits bis zur Publikationsreife gebracht, stünde es in einer Reihe mit den anderen bemerkenswerten Bänden der Schriften des Instituts für Sozialforschung.«
Als das Deutsche Kaiserreich mit seinem Verbündeten Österreich–Ungarn die Welt im August 1914 in den imperialistischen Ersten Weltkrieg stürzte, wurde aus dem geachteten Auslandskorrespondenten des Vorwärts plötzlich ein »feindlicher Ausländer«. Beer wurde zusammen mit seiner inzwischen sechsköpfigen Familie ausgewiesen und musste Großbritannien im Mai 1915 verlassen. Während des Krieges lebte Beer in Berlin. Hier arbeitete er als Übersetzer und erweiterte seine bereits 1913 veröffentlichte Geschichte des Sozialismus in England in das zweibändige Werk A History of British Socialism, das er 1920 in London im renommierten Verlag Allen & Unwin publizieren konnte. Daneben recherchierte er im Auftrag des Verlags für Sozialwissenschaft für seine Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, die erstmals 1919 bis 1923 erschien und bis 1931 mehrere Ergänzungen und Auflagen erlebte.
1927 bot der russische Marxist und Archivar David Rjasanow Beer den Posten des Hauptbibliothekars der englischen und amerikanischen Abteilung im Marx-Engels-Instituts an. Im November trat Beer die Stelle an und arbeitete dann ein halbes Jahr lang in Moskau; im April 1928 kehrte er nach Deutschland zurück. In seiner Autobiografie merkt er an, dass er seine Familie nicht hatte überzeugen können, ihm in die Sowjetunion zu folgen.
Zurück in Deutschland wandte er sich der nächsten Großaufgabe zu, bei einer jungen Institution, die einen engen Arbeitskontakt mit dem Moskauer Institut pflegte. Vom Frankfurter Institut für Sozialforschung erhielt er den Auftrag zur Erstellung eines Lexikons des Sozialismus. Dies geschah wohl auf Anregung des ersten Institutsdirektors, Carl Grünberg. Das Nachschlagewerk sollte sowohl über Organisationen als auch über Persönlichkeiten der internationalen sozialistischen Bewegung informieren. Damit passte es genau in Grünbergs marxistische, aber undogmatische Zielsetzung für das Institut, den Marxismus und die Arbeiterbewegung in deren gesamter Breite zu beschreiben, ohne sie zu bewerten, oder sich in die Tagespolitik einzumischen: »Gegenstand der Arbeit im Institut wird sein: vor allem die Erforschung und Darstellung der sozialen, der Arbeiterbewegungen in allen ihren – politischen gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen und sonstigen – Erscheinungsformen, aber auch der im Gegensatz zu ihnen erwachsenen Bewegungen; … endlich die genetische Durchleuchtung der sozialen Theorien, der sozialistischen ebensowohl wie der nichtsozialistischen. All das unter Heranziehung und Verwertung alles irgendwie erreichbaren Materials … Daß das Institut sich der Tagespolitik schlechthin fernhalten wird, habe ich bereits betont.«
Bis 1932 hatte Max Beer für sein Handbuch bereits mehrere Hunderte Einträge erstellt. Hätte er es damals bereits bis zur Publikationsreife gebracht, stünde es in einer Reihe mit den anderen bemerkenswerten Bänden der Schriften des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main, etwa Friedrich Pollocks Habilitationsschrift Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917–1927, oder: Karl August Wittfogels Wirtschaft und Gesellschaft Chinas.
Die Machtübergabe an die deutschen Faschisten gefährdete Beers Leben existenziell. 1933 verließ er Deutschland und ging nach England ins Exil. Glücklicherweise konnte er seine Unterlagen auf der Flucht mitnehmen. Es stellte sich aber heraus, dass an eine Publikation nicht mehr zu denken war, zumal sich auch unter dem neuen Direktor Max Horkheimer der Arbeitsschwerpunkt des Instituts für Sozialforschung diametral verschoben hatte. Gezwungen, den Lebensunterhalt in seinem Gastland zu verdienen, gab Beer die Arbeit am Lexikon weitgehend auf.
In seiner 1935 erschienenen Autobiografie beschreibt Max Beer seinen Frankfurter Auftrag folgendermaßen: »Dort schrieb ich für die Publikationsabteilung des Instituts ein zweibändiges Werk in Form eines Handlexikons (concise encyclopaedia) über die Führer, Aktivisten und Ziele der verschiedenen Sozial– und Arbeiterbewegungen, mit seinem Fokus auf die letzten 150 Jahre.« Bei seiner Recherche orientierte sich Beer stark am 1924 in Frankreich erschienenen Grand dictionnaire socialiste du mouvement politique et économique national et international von Adéodat Compère-Morel.
Das im Yad Tabenkin Archiv gelagerte Typoskript besteht aus mehr als tausend Blättern mit mehreren hundert Einträgen, eingeteilt in einen Personen- und in einen Organisationenteil. Im Laufe seines Exils ergänzte und bearbeitete Max Beer in Letzterem immer wieder die Einträge. Im Personenteil jedoch korrigierte er nur einzelne Einträge. Diverse davon markierte er als bereits publikationsfertig. So bot es sich an, diesen Personenteil von Beers Typoskript als abgeschlossenen Teil zu publizieren. Das Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten spiegelt Beers Wissensstand bis zum bis zu diesem Jahr wider und stellt in seiner Unabgeschlossenheit eine Art Zeitkapsel dar. Als Beer Anfang 1933 die Arbeit unterbrechen musste, lebten 40 Prozent der von ihm beschriebenen Personen noch. Das legt den Schluss nahe, dass das Lexikon eher als ein aktuelles Nachschlagewerk gedacht war, um bestimmte Aktivisten oder Funktionäre und deren politische Haltungen bewerten zu können.
Das jetzt herausgegebene Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten umfasst 565 Personeneinträge. Wahrscheinlich hätte Beer aber weitere Personeneinträge erstellt. Eine große Anzahl der aufgeführten Personen kannte Max Beer persönlich. Anders als die heute übliche Verengung, umfasst Beers Definition von »Sozialismus« eine ideologische Bandbreite, die weit über Sozialdemokratie und Kommunismus reicht. Er berücksichtigt auch Sozialreformer (z. B. Ernst Abbe) und Anarchisten (z. B. Bakunin). Gleichzeitig schließt Beer auch jene »Abtrünnigen« nicht aus, die zwar in der sozialistischen Bewegung begannen, aber in anderen, teils völlig gegensätzlichen, politischen Ideologien endeten. Das markanteste Beispiel eines solchen Falles stellt Mussolini dar.
»Obwohl sich die sozialistische Bewegung als internationalistisch verstand, war sie doch in der Realität eine vorwiegend europazentrierte Bewegung. Außerhalb Europas spielte nur die USA eine gewisse Rolle.«
Als Beer 1929 seine Recherchen für das Handlexikon begann, besaßen die Frauen Europas erst seit kurzer Zeit das Wahlrecht, in den Staaten Mitteleuropas meist seit 1918 oder 1919. Im Vereinigten Königreich wurde die vollständige elektorale Gleichberechtigung erst 1928 eingeführt, während die Frauen in Frankreich nicht vor 1945 auf kommunaler und staatlicher Ebene wählen durften. Geschlechterdiskriminierung wirkte auch auf und in die fortschrittlichen sozialen Bewegungen. Zwar organisierten sich Frauen (etwa in den Gewerkschaften) in großer Anzahl, mehr noch, sie versahen durchaus wichtige Arbeiten; dennoch waren führende Funktionärinnen äußerst selten. So verwundert auch die »Männerdominanz« in Beers Handlexikon wenig. Unter fünf Prozent der Einträge beschreiben Frauen. Damit spiegelt das Lexikon sehr genau die Genderverhältnisse in der damaligen Arbeiterbewegung.
Eine weitere »Personengruppe« bringt es auch nur auf wenige Einträge in Beers Lexikon: die eigenständige jüdische Bewegung innerhalb der arbeitenden Klasse. Persönlichkeiten des sozialistischen Zionismus, etwa aus der Bewegung Poale Zion, fehlen vollständig. Dagegen führt Beer mit Liber, Martow, Medem und Nachimson zumindest vier Funktionäre des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes (Der Bund) auf, sowie Libermann, den Herausgeber der ersten jüdisch-sozialistischen Zeitschrift Ha-Emet. Die jüdische Herkunft erwähnt Beer nur in 39 Personeneinträgen, doch bei weiteren, etwa bei Hessia Helfman oder bei Alexander Parvus führt er sie nicht an.
Ein Wort zur »Geografie« der Einträge: Obwohl sich die sozialistische Bewegung als internationalistisch verstand, war sie doch in der Realität eine vorwiegend europazentrierte Bewegung. Außerhalb Europas spielte nur die USA eine gewisse Rolle. Und so stammt auch die weit überwiegende Anzahl der Persönlichkeiten aus Europa einschließlich Russlands, respektive der Sowjetunion, gefolgt von jenen aus Nordamerika. Nur eine verschwindend geringe Anzahl der Einträge beleuchtet Personen aus Lateinamerika, Asien, Australien oder Afrika. Erwähnt werden sollte jedoch auch die »politische Migration«, die anhand vieler Einträge deutlich wird. Viele der von Beer dargestellten politischen Aktivisten waren – wie er selbst – zu gewissen Zeiten gezwungen, ihre Heimat oder ihren Wirkungsbereich zu verlassen, um in einem anderen Land Schutz und/oder Arbeit zu suchen. So führt das Lexikon diverse Persönlichkeiten auf, die ihre Wurzeln in einem Land Europa hatten und in einem anderen Land, oder gar am anderen Ende Welt (meist in Nordamerika) politisch aktiv blieben oder wurden.
Die heutige Publikation des Handlexikons ermöglicht es, den heute ideologisch verengten Blick auf die sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu weiten und Personen zu »entdecken«, die eine weitere historisch-biografischen Erforschung verdient hätten.
Max Beers Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten, herausgegeben von Günter Regneri, erscheint am 9. November im Brumaire Verlag.
Günter Regneri verdient derzeit seinen Lebensunterhalt als Lokführer einer Werkbahn. Für diese fährt er Güterzüge durch die Lausitz. Der studierte Historiker hat ein neunzig Jahre altes Manuskript von Max Beer redigiert und im Brumaire Verlag als Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten 1932 herausgegeben. Er ist Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.