14. Dezember 2023
Als Günter Regneri verstaubte deutsche Manuskripte in einem israelischen Archiv durchsieht, stößt er auf Ungeahntes: ein akribisch ausgearbeitetes, dann aber in Vergessenheit geratenes Lexikon der sozialistischen Bewegung, geschrieben im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
»Als Jude und Marxist ist Beer 1933 gezwungen, Deutschland zu verlassen. Es gelingt ihm, das Manuskript nach England ins Exil mitzunehmen. Aber niemand will es veröffentlichen.«
Im Jahr 1928 erhält der Historiker und Journalist Max Beer einen Auftrag: Er soll bitte ein Lexikon des Sozialismus schreiben für das Institut für Sozialforschung in Frankfurt — hunderte Seiten von Einträgen über linke Persönlichkeiten, mit einer Bandbreite, die weit über Sozialdemokratie und Kommunismus hinausgeht.
Doch der Aufstieg der Nazis zwingt Beer zur Flucht. Er kann sein weit fortgeschrittenes Manuskript zwar retten, aber nicht mehr veröffentlichen. Nach seinem Tod gelangt das Werk über seine Tochter Hetty Beer nach Israel. Jahrzehntelang liegt es unbeachtet im Yad-Tabenkin-Archiv, dem Forschungs- und Dokumentationszentrum der israelischen Kibbutz-Bewegung. Erst 2013 sichtet der Historiker Günter Regneri das Manuskript, redigiert und überarbeitet es, bis es nun mit 91 Jahren Verspätung erschien.
Man stößt nicht jeden Tag auf ein verschollenes, neunzig Jahre altes Manuskript für das Institut für Sozialforschung. Wie bist Du überhaupt auf den Text aufmerksam geworden?
Ich bin 2013 nach Israel gefahren, um die israelische Schwesterorganisation der Falken zu besuchen. Eine Genossin hat mich dann mitgenommen in das Yad-Tabenkin-Archiv in der Nähe von Tel Aviv. Der Direktor war wirklich erfreut, dass ein Historiker aus Deutschland kam, denn sie haben im Archiv ganz viele deutschsprachige Materialien.
Während der Zeit des Nationalsozialismus sind viele deutschsprachige Jüdinnen und Juden nach Israel eingewandert, die natürlich ihre Sprache mitbrachten und auch ihre Briefe, Tagebücher und Bücher, die dann nach ihrem Tod in diese Archive gelangten. Alle israelischen Archive haben gerade das Problem, dass diese alten deutschen Jüdinnen und Juden sterben und die meisten Menschen in Israel kein Deutsch mehr sprechen. Es gibt also nur noch wenige, die diese Materialien bearbeiten und erforschen können.
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Günter Regneri verdient derzeit seinen Lebensunterhalt als Lokführer einer Werkbahn. Für diese fährt er Güterzüge durch die Lausitz. Der studierte Historiker hat ein neunzig Jahre altes Manuskript von Max Beer redigiert und im Brumaire Verlag als Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten 1932 herausgegeben. Er ist Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.