10. Dezember 2025
Der Wert der Menschenrechte wird in Politik und Debatten zunehmend infrage gestellt. Doch auch wenn es so scheint, als ließe sich der rechte Zeitgeist nur durch Zugeständnisse befrieden, kann es in dieser Frage keine Kompromisse geben.

Ein Schiff von Ärzte ohne Grenzen rettet Geflüchtete auf ihrem Weg von Libyen nach Italien, 16. März 2024.
Der Tag der Menschenrechte ist eine gute Gelegenheit, um festzustellen: Das Streben nach Menschenrechten ist nicht mehr demokratischer Konsens. Längst erodiert er hinter einem allgegenwärtigen »Aber«. Dieses »Aber« scheint zunehmend Ausdruck einer (noch) verdrängten Zerstörungslust zu werden, die laut Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey um sich greift. Der kann man nicht einmal mehr mit den pragmatischsten Argumenten für eine menschenrechtsorientierte Politik begegnen.
Auf einer Familienfeier, kurz vor Veröffentlichung unseres Dokumentarfilms Kein Land für Niemand über die deutsch-europäische Abschottungspolitik, hatte ich die erste und wohl auch heftigste Begegnung mit der Brutalität hinter dem »Aber«: »Toll mit eurem Film, aber eine Sache muss ich dir dazu sagen: Wenn Menschen sich nicht selbst versorgen können, muss man sie manchmal auch sterben lassen.« Der Satz stammt von einem traditionellen FDP-Wähler und Unternehmer.
So obszön, aber so ehrlich wie hier, zeigt sich die Zerstörungslust nach dem »Aber« selten. In den folgenden Monaten, in denen wir mit dem Film durch Deutschland tourten, sind uns jedoch immer wieder Anflüge davon begegnet: »Menschenrechte sind wichtig, aber nicht jeder Mensch ist gut.« Oder: »Es ist ja alles richtig, was ihr sagt und zeigt, aber ihr treibt die Polarisierung damit voran!« Das mag im Hinblick auf den Rechtsruck beim Migrationsthema sogar stimmen. Das Problem ist: Man kann sich bei Menschenrechtsfragen nicht in der Mitte treffen oder sie zur politischen Befriedung gänzlich aus dem Spiel nehmen.
Wie begegnet man also einem »Aber«, das den notwendigen Konflikt um Menschenrechte lustvoll verhindert? Drückt sich in dieser Form diskursiver Verdrängung eventuell längst der destruktive Zeitgeist aus? Solange gesenkte Ankunfts- und erhöhte Abschiebezahlen fast im gesamten politischen Spektrum als Erfolg gefeiert werden, müssen wir über das »Aber« sprechen.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beschreiben in Zerstörungslust die Konturen eines demokratischen Faschismus, der nicht im Gegensatz zum Liberalismus steht, sondern sich aus seinem Menschenbild, seinen Widersprüchen und seinen enttäuschten Versprechen speist. Sie stellen eine wachsende Zerstörungslust als Ventil für das eigene »blockierte Leben« fest, die sich gegen die Würde und das Leben anderer richtet. Die Schambehaftung solcher Haltungen scheint ihren Ergebnissen folgend vor allem weiter rechts der Mitte zu schwinden.
Mit dem »Aber« scheint das Tabu zumindest noch intakt. Aber was, wenn sich dieses »Aber« längst der Menschenfeindlichkeit annähert, die man (noch) nicht in offener Destruktivität aufzulösen bereit ist? Destruktivität verspreche, so Amlinger und Nachtwey, einen Lustgewinn, der vor allem auch im Abräumen von Hindernissen (wie Menschenrecht und Menschenwürde) liege. Das »Aber« ermöglicht diesen Lustgewinn, das Abräumen mit einer überlegenen Geste lustvoller Verdrängung, ohne sich dabei die eigene Destruktivität eingestehen zu müssen.
Sicherlich tut man Unrecht, wenn man hier pauschal Zerstörungslust vorwirft. Verdrängung ist nicht zwangsläufig destruktiv, häufig ein Umgang mit der eigenen Machtlosigkeit oder Schuldgefühlen. Häufig liegt im »Aber« eine Art vorauseilender Gehorsam, um den Status quo zu schützen und die gefühlte eigene Verwicklung darin zu rechtfertigen. Oft aber spürt man dahinter eine gewisse Notwendigkeit, eine empfundene Gerechtigkeit in der Einschränkung von Menschenrechten, die man instinktiv verteidigt, ohne diese Position vor sich selbst und dem Gegenüber offenbar zu machen.
Genau in dieser Unschärfe könnte die Umfragen zufolge stärkste Kraft der AfD liegen, die sich in unser aller Denken wiederfindet. Laut der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bleiben 37,8 Prozent der Befragten ambivalent in Bezug auf nationalchauvinistische Haltungen – neben 19,8 Prozent voller Zustimmung. Die Normalisierung gruppenbezogener Ungleichheit reicht weit hinein in die gesellschaftliche Mitte. Im »Aber« liegt die diffuse Schwelle zwischen schamloser Zerstörungswut und der abgespaltenen Gewalt hinter den Diskursen der »Vernunft«.
»Stadtbilder, klamme Kommunen und die Stichhaltigkeit von Kriminalitätsstatistiken – diese Debatten sind unbedingt zu führen, aber nicht, um der Menschenrechtsfrage auszuweichen.«
Es geht nicht um legitimen Widerspruch in der Sache, sondern um das »Aber« als destruktive Geste, die genüsslich Leid einpreist und in überlegene Debatten über die »eigentlichen Probleme« überführt. Das »Aber« führt meist nicht zu einer Debatte, wie man beispielsweise das Sterben im Mittelmeer beenden kann. Darüber will man nicht reden, das meint man auch gar nicht und selbstverständlich will man (meistens) niemanden sterben lassen.
Man redet nach dem »Aber« jedoch nicht mehr über Schüsse der sogenannten libyschen Küstenwache auf Rettungsschiffe, über 30.000 Tote im Mittelmeer oder die teils rechtswidrige politische Strategie dahinter. All das bleibt eingepreist, während man über Stadtbilder, klamme Kommunen und die Stichhaltigkeit von Kriminalitätsstatistiken diskutiert. Diese Debatten sind unbedingt zu führen, aber nicht, um der Menschenrechtsfrage auszuweichen.
Man muss ganz genau darauf achten, was mehr oder weniger unbewusst ausgeblendet, negiert, nicht besprochen und vor allem eingepreist werden will und im nächsten Moment mit einem »so war das natürlich nicht gemeint« abgewehrt wird, ohne dass eine echte Richtigstellung folgt. Oder im Politiksprech der demokratischen Mitte: Wir sind ja für Menschenrechte, deshalb schränken wir sie ein, damit die anderen es nicht tun. Es regiert längst die destruktive Verdrängung.
Das »Aber« kommt also aus einer Position der Stärke, die ein lustvolles Wegwischen möglich macht. Das Pochen auf Menschenrechte ist in diesem Kontext längst verpönt, ähnlich wie im Erinnerungsdiskurs. Es darf ja nie wieder passieren, deshalb passiert es nie wieder. Ich bin ja für Menschenrechte, deshalb darf ich auch ihre Einschränkung wollen, deshalb kann es keine Einschränkung geben, auch wenn wir sie einschränken.
Die Frage ist also, ob sich das politische Angebot der gewaltsamen Abschottung unter dem Deckmantel der Vernunft inzwischen im gesamten demokratischen Spektrum an insgeheim oder unbewusst dankbare Abnehmer richtet. Erkennbar wäre das etwa in der Abschiebungsfrage: Die ungleich härtere Bestrafung für gleiche Verbrechen ist hochgradig normalisiert, in Gerechtigkeitsempfinden und Politik eingepreist und enthält damit bereits einen irrationalen Gewaltüberschuss. Wenn man dieser Asymmetrie seinerseits ein »Aber« entgegensetzt, wird oft umgekehrt eine Relativierung von Straftaten vorgeworfen. Was, wenn das nur die Spitze des Eisbergs ist und längst auch in der Breite eine lustvolle Gerechtigkeit beispielsweise in der exzessiven Gewalt an den Außengrenzen empfunden wird?
Hinter der hauchdünnen Fassade des Stadtbilds liegen das Mittelmeer, die osteuropäischen Wälder, die Foltergefängnisse in Syrien und all die Menschen, die nie die Chance bekommen, Teil unseres Stadtbilds zu werden. In diesem hochgradig von Paradoxien und (lustvoller) Verdrängung geprägten Kontext darf es auch und vor allem bei einer linken Partei keine Zugeständnisse im Stil von SPD und Grünen geben, wenn es um Menschenrechte und Menschenwürde geht.
Die Position der Menschenrechte muss als unverrückbarer Pol in der politischen und medialen Landschaft stehen bleiben, selbst wenn rechte Allianzen, Regierungen oder die oft befürchtete Polarisierung nur durch Zugeständnisse verhinderbar scheinen. Gleichzeitig muss die Blockade des Lebens bekämpft werden, die Zerstörungswut hervorruft – eine stärkste Kraft für, nicht gegen das Leben, wie auch Amlinger und Nachtwey sie fordern.
Es gilt also in politischen, medialen und privaten Debatten grundsätzlich zu klären, ob man das Ziel universeller Menschenrechte denn auch wirklich teilt, auch wenn beide Seiten es beteuern. Im besten Fall kommt man so auf die Leerstelle vor dem »Aber« zu sprechen, versucht gemeinsam das Problem zu fassen und macht Alternativen greifbar. Im schlimmsten Fall findet man heraus, wo man das Gespräch aufgrund offener Destruktivität oder lustvoller Verdrängung abbrechen kann. Dann hilft nur noch »richtige« Polarisierung, wie Nils Kumkar sie beschreibt, und eine Kultivierung von Zerstörungslust gegen den brutalen Status quo.
»Wenn man über Menschenrechte sprechen will, muss man über ihren Ausbau sprechen.«
Denn auch das haben wir in den letzten Monaten mit Kein Land für Niemand bundesweit in vollen Sälen und ausufernden Nachgesprächen erleben dürfen: Das Thema Menschenrechte ist nicht tot. Menschen aus allen Milieus, Generationen und (fast) allen politischen Richtungen gehen sogar wieder ins Kino, um sich der diskursiven Leerstelle vor dem »Aber« zu stellen und Leute zu treffen, die den Status quo nicht hinnehmen wollen.
Der Frust, die Wut und der Tatendrang sind angesichts der Bilder und der politischen Ungerechtigkeit dabei oft so groß, dass sie nicht einfach mit einem »Aber« wegzuwischen sind. Auch in unserem Film gehen wir auf die ökonomischen Dimensionen der Migrationsdebatte ein und begeben uns damit auf das gefährliche Feld des Pragmatismus. Nach dem Film entfalten sich jedoch hitzige Debatten über realpolitische, aber auch aktivistische konkrete Wege zur Herstellung von Menschenrechten, die ihre Energie aus der Wut ziehen.
Wenn man über Menschenrechte sprechen will, muss man über ihren Ausbau sprechen. Dann dürfen und müssen auch pragmatische, kleinteilige und widersprüchliche Debatten über die konkreten Wege geführt und Sorgen adressiert werden. Wir dürfen uns jedoch nicht in diffusen Verdrängungskontexten verlieren und vor allem nicht von einer möglichen Zerstörungslust dahinter einschüchtern lassen. Ein bisschen »wohltemperierte Gewalt« für die Aufrechterhaltung eines Gerechtigkeitsgefühls und die »faire« Befriedigung destruktiver Triebe als Zugeständnis an den rechten Zeitgeist darf nicht zur Diskussion stehen.
Denn das ist der Trick bei dem »Aber«: Es führt die Menschenrechtsfrage hinters Licht der Tagespolitik und bundesrepublikanischer Sehgewohnheiten und gibt sie insgeheim der Brutalität des Status quo Preis. Diese Zerstörungslust gilt es zu entlarven. Denn selbst das beste Argument verschwindet vor dem »Aber«. Aber es darf nicht schlimmer werden, bevor es besser wird.
Max Ahrens ist Regisseur, Journalist und Kulturwissenschaftler. Sein Dokumentarfilm Kein Land für Niemand - Abschottung eines Einwanderungslandes läuft aktuell bundesweit im Kino.