12. März 2025
Friedrich Merz denkt in Kategorien der Kriegsvorbereitung, statt auf eine stabile Friedensordnung hinzuarbeiten. Umverteilung von zivil zu militärisch ist aber das Letzte, was die Menschen jetzt brauchen.
Friedrich Merz bei einer Pressekonferenz der Partei- und Fraktionsspitzen von SPD, CDU und CSU während Sondierungsgesprächen in Berlin, 8. März 2025.
Die bei der Bundestagswahl siegreiche Union plant einen rüstungspolitischen Coup. Es ist ein antidemokratischer Vorgang, der nicht sein darf: Mit den Mehrheiten des abgewählten Bundestags wollte sie, so hieß es nur drei Tage nach der Wahl, ein neues, schuldenfinanziertes »Sondervermögen« in Höhe von zusätzlichen 200 Milliarden Euro auf den Weg bringen – bevor der neue Bundestag, in dem die Linke und die AfD eine entsprechende Sperrminorität haben werden, dies verhindern kann.
Wenige Tage später, nach den ersten Sondierungsgesprächen mit der SPD, wurde es konkreter – und mehr. Denn die beiden Parteien haben sich darauf geeinigt, die geplanten zusätzlichen Mehrausgaben in Rüstung nicht bei 200 Milliarden Euro und einem Sondervermögen zu deckeln, sondern jeden Betrag für Verteidigung, der über 1 Prozent des BIP hinausgeht, von der Schuldenbremse auszunehmen. »Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: whatever it takes«, sagt Merz.
Damit ist klar: Die baldige Koalition aus Union und SPD beginnt ihr Regieren mit nichts weniger als Demokratie-Umgehung, sowie mit ersten Schritten einer Nicht-Politik. Denn ein Hauruck-Beschluss, der den Wählerwillen dreist übergeht, und zudem in seinem Kerninhalt wie auch in seiner zunächst erstaunlich runden Summe von 200 Milliarden Euro, und nun faktisch als beliebig auszufüllende Leerstelle, kritischste Fragen aufwerfen sollte, ist das Gegenteil ernsthafter Sicherheitspolitik. Bislang hat niemand der Befürworter des neuen »Sondervermögens« erklärt, warum es gerade 200 Milliarden sein sollen, und nicht 180, oder noch konkreter, 175,5 Milliarden Euro. Viele Ökonomen hatten gar bereits einen Bedarf von 400 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr errechnet.
Bei Rüstung muss man es in der aktuellen Situation mit den Nullen und den ungeraden Zahlen offenbar nicht so genau nehmen – anders als beim Bürgergeld, bei den Asylleistungen oder bei der Kindergrundsicherung. Diese sollte die Kinderarmut verringern, wurde aber von der Ampel skandalös zerstückelt und scheiterte letztendlich – ohne Wiederbelebungschance unter einer Regierung Merz. Bei der Aufrüstung indes, sagte Merz bereits Anfang Februar, sei das 2-Prozent-Ziel der Nato die Zielmarke. »Davon liegen wir noch 30 bis 40 Milliarden Euro pro Jahr entfernt. Ich gehe aber davon aus, dass das Ziel in Zukunft noch höher angesetzt werden muss.« 30 oder 40 Milliarden – was machen schon 10 Milliarden Unterschied, wenn es um Waffen geht.
Keine Kindergrundsicherung also, dafür aber offenbar vorab kaum seriös berechnete 200 bis 400 Milliarden Euro in neue Rüstungsgüter, getrieben durch Panik. Dabei sind derzeit eigentlich ein kühler Kopf und nüchterne Analyse notwendig. Denn die deutschen Verteidigungsausgaben waren 2024 bereits auf einem Rekordhoch von 71 Milliarden Euro, ein Teil davon stammt aus dem schuldenfinanzierten »Sondervermögen Bundeswehr«. Weil es 2027 ausläuft und viele Beobachter dieses durch ein neues, kreatives Schuldeninstrument neben dem Staatshaushalt ersetzen wollen, ist dafür vor allem die Stimmung entscheidend, in der die Debatte vor sich geht. Sie ist nicht nur bei Friedrich Merz derart schrill, dass die Vergleiche, er sei ein Mini-Trump, oder vielmehr ein Möchtegern-Trump, nicht ganz unzutreffend sind.
»Dass die im Raum stehenden 800 Milliarden Euro in Rüstung und Verteidigung nicht nur den Kriegsgeist fördern, sondern auch den industriell-militärischen Komplex stärken und zu sozioökonomischen Übeln führen werden, liegt auf der Hand.«
Bei all dem Zahlen-Wirrwarr, das wir diskutieren, wird gänzlich vergessen, dass Sicherheitspolitik in erster Linie Politik ist. Sie ist Politik, die von Aufrüstung flankiert werden kann, und eben nicht in erster Linie Aufrüstung, die ungesteuert und alarmistisch politische Lösungsansätze erdrückt und löchrig schießt, während sie Fakten ausblendet. So haben alle europäischen NATO-Staaten (ohne die USA) bereits heute Verteidigungsetats von zusammengenommen rund 420 Milliarden Euro, denen (kaufkraftbereinigt) etwa 300 Milliarden Euro Russlands gegenüberstehen. Ist das nicht Grundlage genug, Russland zwecks möglicher Gespräche bereits jetzt selbstbewusst zu begegnen?
Dass mit dem künftigen Staatslenker Merz weniger Friedensgespräche als vielmehr Eskalation folgen könnte, hat dieser schon mehr als angedeutet. In seinem Aktionismus wollte er vor einigen Monaten Russlands Präsident Putin ein Ultimatum stellen, und bei Nicht-Erfüllung drohte er, der Ukraine die deutschen Taurus-Raketen zu liefern. Im Oktober 2024 sagte er in einem Interview: »Wenn das nicht aufhört mit den Bombardements, dann ist der erste Schritt der: Reichweiten-Begrenzung aufheben. Und der zweite Schritt der, dass wir die ›Taurus‹ liefern. […] Und dann hat Putin es in der Hand, wie weit er diesen Krieg noch weiter eskalieren will.« Mit anderen Worten: erst einmal selbst eskalieren, und dann auf den nächsten Eskalationsschritt Putins warten. Damals stimmten Merz’ zweifelhafte Ideen weitgehend mit der US-Linie überein, die im November 2024 ihrerseits der Ukraine den Einsatz von amerikanischen ATACMS-Kurzstreckenraketen erlaubt hatten.
Doch auch jetzt, nach der US-amerikanischen 180-Grad-Wende gegenüber Russland, rudert Merz keineswegs zurück. Noch am Abend des Wahlsiegs sagte er, dass es keinen Deal mit Russland über den Kopf der Europäer und der Ukraine hinweg geben dürfe. Das Problem: Es wird ihn geben. Was also tun? Wie mit den – oder vielmehr gegen die Amerikaner – vorgehen?
Bisweilen haben etwa Frankreich und Großbritannien im UN-Sicherheitsrat am 25. Februar kein Veto gegen den von den USA eingebrachten Resolutionsbeschluss eingelegt, sondern sich enthalten. Dieses Unentschieden ist bezeichnend. Der Journalist Lutz Herden kommentiert im Freitag pointiert: »Will Europa im politischen Geschäft bleiben, sind seine Vorstellungen zu einer Nachkriegsordnung gefragt, die in der Ukraine zu keinem permanenten Vorkriegszustand führt.« Dafür sei neues Denken notwendig, und vorab die Einsicht, »dass sich eine russisch-amerikanische Übereinkunft in der Ukraine-Frage nicht mehr aufhalten lässt«.
Dieses neue Denken ist bislang nicht sichtbar. Bei dem Versuch, nun die europäischen Reihen zu schließen – ja. Aber nicht in der Frage, wie künftig mit Russland umgegangen werden soll. Während sich die USA den Russen annähern, verabschiedete die EU am 24. Februar ein Sanktionspaket gegen Moskau. »Mit ihm sendet die Europäische Union ein weiteres Signal der Entschlossenheit an Russland«, heißt es bei der scheidenden Bundesregierung. Nun soll es auch ein europäisches Rüstungsprogramm geben. Dass die im Raum stehenden 800 Milliarden Euro in Rüstung und Verteidigung – von denen rund 150 Milliarden Euro über gemeinsame europäische Schulden finanziert werden sollen – nicht nur den Kriegsgeist fördern, sondern auch den industriell-militärischen Komplex stärken und zu sozioökonomischen Übeln führen werden, liegt auf der Hand.
»Wenn Merz auf seinem Kurs beharrt, wird er zunehmend Ängste schüren müssen, die die Aufrüstung rechtfertigen.«
Daher deutet sich mehr als nur an: Die Regierung Merz wird für einen wirtschaftsliberalen Kurs stehen, für staatliche Ausgabenbegrenzungen in Kernbereichen wie Bildung und Soziales – und für freie Fahrt für neue Aufrüstung. Daher will die CDU lieber nicht die Schuldenbremse im Allgemeinen lockern, sondern nur die rüstungspolitische. Zwar macht auch das parallel zu den Rüstungsplänen vorgestellte 500-Milliarden-Euro-Paket für Infrastruktur, ebenfalls als sogenanntes Sondervermögen außerhalb der Schuldenbremse, auf den ersten Blick Eindruck. Doch ob die Umsetzung, die auf zehn Jahre angelegt ist, den erhofften Schwung für die Wirtschaft geben kann, ist fraglich – zumal die Umsetzung fraglich ist.
Bereits jetzt gibt es Widerstand in Reihen der CDU. Der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrates, Wolfgang Steiger, sagte: »Das ist ein Gemischtwarenladen, der die Inflation wieder anheizen dürfte. Die Verlockung wird riesig sein, alle möglichen Investitionen in das 500 Milliarden Sondervermögen zu schieben.« Womöglich preist auch Merz ein Scheitern ein, wenn es um die konkrete Umsetzung geht – jedenfalls ist der Schwenk hin zu massiven zivilen Investitionen auf Basis der bisherigen Positionen von Merz schwer nachvollziehbar.
Fast parallel zu den Plänen von Union und SPD verkündete auch die EU die erwähnten, massiven Rüstungsmehrausgaben von 800 Milliarden Euro. Auch für Brüssel gilt bisweilen: die Deklaration neuer Waffenkäufe (und runder, eindrücklicher Zahlen) soll offenbar den Mangel an ernsthafter Politik und Diplomatie kaschieren. Unklar ist, wie viel Lobbyarbeit der Rüstungsindustrie hinter den Vorhaben stecken, und wie viel nüchterne Analyse – zuletzt hatte die Rüstungsindustrie erfolgreich bei der EU dafür geworben, Investitionen in Waffen künftig als nachhaltig gemäß ESG-Kriterien einzustufen, was den Kapitalzufluss in Rüstung stärken soll.
Der künftige Kanzler war zwischen 2016 und 2020 Aufsichtsratschef der Deutschland-Tochter von Blackrock, dem weltweit größten Vermögensverwalter. Blackrock gehört zu den »Big Three« der Branche, er investiert weltweit eine Summe, die rund das Doppelte der Wirtschaftsleistung Deutschlands umfasst. Blackrock hält auch Anteile an führenden Rüstungskonzernen, etwa dem italienischen Leonardo, dem französischen Dassault, und in den USA an allen »Big Five« der Rüstungsbranche: Boeing, Raytheon, Northrop Grumman, Lockheed Martin und General Dynamics. In Deutschland hält Blackrock seit vergangenem Jahr einen 5-prozentigen Anteil am größten deutschen Waffenkonzern Rheinmetall, der seit Kriegsausbruch in der Ukraine einen Wachstumshype erlebt – und verstärkter Nutznießer auch der künftigen Umverteilungspolitik, von zivil zu militärisch, sein dürfte.
»Eine massive konventionelle Aufrüstung ist stets eine Spirale, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Kontrolle über eine politische Situation entgleiten und eskalieren kann.«
Die Regierung Merz wird ihre Aufrüstungspläne gegen wachsenden Widerstand aus der Bevölkerung durchsetzen müssen, die die Umschichtung staatlicher Mittel aus anderen Bereichen schnell spüren wird. Wenn Merz auf seinem Kurs beharrt, wird er zunehmend Ängste schüren müssen, die die Aufrüstung rechtfertigen. Jeder Unfall auf deutschen Bahngleisen, jeder vermeintliche Sabotage-Akt im deutschen Cyberraum oder auch in denen anderer EU-Staaten, jeder grenznahe Flug russischer Jets – all dies wird dann in seiner Bedeutung potenziert werden.
Auch zivilgesellschaftliche Gegner der rüstungspolitischen Rechtsdrift dürften in härtere staatliche Ungnade fallen. Eine Kostprobe gab es bereits am Tag eins nach der Wahl im Bundestag. Da stellte die Union eine Kleine Anfrage, die die Finanzierung von Vereinen und Organisationen klären soll, die gegen den CDU-Migrationsvorstoß im Bundestag und das Unions-Dulden der AfD-Stimmen protestiert hatten. Vielleicht ist auch etwas Rachegefühl dabei, weil die Linke nicht zuletzt dadurch zu einer Sperr-Kraft befördert wurde.
Doch im ernsteren Kern könnten dies nicht weniger als Vorboten eines potenziellen Autoritarismus sein, vorerst in Samthandschuhen. Dass eine solche Stimmungslage ein bestelltes Feld für geheimdienstliche Aktivitäten fremder Staaten ist, die ein Interesse daran haben, die Feindschaft zu Russland zu schüren und zu verstärken, sollte jedem klar sein, der eine realpolitische Brille aufsetzt. Durch diese sieht man ebenfalls: Eine massive konventionelle Aufrüstung ist stets eine Spirale, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Kontrolle über eine politische Situation entgleiten und eskalieren kann. In der Opposition fiel Friedrich Merz nicht dadurch auf, dass er in kritischen Situationen realpolitisch deeskalieren konnte – seine Taurus-Drohung an Putin und der Migrations-Tango mit der AfD sind dafür bezeichnend. Die brennende Frage ist daher: Kann er lernen? Oder müssen die Straße, engagierte Bürgerinnen und Bürger, Vereine und Vereinigungen und die Opposition es ihm beibringen?
Jan Opielka ist freier Journalist und arbeitet vorwiegend für deutschsprachige Print- und Radiomedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Freitag, Frankfurter Rundschau, WOZ, Deutschlandfunk, ORF Ö 1).