23. Mai 2025
Die Behauptung, in Deutschland wird zu wenig gearbeitet, geht an der Realität vorbei – viele Beschäftigte sind längst am Limit. Friedrich Merz’ Appell, wieder mehr und länger zu arbeiten, ist kein Wohlstandsprogramm, sondern ein Angriff auf unseren Lebensstandard.
VW-Elektrofahrzeuge werden in einer Montagehalle in Zwickau montiert, 24. Mai 2023.
Die Menschen in Deutschland arbeiten zu wenig – das zumindest glaubt Friedrich Merz. Als erste Amtshandlung schwor der Kanzler die Bevölkerung auf harte Einschnitte ein, die notwendig seien, um die Wirtschaft anzukurbeln. »Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten«, so die Forderung. Mit einer Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance sei der Wohlstand nicht mehr zu halten. Unterstützung für diese Behauptung erhielt er prompt von dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das wenige Tage später eine Auswertung veröffentlichte, die belegen will, dass Merz recht habe. Im Vergleich zu anderen OECD-Staaten würden die Deutschen zu wenig und zu kurz arbeiten – sogar weniger als die Griechen, empört sich das IW.
Begleitet wird das Ganze von einer regelrechten Medienkampagne, die den Druck auf die Beschäftigten in diesem Land erhöhen soll. So wünscht man sich etwa bei der Bild-Zeitung: »Die Merz-Agenda könnte einen kräftigen Schuss der Agenda 2010 von Altkanzler Gerhard Schröder gebrauchen.« Auch bei der NZZ wünscht man sich eine Rückbesinnung auf die brachialen Arbeitsmarktreformen der Agenda-Jahre: Merz müsse die Deutschen so »aufrütteln wie einst Gerhard Schröder«.
Dass sich Merz an Schröder ein Vorbild nimmt, muss indessen gar nicht eingefordert werden – er sieht sich offenbar längst selbst in der Tradition des Altkanzlers. Als Schröder 2003 seine Regierungserklärung hielt, bevor er die Agenda-Politik umsetzte, forderte er eine »gewaltige gemeinsame Anstrengung« ein, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Merz saß damals als Abgeordneter im Bundestag und scheint sich das ganz genau gemerkt zu haben, denn heute wiederholt er das fast wortgenau: Er verlangt von der Bevölkerung eine »gewaltige Kraftanstrengung«. Um das Bruttosozialprodukt zu steigern, müssen also wir die Ärmel hochkrempeln.
»Die Behauptung, das stagnierende Wirtschaftswachstum sei der vermeintlichen Faulheit arbeitender Menschen anzulasten, ist nicht nur realitätsfremd, es ist auch rhetorische Trickserei.«
Die Parallelen gehen weiter. Auch damals steckte die deutsche Wirtschaft in einer Wachstumskrise, die durch Schröders Offensive gegen die eigene Basis aufgebrochen werden sollte. Damit das Unternehmertum auch Lust hat, in die deutsche Wirtschaft zu investieren, richtete man alles so unternehmerfreundlich wie möglich ein. Auch Schröder wollte die Steuern, die Unternehmen auf ihre Gewinne zahlen, drastisch absenken, so wie heute Friedrich Merz. Und damals wie heute wird das Ganze von einer Kürzung der Sozialausgaben flankiert.
Die Tatsache, dass Friedrich Merz glaubt, in Deutschland würde nicht hart genug gearbeitet, beweist vor allem, dass er nicht weiß, wie der Arbeitsalltag der meisten Menschen in diesem Land überhaupt aussieht. Zunächst ist erst einmal festzuhalten, dass die Behauptung, die Beschäftigten in Deutschland würden weniger arbeiten als früher, auf einer statistischen Verzerrung basiert. Es stimmt, dass die gewöhnliche wöchentliche Arbeitszeit »nur« 34,4 Stunden beträgt. Allerdings bezieht sich dieser Wert auf alle Erwerbstätigen. Rechnet man die Menschen raus, die in Teilzeit oder selbstständig arbeiten, dann zeigt sich, dass die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten seit 1991 nahezu konstant geblieben ist: damals 41,4 Stunden pro Woche, heute 40,2 Stunden.
Dass die Arbeitszeit im Durchschnitt rückläufig ist, hat also weniger damit zu tun, dass den Leuten ihre Work-Life-Balance heilig ist, sondern dass Menschen – vor allen Dingen Frauen –, die ehemals gar nicht Teil der Erwerbsbevölkerung waren, in den Arbeitsmarkt integriert wurden. Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland heute eine der höchsten Erwerbsquoten weltweit hat, was auch eine Folge von Teilzeitbeschäftigung ist: Deren Anteil hat sich seit 1991 verdoppelt. Der massive Anstieg von Teilzeitbeschäftigung zieht den Durchschnitt der geleisteten Arbeitsstunden nach unten – aber das Gesamtarbeitsvolumen ist über die Jahre hinweg gestiegen: 2023 wurde in Deutschland so viel gearbeitet wie noch nie seit der Wiedervereinigung.
Fast jede zweite erwerbstätige Frau arbeitet in Teilzeit – nicht aus Faulheit, sondern weil sie entweder kleine und/oder alte Menschen umsorgt. Anstatt die Pflegeinfrastruktur in diesem Land auszubauen, um hier Unterstützung zu bieten, wird diese eher noch weiter heruntergewirtschaftet. Dass es überwiegend Frauen sind, die unter Teilzeitbeschäftigten derart überrepräsentiert sind, liegt auch daran, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den vergangenen zwei Dekaden drastisch gestiegen ist, während sich bei der Arbeitsteilung innerhalb der eigenen vier Wänden zwischen den Geschlechtern kaum etwas verschoben hat, wie Erhebungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegen. Wer in Teilzeit arbeitet, arbeitet oftmals also nicht grundsätzlich weniger, sondern verrichtet tendenziell einfach mehr Arbeit, die nicht entlohnt wird.
»Man sollte die Dinge bei Namen nennen: Die Politik von Friedrich Merz ist keine Politik für den wirtschaftlichen Aufschwung, sondern eine Politik der Disziplinierung.«
Die Tatsache, dass sich die Regierung von Friedrich Merz laut Koalitionsvertrag nun auch noch dazu entschieden hat, steuerliche Anreize für mehr Überstunden zu schaffen und die tägliche Höchstarbeitszeit aufzuweichen, ist nicht nur als Frontalangriff auf den 8-Stunden-Tag zu werten. Denn wenn gleichzeitig nichts unternommen wird, um die Kinderbetreuung und Altenpflege auszubauen, dann dürfte das dazu führen, dass sich das bereits bestehende Gefälle zwischen Männern und Frauen verschärft. Irgendjemand wird sich zu Hause schließlich um die kranke Oma kümmern müssen, wenn der andere bis spätabends im Büro festhängt.
Dass die arbeitenden Menschen in Deutschland faul sind, hält auch weiteren empirischen Erhebungen nicht stand. Nicht entlohnte Arbeit findet nicht nur im Privaten statt, sondern auch am Arbeitsplatz. 44 Prozent der Beschäftigten arbeiten regelmäßig mehr als vertraglich vereinbart – und das oftmals unbezahlt. Das senkt den effektiven Stundenlohn und steigert die Unternehmensgewinne. Im letzten Jahr haben Beschäftigte in diesem Land so viele Überstunden geleistet, dass man davon 750.000 Vollzeitstellen hätte besetzen können. Dass überhaupt so viel über die vereinbarte Arbeitszeit hinweg gearbeitet wird, zeigt vor allem auch, dass die Arbeitsverdichtung zunimmt und die Belastung steigt. Wenn Friedrich Merz von uns allen »eine gewaltige Kraftanstrengung« verlangt, verschließt er die Augen vor dieser Realität.
Die Behauptung, das stagnierende Wirtschaftswachstum sei der vermeintlichen Faulheit arbeitender Menschen anzulasten, ist nicht nur realitätsfremd, es ist auch rhetorische Trickserei. Als Schröder die Agenda 2010 umsetzte, behauptete auch er, man müsse die Menschen einfach nur »aktivieren« und zu mehr Arbeit motivieren. Gleichzeitig gab es weniger offene Stellen als Menschen, die Arbeit suchten. Die Arbeitslosigkeit lag damals mit etwa 12 Prozent auf einem Höchststand, es gab deutlich weniger unbesetzte Stellen als Menschen ohne Arbeit. Heute ist der Arbeitsmarkt zwar weniger angespannt und die Arbeitslosigkeit deutlich niedriger. Dennoch gibt es weniger offene Stellen als Arbeitslose. In anderen Worten: Man kann Menschen nicht in Jobs zwingen, die es nicht gibt. Eine Wirtschaft, die stagniert, schafft keine neuen Arbeitsplätze.
Hinzu kommt: Oft bleiben Stellen unbesetzt, weil den Bewerbern die entsprechende Ausbildung fehlt. Anstatt in die Ausbildung und Weiterbildung zu investieren, nimmt sich Merz auch hier ein Vorbild an Schröder. Heute wird wieder der »Vermittlungsvorrang« priorisiert, was nichts anderes bedeutet, als dass man Menschen effektiv in den nächstbesten prekären Schrott-Job hineindrängt, indem man die Sanktionen und Zumutbarkeitsregelung verschärft.
»Was Merz vorschlägt, bedeutet im Klartext: mehr Druck und weniger soziale Sicherheit für die Beschäftigten, mehr Profite für die Unternehmen.«
Dass Arbeitskräfte gesucht und nicht gefunden werden, ist darüber hinaus auch nicht das Ergebnis mangelnder Motivation, sondern auch die Konsequenz widriger Arbeitsbedingungen und niedriger Löhne – auch darüber schweigt sich Merz geflissentlich aus. Wenn er davon redet, »wieder mehr und effektiver« zu arbeiten, ignoriert er die Tatsache, dass die Arbeitsbelastung in vielen Branchen mit Fachkräftemangel bereits jetzt zu hoch ist. Gerade deswegen gibt es diese Personalknappheit. Viele Branchen, die besonders betroffen sind – also Pflege und Gesundheit, Schulen und Kitas, Handwerk und Gastronomie –, sind notorisch unterbesetzt, oft sind die Löhne niedrig, die Arbeitszeiten lang, der Zeitdruck immens. Viele verlassen diese Berufe völlig ausgebrannt. Anstatt die Bedingungen und Löhne zu verbessern und die Arbeit attraktiver zu machen, um mehr Menschen dafür zu gewinnen, setzt die kommende Regierung auf Daumenschrauben.
Was Merz vorschlägt, bedeutet im Klartext: mehr Druck und weniger soziale Sicherheit für die Beschäftigten, mehr Profite für die Unternehmen. Indem man der Bevölkerung zuruft, die wirtschaftliche Stagnation ließe sich lösen, indem einfach länger und härter gearbeitet wird, werden die Ursachen von Fachkräftemangel und kriselnder Wirtschaft komplett ausgeblendet. Das Narrativ von den vermeintlich faulen Beschäftigten in diesem Land ist vor allem eins: ein Angriff von oben. Hinzu kommt: Jedes dritte Unternehmen plant, im Laufe dieses Jahres Stellen abzubauen, die Wirtschaft ist am Straucheln. Je weniger Arbeitsplätze zu vergeben sind, desto williger fügen sich Menschen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, den Ansprüchen ihrer Arbeitgeber. Die Verhandlungsposition der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt ist gerade ohnehin schon stark.
Die Lüge der faulen Bevölkerung als Ursache dafür, dass diese Wirtschaft kein Wachstum schafft, ist nicht nur ein realitätsfernes Zerrbild, sondern auch nichts Neues. Wachstumskrisen kennt der Kapitalismus, sie gehören quasi zum System. Mit dem Beginn der neoliberalen Ära wurde auch in der Vergangenheit versucht, Stagnation und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, indem man den Arbeitsschutz lockert, Regulierungen abbaut und den Unternehmen mehr Freiheiten verschafft, während man den ökonomischen Zwang für die Bevölkerung verschärft. Dieser orchestrierte Klassenkampf, der die breite Mehrheit schutzloser gegen die Interessen von Unternehmen machte, sollte der Preis sein, den man für mehr Wachstum und wirtschaftlichen Aufschwung eben zahlen müsse – jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Der wirtschaftliche Boom kam aber nie. Warum es dieses Mal anders sein sollte, steht in den Sternen.
Sicher ist hingegen, dass diese Politik die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu Ungunsten arbeitender Menschen verschiebt. Bei Friedrich Merz’ Appell an die Bevölkerung, wieder mehr zu arbeiten, geht es also nur vordergründig um wirtschaftliche Erholung. Es geht insbesondere auch darum, die Verhandlungsmacht am Arbeitsmarkt so weit zu schwächen, dass man zusehends bereit ist, jegliche Arbeit anzunehmen, da gleichzeitig die staatliche Unterstützung abgebaut wird. Man sollte die Dinge bei Namen nennen: Die Politik von Friedrich Merz ist keine Politik für den wirtschaftlichen Aufschwung, sondern eine Politik der Disziplinierung.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Beitrags stand, das IW habe eine Studie zu Arbeitszeiten im internationalen Vergleich veröffentlicht. Es handelt sich tatsächlich um eine Auswertung, keine Studie.
Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.